Die Schule der enttäuschten Talente

Die Schule ist im Zeitalter der Massenfertigung stecken geblieben. Statt Fähigkeiten zu fördern, werden die Talente zu vieler Schüler vergeudet. Wie das Schulsystem reformiert werden muss.

Junge Handwerkerin in einer Werkstätte
Ein Handwerk würde manchem jungen Talent vielleicht mehr entsprechen als ein Studium. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Verstaubtes System. Unser Schulsystem ist noch von der Industrialisierung geprägt – und hat die Massenfertigung als Vorbild.
  • Gescheiterte Imagekampagnen. Trotz aller Bemühungen will niemand „Karriere mit Lehre“ machen.
  • Weg mit der Gießkanne. Was wir in Zukunft brauchen, ist Spezialisierung – die Schulbildung muss eine bedarfsorientierte werden.
  • Ein erfülltes Leben. Spezialisierung hilft auch den Schülern: Wenn ihre Talente gefördert werden, werden sie ein glücklicheres Leben haben.

Aus heutiger Sicht klingt es irgendwie überraschend: Das wohl größte Universalgenie der Menschheit, Leonardo da Vinci, begann seine Karriere als Lehrling. Sein Vater Piero zeigte die Zeichnungen seines Sohnes dem großen Meister seiner Zeit, Andrea del Verrocchio. Dieser erkannte die künstlerische Begabung des Jungen und nahm ihn in seine Werkstatt auf. In diesem Atelier lernte und arbeitete der junge Mann etwa von 1470 bis 1477.

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Viele Jahrhunderte folgte der Berufsweg von Menschen in Europa einem klaren Muster. Sie gingen bei einem Meister seines Fachs in die Lehre, setzten dann ihre Ausbildung als Gesellen fort, um ihre Fähigkeiten bei anderen Meistern zu erweitern. Die Besten von ihnen konnten dann nach umfassenden Prüfungen selbst die Meisterschaft erreichen. Die Trennung zwischen Meistern eines Fachs, die dieses auch praktisch ausübten und es anderen lehrten, und professionellen Lehrern, die nur theoretisch ausgebildet wurden, setzte sich erst im 18. Jahrhundert mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht immer mehr durch. Bis dahin dominierte das Hauslehrersystem, mit dem vor allem die Kinder von Adeligen unterrichtet wurden.

Von klugen und dummen Kindern

Die öffentlichen Schulsysteme in den uns heute bekannten Formen wurden stark von der Industrialisierung geprägt. Die Massenfertigung diente den Schöpfern des Schulsystems als Vorbild. Das ganze System baute auf getrennten Stufen auf, die man Klassen nannte und in die man Kinder streng nach Alter getrennt einteilte. Schulen wurden danach konstruiert, in einem fixen Zeitschema zu arbeiten, das durch Glocken, exakt festgelegte Erholungspausen und strikte Arbeitszeiten zentral vorgegeben war.

Das Resultat jenes vom Maschinenzeitalter geprägten Modells waren Schulen, die total vom täglichen Leben der Menschen isoliert und von autoritärem Verhalten geprägt waren. Sie dienten primär einem Ziel: Zunächst leicht austauschbare Soldaten, später möglichst schnell einsetzbare Arbeitskräfte zu produzieren. Dieses effiziente System schuf tatsächlich viele Menschen, die die wichtigsten Dinge wie Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschten, was durchaus einen Fortschritt gegenüber dem dumpfen Analphabetismus des Agrarzeitalters darstellte. Das industrielle Modell von Schule trug aber bereits den Keim aller Probleme in sich, mit denen wir heute kämpfen: Es selektierte in dumme und kluge Kinder.

Kluge Kinder sind solche, die in der Schule erfolgreich sind und die später als „white-collar worker“ geistige Arbeit ausüben. Die dummen Kinder scheitern in der Schule und steigen daher als Lehrlinge oder ungelernte Hilfskräfte als „blue-collar worker“ ins Berufsleben ein. Diese Grundannahme ist tief in die Festplatten der Eltern, Lehrer und unserer Gesellschaft eingraviert. Es ist einfach, einleuchtend, seit Generationen weiter-gegeben – und so falsch wie die Behauptung, dass die Erde eine Scheibe ist.

Denn der Stellenwert, den Gesellschaften unterschiedlichen Begabungen zubilligen, änderte sich im Laufe der Geschichte immer wieder. So war die Fähigkeit eines Ritters, seinen Gegner mit der Lanze vom Pferd zu stoßen und, so dieser das überlebte, ihn dann im Bodenkampf mit dem Schwert zu besiegen, im Mittelalter deutlich wichtiger und angesehener als die Kunst des Lesens und Schreibens. Während heute vermeintliche Finanzgenies, die mit nicht ganz durchschaubaren Methoden Unmengen von Geld anhäufen, einen hohen Status genießen, wurde das Geldverleihen gegen Zinsen lange Zeit als besonders verabscheuungswürdiges Gewerbe gesehen.

Rohrkrepierer „Karriere mit Lehre“

Machen wir nun einen Zeitsprung nach Österreich im Jahr 2020. Wie steht es um die vielbeworbene „Karriere mit Lehre“? Warum gibt es immer mehr Master und immer weniger Meister? Seit Jahrzehnten will man das Image der Lehre heben – mit überschaubarem Erfolg. Vor allem jene, die in der Öffentlichkeit am lautesten von den wunderbaren Chancen der Lehre schwärmen, tun alles, um ihr eigenes Kind an eine höhere Schule zu schicken, selbst wenn dessen intellektuelles Talent überschaubar ist. Fragt man auf Unternehmerkonferenzen, wo das Loblied der Fachausbildung im Beruf gesungen wird, wer sein Kind tatsächlich eine Lehre machen lässt und wer es auf ein Gymnasium schickt, dann offenbart sich die Kluft zwischen Wunschdenken und Realität. Infolge der zuvor beschriebenen Selektion in kluge und dumme Kinder, reduziert man den Menschen auf seine kognitiven Fähigkeiten und verkennt seine Individualität.

Wenn Kinder merken, dass sie für sportliche, handwerkliche oder künstlerische Leistungen wie Fußballspielen, Basteln oder Singen und Tanzen zwar die Anerkennung ihrer Mitschüler bekommen, im Ansehen ihrer Lehrer und Eltern aber jene Kinder mit den besten Noten in Mathematik und Deutsch ganz oben stehen, dann liegt dort die Wurzel jenes Übels, das wir später beklagen, wenn es um das mangelnde Ansehen von fast allen nichtintellektuellen Tätigkeiten geht.

Dabei mahnen Evolutionsforscher, dass es für das langfristige Überleben der Menschheit notwendig ist, alle unterschiedlichen Fähigkeiten jeder Generation zu erhalten und zu entwickeln. Das betrifft eben nicht nur Qualitäten, die wir im Augenblick als sehr wichtig einschätzen (wie die intellektuell-kognitiven Fähigkeiten), sondern gerade jene, deren Nutzen wir im Augenblick beim besten Willen nicht sehen. Wir können derzeit schwer beurteilen, ob in Zukunft nicht soziale oder praktische Kompetenzen viel wichtiger für die Menschheit sein werden, als wir derzeit glauben. Das Corona-Virus hat aufgezeigt, wie systemrelevant zum Beispiel Pflegekräfte, Handwerker, Krankenschwestern oder Supermarktmitarbeiter sind. Kurzfristig wird das zu keiner Aufwertung dieser Berufe führen, solange die „Helden des Alltags“ weiterhin schlecht bezahlt werden. Es verdeutlicht aber die Fragilität unserer gesellschaftlichen Bewertung.

Das zweitteuerste Schulsystem der Welt

In Zukunft kann sich das aufgrund der rapiden Fortschritte der künstlichen Intelligenz (KI) sehr wohl ändern. Der israelische Vordenker Yuval Harari geht davon aus, dass Menschen sich in Zukunft alle 15 Jahre neu erfinden müssen, um die beruflichen Herausforderungen bewältigen zu können. Der akademisch ausgebildete Manager, Buchhalter oder Rechtsanwalt könnte dann wesentlich schneller durch Computerintelligenz ersetzt werden als ein Handwerker oder eine Pflegekraft. In den vergangenen zehn Jahren zeigen leider alle wesentlichen Indikatoren des Bildungssystems in Österreich nach unten, mit Ausnahme der Kosten. Wir leisten uns mittlerweile nach Luxemburg das zweitteuerste Schulsystem der Welt! Die Leistungen, vor allem in der immer größer werdenden Risikogruppe der Kinder bildungsferner Schichten, sind dagegen auf ein erschreckendes Niveau abgesunken. Die Feinde des talentierten Lehrlings und zukünftigen Meisters sind schnell aufgezählt:

Jeder fünfte (!) Fünfzehnjährige kann nach neun Jahren Pflichtschule nicht sinnerfassend lesen und versagt bei einfachsten Mathematikaufgaben. Acht von zehn Bewerbern für eine Lehrstelle scheitern ungeachtet eines positiven Schulabschlusses bei den Aufnahmetests, die mittlerweile fast alle Unternehmen durchführen. Selbst von jenen, die eine Lehrstelle bekommen, schafft jeder Fünfte die Lehrabschlussprüfung nicht. Wenn Schüler nach neun Schuljahren die Fläche eines Quadrats nicht ausrechnen können, dann stimmt etwas nicht. 31 Prozent der 15-Jährigen in Österreich sind in mindestens einer der drei PISA-Domänen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften besonders leistungsschwach, 13 Prozent sogar in allen drei Feldern. Schüler mit Migrationshintergrund schneiden bei Schulleistungen tendenziell in den meisten OECD-Ländern schlechter ab als einheimische Kinder. In Österreich ist dieser Prozentsatz von Schülern mit Leistungsschwächen mit 53 Prozent allerdings erschreckend hoch, während er bei kanadischen Schülern mit Migrationshintergrund nur bei 18 Prozent liegt. Das liegt sicher nicht daran, dass unsere Schüler zu „blöd“ für das Schulsystem sind. Von Management-Pionier Peter Drucker stammt das kluge Zitat: „Wann immer Sie einen hervorragenden Menschen gegen ein schlechtes System antreten lassen, wird immer das schlechte System gewinnen.“

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Zahlen & Fakten

Wie reagieren die Unternehmen auf diese Missstände in unserem Bildungssystem? In Österreich gibt es ein Ost-West-Gefälle bei der Attraktivität der Lehre. Während in Ostösterreich immer mehr Betriebe aus der Lehrlingsausbildung aussteigen, weil sie nicht „Ersatzschule“ spielen wollen, haben Unternehmen in Vorarlberg gelernt, mit der immer schlechter werdenden Qualifikation der Schulabgänger zu leben. Das Weltklasse-Unternehmen Hilti hat sich entschlossen, überhaupt nicht mehr auf die Schulnoten der Lehrstellenbewerber zu achten, es zählen vor allem die Motivation und die Persönlichkeit. Diese wird in intensiven „Schnuppertagen“ herausgefunden, an denen die Bewerber in Gruppen bereits gemeinsam ein Produkt herstellen.

Die besten Bewerber erhalten dann eine maßgeschneiderte Ausbildung, in der soziale Kompetenzen und die Vermittlung von technischem Fachwissen eine zentrale Rolle spielen. Sie müssen sich um ihre Zukunft in der digitalen Welt keine Sorgen machen. Auch in Deutschland gibt es Bundesländer wie zum Beispiel Baden-Württemberg, wo die duale Ausbildung im Betrieb durchaus attraktive Berufschancen eröffnet. Jedenfalls sollten Unternehmen sich zumindest wieder darauf verlassen können, dass Schulabsolventen Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschen. Sonst untergräbt sich die vielgelobte duale Ausbildung das Fundament, auf dem sie aufbaut.

Nur keine Schule ist schlimmer

Verfolgt man die Bildungsdebatte der letzten Jahrzehnte in Österreich, gewinnt man den Eindruck, als bestünde unser Schulsystem nur aus dem Gymnasium. Berufsschulen, Polytechnische Schulen, Sonderpädagogische Schulen, berufsbildende mittlere und höhere Schulen und – noch viel entscheidender – Kindergärten und Volksschulen kommen in der öffentlichen Diskussion bestenfalls als Randthemen vor, obwohl die Mehrzahl der jungen Menschen diese Schulformen absolviert. Dabei zeigen die Zahlen, dass es außer den geschlechtsspezifischen keine signifikanten Unterschiede bei den Chancen am Arbeitsmarkt zwischen den unterschiedlichen Ausbildungsformen gibt.

Gerade wenn man davon ausgeht, dass das Schulsystem in Österreich auf absehbare Zeit ein differenziertes bleiben wird, muss das Gießkannenprinzip, nach dem derzeit die Ressourcen verteilt werden, durch ein bedarfsorientiertes ersetzt werden. Sonst lassen wir jene Schulen weiterhin im Stich, die mit enormen sozialen Problemen kämpfen. Denn die massivsten Probleme am Arbeitsmarkt hat die Gruppe junger Menschen, die keine Schule besucht hat, keiner Arbeit nachgeht und sich nicht in beruflicher Ausbildung befindet. International bezeichnet man dieses Phänomen als NEET: Not in Education, Employment or Training.

Es herrscht eine fatale Konzentration auf das Versagen und die Dokumentation des Versagens.

Eltern, die in ihrer Jugend davon geträumt haben, ihren Leidenschaften zu folgen und etwas Großes zu wagen, drängen jetzt in der Krise ihre eigenen Kinder dazu, etwas „Sicheres und -Zukunftsweisendes“ zu studieren. Die Hälfte aller Nobelpreise in den Naturwissenschaften wurde übrigens an Forscher vergeben, die in Fachgebieten arbeiteten, die noch gar nicht existiert hatten, als sie selbst studierten. Nur so viel zum Thema „etwas Zukunftssicheres studieren“. Und an der These, dass Bankangestellter zwar meist ein ziemlich langweiliger, aber dafür sicherer Job ist, hat sich eher der erste Teil als krisensicher erwiesen. Mit wenigen Ausnahmen waren die Prognosen der Zukunftsforscher des Arbeitsmarktes ähnlich treffsicher wie die der Börsenanalysten.

Unser von der gesellschaftlichen Realität abgeschottetes Schulsystem versucht noch immer Wissen zu vermitteln, das auf einem seit achtzig Jahren fast unveränderten Curriculum mit bis zu 22 voneinander abgetrennten Gegenständen basiert. Das Ideal des deutschen und des österreichischen Schulsystems ist die Ausbildung zum mittelmäßigen Zehnkämpfer, der in allen geforderten Disziplinen möglichst achtbare Leistungen erbringt. Dem talentierten Langstreckenläufer wird ständig sein Versagen im Kugelstoßen, dem begabten Hürdenläufer seine Schwäche im Stabhochsprung vorgeführt. Es herrscht eine fatale Konzentration auf das Versagen und die Dokumentation des Versagens. Lernen heißt für den Schüler, zu achtzig Prozent zu lernen, was ihn nicht interessiert oder vor dem er sogar Angst hat. Wir impfen unseren Kindern früh die Furcht ein, etwas falsch zu machen. Die Konsequenz ist, dass wir Kinder weg von ihren Potenzialen erziehen.

Ehrgeizige Eltern, veraltete Schule

Versucht man ohne ideologische Brille wissenschaftliche Fakten über die menschliche Entwicklungsfähigkeit zu analysieren, kommt man zu folgenden Erkenntnissen: Nicht jedes Kind ist intellektuell hochbegabt, auch wenn die gegenteilige Behauptung des Gehirnforschers Gerald Hüther noch so wünschenswert wäre. Nicht jeder Mensch kann alles erreichen, auch wenn er sich noch so anstrengt. Intelligenz ist für Spitzenpositionen eine Grundvoraussetzung, allerdings mit abnehmendem Grenznutzen. Ein IQ von 160 macht gegenüber einem IQ von 120 keinen entscheidenden Unterschied – außer man strebt unbedingt einen Nobelpreis an.

Noch eine ungeliebte Wahrheit: Je gezielter die individuellen Talente von Menschen gefördert werden, umso größer treten deren Unterschiede hervor. Wer gleiche Ergebnisse bei unterschiedlichen genetischen und sozialen Startvoraussetzungen erzielen will, muss zwangsläufig die Anforderungen senken und objektive Leistungsvergleiche verhindern. Überehrgeizige Eltern, völlig veraltete Schulen und engstirnige Vorgesetzte vernichten die Lebenschancen von Menschen. Wenn wir unsere Kinder mit viel Aufwand auf den Weg der Überforderung jagen, dann endet das meist mit Enttäuschung oder Schuldzuweisung an andere. Der getäuschte Mensch ist fast immer ein unglücklicher Mensch.

Wenn sich Menschen dagegen von den Illusionen über ihre vermeintlichen Talente verabschieden und sich auf das konzentrieren, was sie gerne tun und gut können, dann haben sie beste Chancen auf ein erfülltes Leben. Unabhängig davon, ob vor ihrem Namen „Meister“ oder dahinter angefügt „Master“ steht. Abseits von allen volkswirtschaftlichen Wettbewerbsüberlegungen mit dem Ziel, sich nationale Vorteile zu verschaffen, gibt es einen wesentlich wichtigeren Grund, warum wir dem ehrlichen Entdecken und Fördern von Talenten einen viel höheren Stellenwert in unserer Gesellschaft geben sollten. Der betrifft uns alle. Viele Studien bestätigen, dass Geld, Sicherheit und ein bestimmtes Maß an Komfort für Menschen durchaus notwendig sein mögen, aber nicht entscheidend sind. Für ein erfülltes Leben brauchen sie das Gefühl, dass ihre Talente wertvoll sind und anerkannt werden. Voraussetzung dafür ist, dass diese Begabungen richtig erkannt werden und vor allem junge Menschen nicht zum Opfer der elterlichen Täuschungen oder werden oder gar der eigenen.

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Conclusio

Unser Schulsystem versagt: Jeder fünfte Fünfzehnjährige kann nach neun Jahren Pflichtschule nicht sinnerfassend lesen. Das System führt dazu, dass Schüler schnell in klug und dumm selektiert werden und alle in die angesehenen „intellektuellen“ Berufe drängen. Unser Schulsystem muss sich ändern: Mehr Fokus auf individuelle Talente und praktische Fähigkeiten macht die Menschen fit für Veränderung und lässt sie ein erfülltes Leben führen.