Machen Soziale Medien süchtig?

Ja, machen sie. Social Media wie Facebook und Instagram verführen uns nach allen Regeln der Kunst. Doch wir müssen uns nicht ablenken lassen, wenn wir nicht wollen.

Handy mit "Social media seriously harms your mental health"-Aufkleber
Sollten Soziale Medien mit ähnlichen Warnungen versehen werden wie Zigaretten? © Unsplash/Christopher Ott
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Auf den Punkt gebracht

  • Belohnung. Digitale Angebote sind leicht konsumierbar und belohnen ihre Nutzer mit schnellen Erfolgserlebnissen. Wir kehren immer wieder zu ihnen zurück.
  • Ablenkung. Social Media bietet die Ablenkung vom Alltag, die wir stetig suchen. Sobald wir uns langweilen, ist der Reiz da, zum Smartphone zu greifen.
  • Selbstwert. Wie wir uns fühlen, ist immer häufiger davon abhängig, wieviel Anerkennung und Beachtung wir auf Facebook, Instagram & Co. finden.
  • Selbstverantwortung. Technologiekonzerne sind nicht für unsere digitale Sucht verantwortlich. Es liegt an uns, ein gutes Online-Offline-Verhältnis zu finden.

In der schier unendlichen Welt des virtuellen Raums findet seit vielen Jahren ein Kampf statt: Ohne dass sich die User dessen bewusst wären, wird um ihre Aufmerksamkeit gebuhlt. Technologie-Unternehmen setzen alles daran, Menschen auf ihre Websites oder Apps zu locken, sie dort zu halten und nach ihren Angeboten süchtig zu machen. „Hooked“ ist der Fachbegriff für dieses Phänomen, wenn das Abschalten von Social Media einfach nicht mehr funktioniert.

Mehr im Dossier Aufmerksamkeit

Dieses Suchtverhalten hat einen guten Grund: Software-Entwickler nutzen diverse psychologische Tricks, um uns an den Haken zu kriegen. Ihr Ziel ist es, unsere Gewohnheiten so zu verändern, dass wir immer und immer wieder auf ihre digitalen Angebote zugreifen.  

Drei Wege, Menschen abhängig zu machen

Dafür gibt es drei wichtige Strategien. In den Neurowissenschaften gibt es zunächst den Fachbegriff der internen Trigger: Wenn sie aktiviert werden, schaltet unser Gehirn auf unbedingte Aufmerksamkeit und richtet diese auf einen bestimmten Gegenstand. Besonders zugkräftig sind Emotionen: Sie sind ideale Trigger, um Menschen an digitale Angebote zu binden – vor allem dann, wenn sie die Stimmung verbessern, also eine positive Verstärkung bieten. Die Kunst ist es, ein Online-Angebot zu schaffen, das diesen Aspekt miteinschließt.

Ein zweiter Trigger-Mechanismus ist Interaktivität. Passives Betrachten reicht oft nicht aus, um die Menschen zu fesseln. Erfolgreich ist hingegen alles, bei dem wir mitmachen und etwas tun können.

Und der dritte Baustein: Wer Menschen auf seiner Plattform halten will, installiert ein Belohnungssystem. Nicht umsonst war der „Like“-Button der Sozialen Medien so wesentlich für deren Erfolg. Ähnlich verhält es sich mit dem Follow-Button, mit dem man eine Gefolgschaft aufbaut. Je mehr Follower, umso beliebter fühlt man sich – und umso mehr wird jeder Neuzugang zur Bestätigung des eigenen Selbstwerts.

Nicht jeder wird süchtig

Verbringen wir zu viel Zeit mit Sozialen Medien? Machen sie süchtig? Schaden sie uns auf lange Sicht? Diese Fragestellungen hören wir häufig, aber sie sind bereits vom Prinzip her falsch. Wir sollten soziale Medien nicht von Grund auf verteufeln, denn die digitalisierte Welt bringt auch viele Vorteile mit sich. In der Geschichte hat es immer wieder Technologiesprünge gegeben, die den sogenannten Negativitäts-Bias beim Menschen ausgelöst haben: die Furcht vor dem Unbekanntem, vor etwas, dessen Folgen sich schwer einschätzen lassen.

Unternehmen sind nicht für das Konsumverhalten der Menschen verantwortlich. Es geht um Eigenverantwortung.

Erst hatten wir Angst vor der Eisenbahn, dann vor dem Auto, dem Radio, dem Fernsehen. Mittlerweile kommen die meisten von uns mit all diesen Dingen zurecht. Das hängt auch damit zusammen, dass sich unser Nutzungsverhalten mit der Zeit einpendelt. Ein Beispiel: Früher wurde oft vor einer Fernsehsucht gewarnt, heute hört man von diesen Bedenken so gut wie nichts mehr. Überhaupt ist Sucht ein gefährlicher Vergleich: Nur weil in den meisten Staaten der Welt Alkohol verkauft wird und ein bis fünf Prozent der Bevölkerung an einer Alkoholsucht erkranken, wird Alkohol noch lange nicht verboten. Das würde auch keinen Sinn ergeben, denn nicht alle Menschen besitzen ein identisches Suchtpotenzial.

Bedürfnisse kennen, Selbstbestimmung wahren

So sehe ich auch das Internet und die Nutzung von Sozialen Medien. Es sind nicht die Sozialen Medien, die süchtig machen. Wirklich Internetsüchtige sind in der Minderheit. Ein anderes Beispiel ist Zucker: Natürlich gibt es Leute, die zu viel Zucker zu sich nehmen, davon krank werden und Diabetes entwickeln. Auch sie sind allerdings nur ein kleiner Prozentsatz, nicht die Mehrheit der Bevölkerung, die gelernt hat, mit Zucker umzugehen. Niemand käme auf den Gedanken, die Nahrungsmittelindustrie für Diabetes verantwortlich zu machen.

Nicht Unternehmen sind für das Konsumverhalten der Menschen verantwortlich, sondern wir selbst. Es geht um Eigenverantwortung. Die zentrale Frage ist, welche Werte uns in der realen Welt wichtig sind – und das muss jeder Einzelne für sich selbst festlegen. Wie das gelingen kann, beschreibe ich in meinem neuen Buch: „Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen“.

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Zahlen & Fakten

Illustration von Smartphones
Wenn die Ablenkungen kein Ende nehmen: Meistens ist das Smartphone daran beteiligt. © Francesco Ciccolella

Zurück zum Fokus: Eine Anleitung

  • Medienanalyse: Die Zeit, die man mit digitalen Medien in den Bereichen Arbeit, Freundschaft und Persönliches verbringt, genau feststellen und sie mit der Zeit offline vergleichen. Dann eine Balance ­herstellen.
  • Zeitmanagement: Limits setzen und dabei vermeiden, dass Langeweile, Unzufriedenheit oder Einsam­keit die Motivation für den Einstieg in soziale Medien sind.
  • Echtes Leben: Vorlieben in der Realität definieren und Aktivitäten wie Sport, Zeit für Familie oder Freunde fix im Alltag integrieren.
  • Ablenkung meiden: Signaltöne, Erinnerungen, Push-Meldungen deaktivieren, die die Aufmerksamkeit auf ein digitales Angebot lenken – vor allem dann, wenn man sich konzentrieren will.
  • Handy adaptieren: Smartphone von allen un­nützen Anwendungen säubern und soziale Medien eher am Computer als am Smartphone nutzen. Das verringert die Nutzung automatisch.
  • Offline sein: Bewusst Zeiten ohne digitale Anbindung einplanen oder sogar immer wieder digitale Fastenzeiten einlegen. Sich selbst daran erinnern, dass Langeweile gut für das Gehirn ist und Kreativität fördert.

Sicher ist: Ablenkungen gibt es heutzutage zuhauf. Langeweile, Einsamkeit, Unsicherheit oder Stress sind alles Gegenspieler von Aufmerksamkeit, und sie sorgen in 90 Prozent der Fälle dafür, dass unser Fokus abschweift. Wir verlernen auch zunehmend, unsere Zeit proaktiv zu gestalten. Was will ich machen? Was tut mir gut? Um diese Fragen sollte es gehen, und an diesen Punkten sollte jeder ansetzen. Es gibt ausreichend Strategien, um sich den Fokus im Leben wieder zurückzuerobern – sowohl innerhalb als auch außerhalb der digitalen Welt.

Das Internet ist ein Raum der unbegrenzten Möglichkeiten und des Überflusses. Wer will, kann den ganzen Tag Online-Fußball statt echten Fußball spielen oder statt echtem Sex Internet-Pornos konsumieren. Doch was ist die Quintessenz? Jeder Einzelne hat es in der Hand, mit den neuen digitalen Möglichkeiten zurechtkommen. Es ist nicht die Verantwortung der Tech-Unternehmen sondern der User zu entscheiden, wie lange sie sich mit digitalen Anwendungen beschäftigen wollen. Ein kleiner Prozentsatz wird zu Opfern der digitalen Welt. Sie schaffen es nicht, auf ihre Bedürfnisse zu achten. Die meisten entwickeln ein Sensorium dafür, was gut tut und was nicht und werden ihren Zeitplan danach ausrichten.

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Conclusio

Soziale Medien und generell digitale Angebote können sich auf das Belohnungssystem des menschlichen Gehirns verlassen: Interaktive und emotionale Inhalte sind besonders starke Anreize, wieder und wieder zum Smartphone zu greifen und insbesondere die Sozialen Medien zu nutzen. Jedes Like ist die sofortige Belohnung dafür. Doch das heißt nicht, dass Soziale Medien süchtig machen. Wir haben es selbst in der Hand, aus dem Kreislauf auszubrechen, indem wir unser digitales Leben ebenso bewusst gestalten wie unser analoges Leben. Echte Internet-Sucht ist ein Randphänomen, das nur wenige Menschen betrifft.