Der hohe Preis der Aufmerksamkeit
Der Ökonom Georg Franck wusste schon vor 20 Jahren, dass Aufmerksamkeit zur neuen Währung werden würde. Im Interview erklärt er, wie Likes unsere Gesellschaft verändern und warum wir gerade einen „emotionalen Klimawandel“ erleben.
Georg Franck ist Architekt und Softwareentwickler für räumliche Planung. Bis 2015 war er Ordinarius für digitale Methoden in Architektur und Raumplanung an der Technischen Universität Wien. Franck ist zudem Ökonom und hat sich eingehend mit Neuen Medien und Werbung beschäftigt. Er lebt in Wien.
Herr Franck, Sie haben in den 1990er-Jahren das Buch Die Ökonomie der Aufmerksamkeit geschrieben. Es ist eine geradezu prophetische Analyse darüber, warum soziale Medien so erfolgreich sind. Wie konnten Sie das voraussehen?
Georg Franck: Ich beschäftige mich seit den 1980er-Jahren mit Medien und wunderte mich, warum stets nur die technische Machbarkeit diskutiert wurde. Das Entscheidende war doch das neue Geschäftsmodell. Herbert Simon, Pionier der künstlichen Intelligenz, sagte damals: „Eine Gesellschaft, die reich an Information ist, ist arm an Aufmerksamkeit.“ Wer das weiterdachte, erkannte, dass Aufmerksamkeit neben Geld eine neue Währung werden würde.
Mehr im Dossier Aufmerksamkeit
- Der Pragmaticus: Der geraubte Fokus
- Gloria Mark: Online bis zur Erschöpfung
- Nir Eyal: Machen Soziale Medien süchtig?
- Der Pragmaticus Interaktiv: So viel Zeit verbringen wir im Internet
Geld kann man angreifen, wie lässt sich denn die Aufmerksamkeit fassen?
Informationsgüter unterscheiden sich von Konsumgütern insofern, als es nicht reicht, sie zu kaufen. Für ihren Konsum ist Aufmerksamkeit erforderlich. Insofern sind sie ein knappes Gut.
Können Sie das genauer erklären?
Wir können unsere Aufmerksamkeit auf alles Mögliche richten, aber nicht auf alles zugleich. Wer sich fokussiert, muss alles andere rundherum ausklammern. Es gibt also theoretisch beliebig viele Verwendungsmöglichkeiten. Damit ähnelt die Aufmerksamkeit dem Geld. Geld ist, weil man damit so viele unterschiedliche Dinge kaufen könnte, auch notorisch knapp. Auch diejenigen, die genug davon besitzen, haben den Eindruck, sie bräuchten noch mehr.
Wie lässt sich Aufmerksamkeit auf individueller Ebene beschreiben?
Aufmerksamkeit ist die psychische Energie, die eine Person aufbringen muss, um sich einer Sache mental zuwenden zu können. Doch das ist nicht alles, es findet auch ein zwischenmenschlicher Austausch statt. Jeder von uns ist darauf angewiesen, Aufmerksamkeit nicht nur zu geben, sondern sie auch von anderen zu bekommen. Sie ist eine Form des Einkommens und insofern tatsächlich überlebensnotwendig.
Sie meinen existenziell wichtig?
Babys, die keine Aufmerksamkeit bekommen, sterben. Wer sich nicht beachtet fühlt, leidet. Wir Menschen sind evolutionär betrachtet soziale Tiere, die Aufmerksamkeit so dringend brauchen wie Licht und Luft. Sie strukturiert unser Miteinander auf geniale Art und Weise. Es wäre für die Spezies Mensch fatal gewesen, wenn man seine Stellung in der Gesellschaft ausschließlich mit Gewalt hätte aushandeln müssen.
Wie beeinflusst Aufmerksamkeit eine Gesellschaft?
Die Menschen verwenden seit jeher einen Löwenanteil ihrer Zeit, um einander zu beobachten und Beziehungen aufzubauen. Für den, der sie bekommt, ist Aufmerksamkeit eine Art Einkommen. Es ist die Beachtung, die wir brauchen, um als soziale Wesen leben zu können. Das psychische Organ, wenn man es so sagen will, in dem die Aufmerksamkeit füreinander verankert ist, ist der Selbstwert. Wir müssen von anderen geschätzt werden, um uns selbst als wertvoll zu erleben. Das ist auch in den sozialen Medien so.
Und wie entsteht Selbstwert?
In dieser Frage sollte man zwischen dem Ich und dem Ego unterscheiden. Das Ich denkt. Das Ego hingegen fragt: Wie stehe ich in Beziehung zu den anderen in einer Gruppe? Also: Was darf ich von mir halten? Das Trickreiche daran ist, dass dieser Selbstwert sehr intim und öffentlich zugleich ist. Er ist subjektiv, hängt aber von den Leuten rund um einen ab und genügt sich eben gerade nicht selbst. Um gut vor sich selbst dazustehen, muss man vor anderen gut dastehen. Der Erbsünde der Eitelkeit entkommt niemand.
Was hat sich durch die sozialen Medien verändert?
Es gab zu allen Zeiten Jahrmärkte der Eitelkeiten, also Orte, an denen sich Menschen versammelten, um zu sehen und gesehen zu werden. Doch sie waren informell und lokal beschränkt. Mit dem Aufkommen der werbefinanzierten Medien wie Radio und TV änderte sich alles. Plötzlich konnte die Aufmerksamkeit in Form von Einschaltquoten und Auflagenhöhe gemessen werden. Medien waren nicht länger nur Informationsverteiler. Über die Werbung wurde eine neue Einkommensquelle erschlossen. Mittlerweile ist, vereinfacht gesagt, jeder User ein eigenes Medium. Das Business-Modell wurde in den sozialen Medien auf die Ebene des Detailhandels herabskaliert. Jeder läuft mit dem eigenen Bauchladen herum.
Gleiche Chancen für alle, oder?
Theoretisch kann jeder an diesem neuen Geschäft teilnehmen und eigene Aufmerksamkeit investieren, um an die Aufmerksamkeit anderer heranzukommen. Von zentraler Bedeutung für den Erfolg von Facebook, Instagram oder Twitter wurde allerdings die Einführung einer eigenen Währung.
Machen Soziale Medien süchtig?
Sie meinen Follower und Likes?
Sie drücken die Beliebtheit in Zahlen aus und sind die derzeit letzte Stufe in der Ökonomisierung der Aufmerksamkeit. Sie gibt den Besitzern die Möglichkeit, Beliebtheit wieder zurück in Kapital zu verwandeln. Wer genug Follower hat, kann richtiges Geld verdienen.
Aufmerksamkeit und Geld sind also Parallelwährungen?
Geld hat durch das Aufmerksamkeits-Business Konkurrenz bekommen. Auch der Werbemarkt hat sich gewandelt. Denn die Zentralbanken der Aufmerksamkeitsökonomie, die Soziale-Medien-Plattformen, durchleuchten jene, die dort aktiv sind. Das Wissen über die individuellen Vorlieben wird an die Werbewirtschaft verkauft, die ihrerseits viel gezielter und mit weniger Streuverlust ihre Produkte bewerben kann. Wie gesagt: Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource und zielgerichtete Werbung sehr effizient.
Worauf springt Aufmerksamkeit an?
Es gibt Bedürfnisse des physischen Lebens. Es sind immer dieselben: Essen, Komfort und Sex. Doch das psychische Erleben will immer etwas Neues, Überraschendes. Es will schweifen, es will unterhalten werden, und deshalb ist die Langeweile sein größter Feind. Es kostet die Psyche Anstrengung, sich zu fokussieren. Das mag sie nicht. Deswegen braucht man, um sie zu fangen, starke Reize.
Welche?
Negative Reize wie Gefahr oder Anspannung sind für die menschliche Aufmerksamkeit viel attraktiver als Gutgemeintes. Doch das ist nur eine Seite. Dadurch, dass Bekanntheit nun eine Art Reichtum darstellt, hat eine krasse Ungleichheit in der Verteilung stattgefunden. Denn nur ganz wenigen gelingt es, reich an Aufmerksamkeit und damit attraktiv zu sein. Die große Masse bekommt spärliche Aufmerksamkeit. Wie wir sehen, führt das zu Verteilungskämpfen.
Es kostet die Psyche Anstrengung, sich zu fokussieren. Deswegen braucht man, um sie zu fangen, starke Reize.
Von welchen Kämpfen sprechen Sie?
Wer heute in den sozialen Medien mitmacht, sucht nur vermeintlich nach neuen Informationen, die meisten wollen nachsehen, was auf ihren persönlichen Beliebtheitskonten so los ist, und sich mit anderen vergleichen. Man kann sich vorstellen, was passiert, wenn sich viele User zwar sehr bemühen, es aber nicht schaffen und sich folglich übergangen fühlen.
Es entstehen Neid und Frust …
Es sind beides Gefühle, bei denen der Selbstwert eine zentrale Rolle spielt. Der Selbstwert ist eine innere Größe des Wohlbefindens. Das kann man sich als eine Art Buchhaltung vorstellen. Das Einkommen von Aufmerksamkeit wird auf das Konto des Selbstwerts verbucht. Viel Einkommen, viel Selbstwert. Wenig Einkommen, wenig Selbstwert.
Und wenn das Konto im Minus ist?
Auch dafür hat sich die Evolution einen Notnagel einfallen lassen. Wenn wir die Aufmerksamkeit, die wir zu brauchen meinen, nicht bekommen, reden wir uns ein, dass diejenigen, die sie uns verweigern, dieser Aufmerksamkeit selbst gar nicht wert sind. Das ist der Ursprung des Ressentiments. Es ist eine Art Notwehr derer, die nach Aufmerksamkeit hungern. Indem man den Verursacher abwertet, stellt man fest, dass es nicht mehr so weh tut. Das zeigt, wie variabel der Selbstwert in der Psyche ist. Das Einkommen an Aufmerksamkeit ist deshalb nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Größe.
Wovon hängt die Qualität ab?
Von den Gefühlen, die zwischen Sender und Empfänger transportiert werden. Die Aufmerksamkeit einer Geliebten ist mehr wert als die von einer Taxifahrerin. Die spiegelbildliche Strategie des Vorurteils ist die im schlechten Sinne verstandene Eitelkeit. Also überzogener Stolz und Selbstgefälligkeit.
Narzisstische Charaktere, meinen Sie?
Ein Narzisst ist nicht bloß in sich selbst verknallt, sondern will sich in einem fremden Bewusstsein spiegeln, will geliebt und bewundert werden. Donald Trump ist die Verkörperung dieses Typus. Geld allein reicht ihm nicht, er will die Aufmerksamkeit mit allen Mitteln und hat dafür die Zwietracht instrumentalisiert. Seine Erfolge wären ohne soziale Medien nicht möglich gewesen.
Inwiefern?
Weil Ressentiments im Sinne der Voreingenommenheit ein Riesengeschäft sind und sich in den diversen Blasen der sozialen Medien die Enttäuschten und Verbitterten aufstacheln lassen. Deshalb erleben wir dort gerade einen emotionalen Klimawandel, eine vergiftete Atmosphäre, in der sich Menschen ständig empören. Der Bestand an Vertrauen und Wohlwollen, die eine Gesellschaft zusammenhalten, ist eine ökologische Ressource, für die das Gesetz der Nachhaltigkeit gilt. Es ist das soziale Kapital. Gefühle sind eine große Ressource. Sie kann nicht über das Maß, in dem sie sich regeneriert, verbraucht werden. Das soziale Kapital in einer Gesellschaft ist keine statische Größe, sondern muss durch gute Erfahrungen ständig erneuert werden.
Und wenn das nicht passiert?
Dann werden Menschen aggressiv, vertrauen einander nicht mehr und fallen übereinander her. Da haben wir die Stimmung, die heute da ist. Warum finden Querdenker so stark Gehör? Sie wollen Vertrauen vernichten, weil sie fühlen, dass sie zu kurz gekommen sind. Für Neonazis ist Demokratie Gift, ja Verrat. Dieser emotionale Klimawandel ist das eigentliche Problem der Aufmerksamkeitsökonomie.
Wie Fake News Feindbilder schaffen
Weil zu viele frustriert sind?
Die große Masse der User in sozialen Medien hat im Vergleich zu den wenigen Celebrities nur sehr wenig Aufmerksamkeit. Und jene, die berühmt sind, hatten auch früher schon Bühnen, die sie bekannt machten. Deshalb führen Pop-, TV- und Sport-Stars die Rankings an. Das heißt: Sehr viele tragen mit ihrer Aufmerksamkeit zur Berühmtheit von sehr wenigen bei. Seelisch Nahrhaftes, also etwas, was der Seele guttut, kommt aus den sozialen Medien nicht zurück. Deshalb kann man die Desinformation, die Shitstorms und diese Aufwallung negativer Energie und Gehässigkeit als Anzeichen eines Hungeraufstandes deuten. Es geht längst nicht mehr um herausragende Leistungen, damit man berühmt wird. Bekanntheit ist Selbstzweck. Wofür könnte man die Kardashians bewundern?
Eine kulturpessimistische Sicht, oder?
Kulturpessimismus gibt es, seit es Kultur gibt. Das Schlimme ist immer das Neue. Doch die Medien lassen sich ja ausschalten, das hat jeder in der Hand. Meine sehr stille Hoffnung ist, dass eines Tages ein paar Junge aufstehen, revoltieren und ein Bewusstsein für ihr eigenes seelisches Dasein bekommen. Wir sind keine biologischen Maschinen, die sich durch künstliche Intelligenz ersetzen lassen. Menschen brauchen einander als Seelenverwandte.
Seelisch Nahrhaftes, also etwas, was der Seele guttut, kommt aus den sozialen Medien nicht zurück.
Was heißt das konkret?
Zwischenmenschliche Beziehungen sind ungeheuer tief und erfüllend, und es ist wunderbar, zu erleben, welch wichtige Rolle man selbst im Bewusstsein eines Gegenübers spielen kann. Um von anderen gemocht zu werden, muss man sich schon auch selbst mögen. Das magersüchtige It-Girl, das in den sozialen Medien erfolgreich ist, zahlt einen hohen Preis für die Aufmerksamkeit: Sie opfert ihre Gesundheit.
Trotzdem wächst die Ökonomie der Aufmerksamkeit weiter …
Ich fürchte ja. Abseits der großen Plattformen bilden sich gerade diverse neue Drehscheiben. Es sind die Schwarzmärkte der Vorurteile und der Desinformation. Ich vermute, dass in den Untergeschossen der sozialen Medien noch ein erhebliches Wachstumspotenzial lauert.