Länger arbeiten sollte kein Tabuthema sein

Mit der kommenden Pensionierungswelle der Babyboomer wird eine Lücke am Arbeitsmarkt klaffen. Damit Betriebe nicht am Fachkräftemangel scheitern, könnten erfahrene Mitarbeiter ihre Pension hinauszögern. Politik und Wirtschaft sollten den Rahmen dafür schaffen.

In einer Autowerkstatt hilft ein älterer Kollege einem jungen.
Auch wenn ältere Fachkräfte nicht mehr vollen körperlichen Einsatz leisten können, ist ihre Erfahrung Gold wert für Betriebe. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Leere Stellen. Mit der bevorstehenden Pensionierung der geburtenstärksten Jahrgänge werden viele Stellen offen bleiben.
  • Tabu brechen. Der drohende Fachkräftemangel könnte durch ein flexibleres Pensionsalter abgefedert werden.
  • Chancen bieten. Viele ältere Mitarbeiter lassen sich leicht dazu motivieren, länger aktiv zu bleiben – zumindest in Teilzeit.
  • Sozial verträglich. Ein flexibleres Pensionssystem muss den Ruhestand für all jene gewährleisten, die nicht länger leistungsfähig sind.

Derzeit wird viel diskutiert, ob Österreich und Deutschland den Sprung in eine neue wirtschaftliche Ära schaffen. Weg von rauchenden Schloten und Benzinmotoren, hin zu klimafreundlichen E-Autos – und Geschäftsmodellen, bei denen das Geld digital verdient wird. Der Chef aller deutschen Jobagenturen richtete den Blick kürzlich auf etwas ganz Anderes: „Kritischer als die Transformation ist die Demografie“ sagte Detlef Scheele. „Ich verstehe nicht, warum darüber niemand redet“.

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In der Tat geht diese riesige Herausforderung öffentlich völlig unter. In den nächsten 20 Jahren verabschieden sich die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand. Die Arbeitnehmer, die diese Lücke füllen könnten, hätten schon geboren werden müssen. Dieses demografische Erdbeben reißt nicht nur Krater in die Rentenversicherung, sondern auch in die Personalreihen. Den Unternehmen gehen die Leute aus.

Horrorliste für Firmen

Damit wird ein Problem multipliziert, das jetzt schon drückt. 2020 gaben 70 Prozent österreichischer Firmen mit zehn bis 50 Mitarbeitern an, sie treffe der Mangel an Fachkräften „eher stark“ bis „sehr stark“. Bei größeren Unternehmen waren es bis zu 80 Prozent – mitten in der Corona-Krise. Am meisten gesucht waren Handwerker und Techniker, so die Befragung der Wirtschaftskammer.  

Die Auswirkungen? Mehr Stress für das vorhandene Personal, weniger neue Produktentwicklungen, Einbußen an Qualität – und Umsatz. Mit anderen Worten: für engagierte Unternehmer eine Horrorliste.

Hoffnung gibt es eher wenig. Drei von vier befragten Firmen gehen davon aus, der Mangel werde in den nächsten drei Jahren zunehmen. Und danach wird es immer schlimmer. Denn dann stecken die Unternehmen im demografischen Klammergriff: „Von der Pflege über Klimatechniker bis zu Logistikern und Akademikerinnen: Es werden überall Fachkräfte fehlen“, sagt Jobagenturen-Chef Scheele.

Länger arbeiten als Tabu

Höchste Zeit also, darüber zu reden, was sich tun lässt. Und es wird ja einiges diskutiert. So könnte die Politik mehr tun, damit weniger junge Leute ohne Schul- und Berufsabschluss ins Arbeitsleben stolpern. Sie könnte Mütter durch bessere Kinderbetreuungsangebote und finanzielle Anreize motivieren, früher und mehr zu arbeiten. Sie könnte mehr Zuwanderer ins Land holen. 

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Zahlen & Fakten

Jeder dieser Vorschläge hat seine eigenen Hürden. Angesichts der Größe der demografischen Herausforderung muss die Politik ziemlich sicher alles zusammen angehen – und noch mehr. Dabei fällt auf, dass nicht nur über das demografische Problem zu wenig geredet wird, sondern auch über ein wirksames Instrument dagegen: existierende Fachkräfte zu bewegen, länger zu arbeiten.

Darüber wird nicht nur zu wenig geredet (und politisch getan), es ist eine Art Tabu. Dabei liegt es auf der Hand. Die Lebenserwartung hat sich in den vergangenen 150 Jahren mehr als verdoppelt. Und die Bürger werden nicht nur älter, sie sind im Alter auch viel gesünder und fitter. Über-65-Jährige fühlen sich im Schnitt sieben bis zehn Jahre jünger, als ihr Personalausweis festhält. Die Hälfte engagiert sich ehrenamtlich und fährt Auto.

Doch das Rentenalter verharrt trotz dieser Quantensprünge noch etwa da, wo es während des Ersten Weltkriegs war. Also vor 100 Jahren.

Dreifaches Plus für Fachkräfte

Es müsste möglich sein, Fachkräfte zu ermutigen, etwas länger zu arbeiten – ganz gleich, ob Ingenieure, Handwerker, Informatiker oder andere. Viele könnten nach dem Rentenalter noch ein paar Jahre dranhängen, und sei es in Teilzeit. Sie würden dabei gleichzeitig ihre eigene Rente erhöhen, die Rentenversicherung durch Beiträge stützen und den Fachkräftemangel lindern. Ein dreifaches Plus.

Und die Mobilisierung beginnt schon früher. Denn viele Beschäftigte arbeiten heute gar nicht bis zum offiziellen Rentenalter. Wie groß die Potenziale sind, zeigen die Zahlen: Deutsche gingen 2019 im Schnitt mit 64 in den Ruhestand, österreichische Männer mit 63 und Frauen mit 61.

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Zahlen & Fakten

Wie vorteilhaft es wäre, den Fachkräftemangel durch Ältere zu vermindern, bringt ein Altersforscher so auf den Punkt: „Ältere Fachkräfte sind schon da, sprechen Deutsch und müssen nicht eingearbeitet werden“. Doch wer solche Gedanken äußert, bezieht politisch Prügel. Länger arbeiten gilt als Synonym für neoliberale Ausbeutung – Zwangsarbeit für Menschen, die mit 60 kaum mehr stehen können. Das insinuieren die politischen Feinde des längeren Arbeitens und machen damit ihre Gegner mundtot. Zu unrecht.

Ja, wer sein Leben schwer körperlich geschuftet hat, hält meist nicht mal bis zum Rentenalter durch, geschweige denn noch länger. Doch das betrifft inzwischen eine Minderheit der Arbeitnehmer. Die Schufterei in der Fabrik oder auf der Baustelle hat abgenommen. Und sie nimmt in einer digitalen, höher akademisierten Wirtschaftswelt weiter ab.

Es gibt also viele Fachkräfte, die etwas länger als 65 arbeiten können – oder wenigstens bis 65.  An mangelnder Gesundheit liegt es nicht. Beim Survey of Health, Ageing and Retirement des Zentrums für die Ökonomie des Alterns unter 100.000 Europäern gaben 61 Prozent der 70-Jährigen an, sie seien körperlich nicht eingeschränkt. Beim Deutschen Alterssurvey meldeten zwei Drittel der 66- bis 71-Jährigen gute Gesundheit.

Angebote für Leistungsfähige

Es wird in der politischen Debatte nicht reichen, solche Fakten mehr herauszustellen. Um den Stereotypen zu begegnen, sollte sich die Politik um jene kümmern, die wirklich nicht so lange arbeiten können. Das ist das Paradoxe: Viele Parteien in Deutschland wehren mit Blick auf Benachteiligungen reflexhaft längeres Arbeiten für alle ab – aber um die echt Benachteiligten, die als Bauarbeiter oder Krankenschwester irgendwann nicht mehr können, kümmern sie sich gar nicht.

Renten wegen Berufs- oder Arbeitsunfähigkeit wurden in Deutschland systematisch zusammengekürzt. Dabei wären sie das Instrument: Frühzeitige Renten für jene, die lange körperlich gearbeitet haben, ohne bürokratische Schikane. Und für die Mehrheit Angebote, länger zu arbeiten als heute.

Es geht darum, den Älteren vor Augen zu führen, dass sie im Alter mehr können, als sie denken.

Wie sehen solche Angebote aus? Es fängt damit an, dass viele ab Mitte 50 glauben, dem Job nicht mehr lange gewachsen zu sein. Modellprojekte in Firmen haben gezeigt, dass sich diese Fehleinschätzung leicht korrigieren lässt. Es geht darum, den Älteren vor Augen zu führen, dass sie im Alter mehr können, als sie denken.

Bei der Deutschen Bahn etwa wollten viele Arbeitnehmer, die eigentlich einen frühen Ruhestand planten, nach den Projekten länger bleiben. Dabei werden gezielt Fähigkeiten trainiert, die etwa Zugbegleiter brauchen, um dauernden Fragen und Klagen der Reisenden gewachsen zu sein, ohne in übermäßigen Stress zu geraten.

Auch für Beschäftigte in körperlich fordernden Berufen gibt es Aufgaben. Man kann sie etwa gewinnen, ihre Erfahrung bei der Ausbildung Jüngerer weiterzugeben. Manche Firmen haben zudem spezielle Demografie-Tarifverträge abgeschlossen, um bei Arbeitszeiten und Schichten besser auf Ältere einzugehen. Dabei geht es nicht um betreutes Wohnen, stellt der Altersforscher Clemens Tesch-Römer klar: „Betriebe sollten ältere Arbeitnehmer auch nicht unterfordern. ‚Der ist 60, der muss sich in die Ecke setzen‘ – das ist genauso schädlich für die Gesundheit wie Überforderung“.

Lohnkurve glätten

Um was es aber geht: Ältere anzuwerben, die von Unternehmen im Jugendwahn der vergangenen Jahrzehnte oft möglichst früh herausgekehrt wurden. Wer mit 50 einen neuen Job sucht, stößt bis heute häufig an eine gläserne Wand der Missachtung. Um sich Fachkräfte zu sichern, müssen die Firmen von Missachten auf Werben umschalten. „Es gibt eine riesige schweigende Mehrheit, die länger arbeiten will“, beobachtet der Ökonom Bernd Raffelhüschen. Wer noch eine Weile weiterarbeitet, erfährt Bestätigung, pflegt persönliche Kontakte, hält sich geistig fit – alles Motive, durch die sich Arbeitnehmer gewinnen lassen.

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Zahlen & Fakten

Natürlich wirkt es auch abschreckend, ältere Mitarbeiter zu halten, wenn sie unabhängig ihrer Qualifikation, sondern allein wegen ihrer Dienstjahre ein Anrecht auf höhere Löhne haben. Die Sozialpartner hätten es in der Hand, Lohnkurven über die aktive Lebenszeit etwas abzuflachen, damit man in jungen Jahren besser verdient, dafür weniger steil mit der Zeit auf der Verdienstleiter emporrückt. Dringend gefragt ist auch die Politik. Jahrzehntelang förderte sie den frühen Ruhestand mit Mitte oder Ende 50, um damit Jobs für Jüngere freizumachen und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Ein grandioser Fehlschlag, der nur die Pensionskassen leerte.

Offenes Ende beim Pensionsalter

Nun braucht es das Gegenteil: Finanzielle Anreize, länger zu arbeiten. Mancher wird froh sein, mit Aufschlägen seine eher magere Durchschnittsrente aufzustocken. Die Politik sollte auch – wie in Dänemark – die geltende Praxis beenden, dass Arbeitsverträge automatisch mit dem offiziellen Rentenalter enden. Dann nämlich müssen sich die Firma und der Mitarbeiter automatisch zusammensetzen und besprechen, wie es weitergeht: Soll gleich Schluss sein oder macht der Beschäftige erstmal noch ein Jahr weiter, und danach vielleicht noch zwei Jahre in Teilzeit?

So ein offenes Ende hat Signalwirkung für alle Arbeitnehmer und Personalchefs. Es ist eine der notwendigen Maßnahmen, um endlich einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel in Gang zu setzen: Die Industriestaaten mit ihren alternden und schrumpfenden Bevölkerungen können es sich nicht länger leisten, arbeitswillige Ältere abzuschieben – das verbieten leere Rentenkassen genauso wie der Mangel an Fachkräften.

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Conclusio

Der Aufschwung nach der Pandemie wird bereits gebremst, weil Unternehmen nicht genug qualifizierte Leute finden. Gleichzeitig gehen Mitarbeiter, die geistig wie körperlich fit sind, scharenweise in Pension. Dabei verlieren Betriebe oft die erfahrensten Leute. Das Pensionsalter anzuheben gilt in der Politik als Tabu – aber es gibt viele Menschen, die gerne länger aktiv wären. Ihnen sollte der Staat keine Steine in den Weg legen. Auch Unternehmen sollten jede Alternative prüfen, bevor sie sich von langgedienten Mitarbeitern für immer verabschieden. Die Gesellschaft kann es sich auf Dauer nicht leisten, so viel Talent brach liegen zu lassen.