Stalin, Hitler und die Aufteilung Europas

Den 17. September 1939 würde Putin gern vergessen machen. Es war der Tag, als der Hitler-Stalin-Pakt zum Leben erwachte.

Die deutsche Luftwaffe im Oktober 1939 in Polen. Das Bild ist Teil eines Beitrags über den Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen.
Die deutsche Luftwaffe im Oktober 1939 in Polen. Der Nichtangriffspakt mit Stalin vom 23. August 1939 ermöglichte Hitler den Angriffskrieg: Am 1. September griff er Polen von Westen her an, während Stalin die Rote Armee am 17. September von Osten einmarschieren ließ. © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Komplizen. Der Hitler-Stalin-Pakt machte die beiden Diktaturen kurzzeitig zu Partnern, die ab 1939 ihre jeweiligen Expansionsbestrebungen durchsetzten.
  • Erbarmungslos. Am 1. September 1939 griff das NS-Regime Polen von Westen her an; am 17. September folgte die Invasion durch die Sowjetunion von Osten her.
  • Parallelen. Narrative wie etwa Befreiung und Minderheitenschutz spielten auch 1939 eine Rolle. Die Sowjetunion wollte nicht als Aggressor dastehen.
  • Neue Funktion. Für die Legitimation des Angriffskrieges gegen die Ukraine muss Russland die Erinnerung an eigene Verbrechen 1939-1945 unterdrücken.

„Der 22. Juni ist eines der tragischsten Daten in unserer Geschichte. An diesem Tag, vor 60 Jahren (…), begann der Große Vaterländische Krieg. Dieser Krieg war ein schrecklicher Dolchstoß für das sowjetische Volk.“

Mit diesen Worten begann Wladimir Putin seine erste offizielle Ansprache zum Tag des Gedenkens und der Trauer, die er am 22. Juni 2001, ein Jahr nach seinem Einzug in den Kreml als Präsident, an das russische Volk richtete.

An jedem 22. Juni, nur wenige Wochen vom Tag des Sieges am 9. Mai mit der pompösen Siegesparade in Moskau getrennt, wehen die Nationalflaggen im ganzen Land auf Halbmast. Russland gedenkt des Beginns der „Operation Barbarossa“, als Nazi-Deutschland die Sowjetunion angriff.

„Es war der Angriff auf die UdSSR, der die blutigste Phase des Zweiten Weltkriegs einleitete, eine Katastrophe, die das 20. Jahrhundert in ein ‚Vorher‘ und ein ‚Nachher‘ teilte – vor und nach dem Krieg“, fuhr Putin 2001 fort – 21 Jahre bevor er selbst den blutigsten Krieg in Europa im 21. Jahrhundert begann. „Die nationalsozialistische Aggression erreichte ihren Höhepunkt an Grausamkeit mit dem Angriff auf unser Land. (…) 27 Millionen Tote. Kein anderes Land zahlte einen so hohen Preis.“

Der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow bei der Unterzeichnung des Paktes in Moskau am 23. August 1939. Ganz links im Bild: Joachim von Ribbentrop, der außenpolitische Berater Hitlers. Im hellen Anzug Josef Stalin. Das Bild ist Teil eines Beitrags über den Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen.
Der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow bei der Unterzeichnung des Paktes in Moskau am 23. August 1939. Ganz links im Bild: Joachim von Ribbentrop, der außenpolitische Berater Hitlers. Im hellen Anzug Josef Stalin. Mit der Unterzeichnung wurde der Welt klar: Es steht ein Krieg bevor. © Getty Images

Das Narrativ, das Putin hier bemüht, hat den akademischen und öffentlichen Diskurs in Russland tief durchdrungen. Fast jedes russische Kind kann diesen Teil der Geschichte auswendig aufsagen. Auch im Westen sind ähnliche Erzählungen nicht unüblich. Es ist in der Tat eine unbestreitbare Tatsache, dass Nazideutschland ganz Europa – und insbesondere seinen östlichen Teil – mit unsäglichen Gräueltaten überzogen hat.

Was jedoch in Putins Rede von 2001 noch auffällt, ist, dass Putin hier einen Kampf um die „Wahrheit“ ausrief, der Russlands nationalen und internationalen Kurs für Jahrzehnte bestimmen sollte: „Wir werden für die Wahrheit über diesen Krieg kämpfen und uns allen Versuchen widersetzen, ihn zu verzerren und zu verändern, allen Versuchen, das Andenken derer, die ihr Leben verloren haben, zu entwürdigen und zu beleidigen. (…) Die Lehren der Geschichte sind dazu da, dass wir sie beherzigen und uns an sie erinnern, vor allem, wenn sie mit einem so unermesslich hohen Preis verbunden sind.“

Ein neues Gedächtnis erinnern

Putin kam in einer turbulenten Zeit an die Macht: 2000 kämpfte Russland noch mit dem Zusammenbruch des großen Reichs, das es über Jahrhunderte hinweg so beharrlich Stück für Stück aufgebaut hatte.
 
Das Ende des totalitären sowjetischen Apparats hatte aber nicht nur die Grenzen, sondern auch die eisernen Türen der Archive geöffnet, die der Kreml so sorgfältig bewacht hatte. Die freigegebenen Dokumente ermöglichten es vielen westlichen Wissenschaftlern, lang etablierte Erzählungen über die UdSSR in Frage zu stellen, insbesondere jene über den Beginn des Zweiten Weltkrieges.

Die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler wandte sich unter anderem auch dem Hitler-Stalin-Pakt zu. Jenem Pakt, den Moskau am Vorabend des Zweiten Weltkriegs mit Nazideutschland geschlossen hatte. Das Abkommen war für den Westen nicht neu. Die Welt war bereits 1939 überrascht worden. Die Zeitungen waren damals mit den entsprechend sensationellen Schlagzeilen und ironischen Karikaturen gefüllt.

Die Luftwaffe der Wehrmacht auf einem Flugfeld, vermutlich in Polen. Die Aufnahme stammt vom 12. September 1939. Das Bild ist Teil eines Beitrags über den Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen.
Die Luftwaffe der Wehrmacht auf einem Flugfeld, vermutlich in Polen. Die Aufnahme stammt vom 12. September 1939. © Getty Images

Was die Wissenschaft nun am meisten interessierte, waren die geheimen Zusatzprotokolle, die dem Pakt beigefügt waren und deren Existenz von Moskau jahrzehntelang geleugnet worden war. Diese Protokolle stellten die UdSSR und Nazideutschland auf die gleiche Stufe und enthüllten ihre gemeinsamen Pläne zur Aufteilung Europas. Diese Protokolle gefährden heute die russische historische „Wahrheit“.
 
Der Kampf, den Putin zu Beginn des neuen Jahrtausends ausrief, hat seither viele Schlachten gesehen, deren Rauch noch immer die Fakten über den Beginn des Krieges verschleiert und ihn in Mythen hüllt. Eine dieser Mythen wurde zur Grundlage des Neuanfangs in Russland, dessen Identität nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zerbröckelt war. Russland klammerte sich an die Kriegserinnerung als Quelle der Stabilität und des Stolzes, als Anleitung, um „richtig“ von „falsch“ zu unterscheiden. Viele waren bereit, sie wie eine heilige Reliquie zu schützen.

Diese Erinnerungskämpfe um den Beginn des Krieges erreichten 2021 einen ersten Höhepunkt, als die russische Regierung es offiziell verbot – sei es in öffentlichen Reden oder in den Medien –, die Ziele, Entscheidungen oder Handlungen der sowjetischen Führung und des Militärs mit denen Nazideutschlands und der Achsenmächte zu identifizieren oder zu vergleichen.

2022 unterzeichnete Präsident Putin dann ein Gesetz, das es ermöglichte, Personen und Organisationen, die öffentlich versuchten, die Handlungen der UdSSR während des Zweiten Weltkriegs mit denen von Nazideutschland gleichzusetzen mit Verwaltungsstrafen zu belegen oder sogar zu inhaftieren.

Heute wagen es nur wenige, auf den Elefanten im Raum hinzuweisen und wichtige Fragen zu stellen: War es nicht Moskau, das neben Berlin den Krieg überhaupt erst begonnen hat? Wie gewinnt man einen Krieg gegen einen Partner, mit dem man ihn mit angezettelt hat? Und was noch wichtiger ist – abgesehen von den unbestreitbar schrecklichen Verbrechen Nazideutschlands, die zum Tod von 27 Millionen Sowjetbürgern führten, wie Putin uns so selbstbewusst in Erinnerung ruft, – wie viele dieser Menschenleben wurden durch die grausamen und inkompetenten Kriegsentscheidungen Stalins vernichtet?

Expansive Interessen

Egal, wie fest die russischen Geschichtsbücher den 22. Juni 1941 als den Tag des Kriegseintritts markieren: In Wirklichkeit trug Moskau dazu bei, den Krieg überhaupt erst zu entfesseln. Das eigentliche Datum des Kriegseintritts der UdSSR ist der 17. September 1939, als die sowjetischen Streitkräfte von Osten her in Polen einmarschierten. Nur zweieinhalb Wochen, nachdem die Nazi-Luftwaffe begonnen hatte, Polen von Westen her zu bombardieren.

Alles begann am Abend des 23. August 1939, als der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop im Kreml eintraf, wo er von Stalin und dem Außenminister Wjatscheslaw Molotow persönlich begrüßt wurde.

Nach gescheiterten Verhandlungen mit Frankreich und Großbritannien hatte sich die Sowjetunion, die bestrebt war, sich der Staaten zu bemächtigen, die in ihrer „Interessensphäre“ lagen, an Deutschland gewandt, das seinerseits bereits dabei war, den Einmarsch in Polen vorzubereiten, sich aber über die Reaktion der UdSSR noch im Unklaren war. Berlin wollte einen Zwei-Fronten-Krieg vermeiden. Moskau wiederum versuchte, einen möglichen Konflikt mit Deutschland hinauszuzögern, während es sich Gebietsgewinne in Osteuropa sicherte.

Im Nichtangriffspakt verpflichteten sich beide Parteien, Aktionen zu koordinieren, im Falle eines Krieges, an dem eine der Parteien beteiligt ist, neutral zu bleiben und keine Bündnisse einzugehen, die direkt oder indirekt gegen die andere Partei gerichtet sind.

Der Vertrag beeinhaltet außerdem ein jahrzehntelang geheim gehaltenes Protokoll, das die sowjetische und die deutsche „Einflusssphäre“ in Nord- und Osteuropa festlegte und den Kontinent effektiv zwischen zwei totalitären Mächten aufteilte.

Am nächsten Morgen, dem 24. August, veröffentlichten die Prawda und die Iswestija Nachrichten über den neu unterzeichneten Vertrag, begleitet von dem inzwischen berühmten Foto, das Molotow bei der Unterzeichnung des Abkommens zeigt, während Stalin lächelnd hinter ihm steht. Die geheimen Bestimmungen wurden natürlich nicht erwähnt, aber der Ehrgeiz in Stalins leuchtenden Augen deutete kühn an, was unter der Oberfläche lag.

Die Nachricht versetzte die Welt in Erstaunen und ließ sie im Ungewissen. Viele erkannten damals, dass der Pakt Hitler tatsächlich die Hände gebunden und ihm den Weg nach Warschau geebnet hatte. Der Krieg wurde real und unausweichlich. Ribbentrop verließ Moskau überstürzt, kehrte aber einen Monat später zurück, als der Krieg bereits im Gange war und neue Grenzen in Osteuropa gezogen wurden.

Bloodlands

Am verhängnisvollen Morgen des 1. September 1939 überfiel Nazi-Deutschland Polen und stürzte Europa in einen sechsjährigen Albtraum. Rund 1,5 Millionen deutsche Soldaten begannen einen brutalen Eroberungskrieg, der unsägliche Gräueltaten auf polnischem Boden zur Folge hatte. Während die Besetzung Polens durch die Nationalsozialisten aus zahlreichen Blickwinkeln gründlich untersucht und erörtert worden ist, bleiben die Geschehnisse im östlichen Teil des Landes manchmal außen vor.

Am 17. September 1939 überquerten fast eine halbe Million Soldaten der Roten Armee die polnische Grenze und starteten eine zweite Invasion aus dem Osten. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Invasionen lag in der Art und Weise, wie die beiden Besatzer ihr Vorgehen gestalteten.

Das Bild ist Teil eines Beitrags über den Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen.
Katyn im April 1943. Die deutschen Soldaten entdeckten das Massengrab in dem Wald in der Nähe von Smolensk und ließen die Leichname exhumieren. © Getty Images

Während Berlin offen den Krieg erklärte, verbarg Moskau seine Aggression in der inzwischen allzu vertrauten Rhetorik des „Minderheitenschutzes“. „Es ist auch unmöglich, von der sowjetischen Regierung eine gleichgültige Haltung gegenüber dem Schicksal der in Polen lebenden blutsverwandten Ukrainer und Weißrussen zu verlangen (…). Die Sowjetregierung hält es für eine heilige Pflicht, den ukrainischen und weißrussischen Brüdern in Polen eine helfende Hand zu reichen“, erklärte Wjatscheslaw Molotow in einer Rundfunkansprache an die Sowjetbürger, als die Rote Armee gerade die polnische Grenze überschritt.

Es sind diese Narrative, die immer noch allzu oft eine klare Anerkennung der Rolle der Sowjetunion bei der Auslösung des Krieges verhindern, da sie sich in das historische Gedächtnis vieler Staaten eingebrannt haben und heute durch Russlands gewaltige Propagandakampagne aufrechterhalten werden.

Während Moskau sich als edler Beschützer darstellte, waren die Gräueltaten, die es Polen verübte, kaum weniger brutal als die der Nazis. „Bloodlands“ taufte der Historiker Timothy Snyder jene Teile Osteuropas. Polen war das Gebiet zwischen Hitler und Stalin, wo staatlicher Terror sein schrecklichstes Ausmaß erreichte.

Ähnlich wie der westliche Teil des Landes litt auch das sowjetisch besetzte Ostpolen unter Massenrepression und Deportationen. Nach Angaben des Instituts für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) fielen bis Juni 1942 rund eine Million polnische Bürger – darunter auch Juden, Weißrussen, Ukrainer und Tschechen – der sowjetischen Repression zum Opfer.

Die Terrorkampagne der Sowjets erreichte 1940 mit dem Massaker von Katyn ihren Höhepunkt, als Stalin heimlich die Hinrichtung von etwa 4.500 polnischen Kriegsgefangenen anordnete. Die meisten von ihnen waren Offiziere der polnischen Armee sowie Angehörige der Intelligenz und der nationalen Elite, die nach dem sowjetischen Einmarsch im September 1939 gefangen genommen worden waren. Ironischerweise waren es die nationalsozialistischen Besatzer, die 1943 das Massengrab in der Nähe von Smolensk entdeckten und der Weltöffentlichkeit zugänglich machten.

Katyn ist einer von mehreren Orten in Belarus, der Ukraine und Russland, wo im Frühjahr 1940 Massenmorde stattfanden. Insgesamt wurden etwa 22.000 bis 25.000 Menschen ermordet.

Brest, die doppelte Heldenfestung

Die polnische Armee konnte nicht an zwei Fronten kämpfen, und die sowjetischen Truppen besetzten rasch die östlichen Gebiete des damaligen Polens, und waren nur wenige Tage nach dem Einmarsch bereit, sich auf der anderen Seite mit Nazi-Soldaten zu messen.

Währenddessen rückten die Nazis auf die polnische Stadt Brześć Litewski (heute Brest, Belarus) vor, in der sich die berühmte Festung Brest befindet. Am 14. September 1939 eroberten deutsche Einheiten die Stadt, doch ihr Angriff auf die Festung wurde abgewehrt. Drei Tage lang hielten die polnischen Verteidiger stand, und in der Nacht zum 17. September befahlen die polnischen Offiziere, die Festung zu verlassen.

Die deutsche Wehrmacht im Juni 1942 in Charkow. Sie hinterließ vor allem in der Ukraine sogenannte „Feuerdörfer“. Das Bild ist Teil eines Beitrags über den Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen.
Die deutsche Wehrmacht im Juni 1942 in Charkow. Sie hinterließ vor allem in der Ukraine sogenannte „Feuerdörfer“. © Getty Images

Am 20. September 1939 einigten sich die deutsche und die sowjetische Regierung auf eine vorläufige Demarkationslinie, und die deutschen Truppen begannen mit der Übergabe mehrerer zuvor eroberter ukrainischer und belarussischer Städte an die UdSSR, darunter auch Brest. Am nächsten Morgen näherten sich sowjetische Einheiten der Stadt, und am folgenden Tag wurden Brest und die Festung Brest feierlich der sowjetischen Militärkontrolle übergeben. Dieser Moment wurde mit einer gemeinsamen deutsch-sowjetischen Militärparade in Brest-Litowsk begangen – ein Ereignis, das das moderne Russland herunterzuspielen versucht, da es in krassem Gegensatz zu dem heroischen Bild der Festung Brest steht, das im russischen und belarussischen Nationalgedächtnis verankert ist.

Es war genau diese Festung, die am 22. Juni 1941 um 4 Uhr morgens als einer der ersten Orte von den Nazis beschossen wurde – die Verteidigung der Brester Festung war die Eröffnungsschlacht der Operation Barbarossa. In der sowjetischen Propaganda wurde die Festung zu einem starken Symbol für den Heroismus und die Widerstandsfähigkeit des sowjetischen Militärs und erhielt den einzigartigen Titel „Heldenfestung“.

Ein zweiter Besuch in Moskau

Nach der erfolgreichen Besetzung Polens sahen sich die nationalsozialistischen und sowjetischen Behörden gezwungen, ihre bestehenden „Einflusssphären“ zu überarbeiten und die notwendigen Anpassungen vorzunehmen.

Daher reiste der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop am 28. September 1939 nach Moskau, um mit Molotow den deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag zu unterzeichnen. Wie das vorherige Abkommen wurde auch dieser Vertrag durch Geheimprotokolle ergänzt. Im Rahmen dieser geheimen Vereinbarungen behielt Deutschland den größten Teil der von ihm eroberten polnischen Gebiete, während Litauen, das ursprünglich zum deutschen Machtbereich gehörte, unter sowjetische Kontrolle gestellt wurde.

Das Bild ist Teil eines Beitrags über den Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen.
Rouen in Frankreich unter deutscher Besatzung im März 1943. © Getty Images

Zwei Jahre nach ihren erfolgreichen Gebietserwerbungen begannen beide Diktatoren, die Belastung ihrer unruhigen Allianz zu spüren. Die Spannungen zwischen Hitler und Stalin waren nie ein Geheimnis gewesen. Beide wussten, dass die von ihnen unterzeichneten Pakte nicht mehr als eine vorübergehende Zweckehe waren. Der endgültige Zusammenprall der beiden totalitären Mächte war weithin erwartet worden, und beide Seiten bereiteten sich im Stillen auf den Moment des Zusammenstoßes vor.

An diesem schicksalhaften Tag reichten sich Ribbentrop und Molotow erneut die Hand, bekräftigten ihre Pläne zur Aufteilung Osteuropas und machten sich daran, diese Ambitionen in geopolitische Realität umzusetzen. Während sich die Aufmerksamkeit der Welt auf Hitlers Feldzüge im Westen richtete, begann Stalin, seine eigenen im Osten voranzutreiben. Im Winter 1939/40 begann die UdSSR einen Krieg gegen Finnland und besetzte innerhalb eines Jahres die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen.

Am 22. Juni 1941 – vor genau 84 Jahren – kam Hitler Stalin zuvor und startete die Operation Barbarossa, mit der er die Sowjetunion überfiel. Trotz mehrfacher Warnungen der Alliierten über die militärischen Vorbereitungen Deutschlands wurde Stalin von der Invasion überrascht. Die Berichte über seine unmittelbare Reaktion variieren zwar, unbestritten ist jedoch, dass er kurzzeitig wie gelähmt war und sich in seine Datscha außerhalb Moskaus zurückzog.

Folglich war es Molotow, der sich an diesem Tag an das sowjetische Volk wandte, und es war seine Rede, die am nächsten Morgen in der Prawda neben einem überragenden Porträt Stalins auf der Titelseite veröffentlicht wurde. Trotz der katastrophalen Bedrohung, der sich die UdSSR nun gegenübersah, strotzten die Schlagzeilen in den Zeitungen nur so vor Beschwörungen eines unvermeidlichen großen Sieges und riefen die Bürger auf, ihre heilige Pflicht zum Schutz des Vaterlandes zu erfüllen.

„Jeder von uns muss von sich selbst und anderen Disziplin, Ordnung und Selbstaufopferung verlangen, wie es sich für einen wahren sowjetischen Patrioten gehört, um alle Bedürfnisse der Roten Armee, der Marine und der Luftwaffe zu befriedigen und den Sieg über den Feind zu garantieren“, verkündete Molotow in seiner Ansprache. Bald darauf kehrte Stalin auf den Fahrersitz zurück und brachte eine Reihe unmenschlicher Entscheidungen mit sich, die – ebenso wie Hitlers Aktionen – Millionen der eigenen Bürger das Leben kostete.

Der Preis des „Großen Sieges“

Das erste, was auffällt, wenn man die erste Kriegsausgabe der Prawda in die Hand nimmt, ist das völlige Fehlen von Informationen über die Evakuierung der Zivilbevölkerung. Statt zu erläutern, wie der Staat die Bevölkerung schützen würde, wurde der Schwerpunkt darauf gelegt, wie diese Bevölkerung den Staat zu schützen habe. Jeder Artikel war darauf ausgerichtet, die Bürger für das Ziel eines „Großen Sieges“ zu mobilisieren.

Während des gesamten Krieges räumte die sowjetische Regierung der Evakuierung strategischer Ressourcen und industrieller Ausrüstungen Priorität ein, nicht aber der Evakuierung der einfachen Bevölkerung.

Soldaten stehen vor einer brennenden Häuserzeile und trinken aus Feldflaschen Wasser. Die Wehrmacht in Witebsk, Belarus, im August 1941. Die sich zurückziehenden Soldaten der Roten Armee hatten den Befehl, nichts zurückzulassen, was den Deutschen nützen könnte. Das Bild ist Teil eines Beitrags über den Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen.
Die Wehrmacht in Witebsk, Belarus, im August 1941. Die sich zurückziehenden Soldaten der Roten Armee hatten den Befehl, nichts zurückzulassen, was den Deutschen nützen könnte. © Getty Images

Eines der eindrucksvollsten Beispiele für diese kaltschnäuzige Politik war die Verteidigung von Sewastopol. Am 6. November 1941 befahl Stalin, alle Wertgegenstände aus der Stadt zu entfernen. Am folgenden Tag erließ die Stawka (sowjetisches Oberkommando) die Direktive, dass Sewastopol unter keinen Umständen aufgegeben werden dürfe. Admiral Filipp Oktjabrski befand sich zu diesem Zeitpunkt sicher im Kaukasus. Er erhielt sofort den Befehl, zurückzukehren und das Kommando über die Verteidigung der Stadt zu übernehmen. Seine Rückkehr war jedoch nur von kurzer Dauer. Seine anschließenden Handlungen ließen darauf schließen, dass ihm nicht das Schicksal der Stadt, sondern seine eigene Sicherheit am Herzen lag.

Am 30. Juni 1942, als die Verteidigungsanlagen von Sewastopol zusammenbrachen, meldete Oktjabrski, dass seine Truppen erschöpft seien und bat um die Erlaubnis, „Schlüsselpersonal“ zu evakuieren. Moskau genehmigte dies. Noch in derselben Nacht veranlasste er seine eigene rasche Abreise – zusammen mit 222 Beamten – und ließ Tausende erschöpfte Kämpfer zurück.

Viele Soldaten hatten Berichten zufolge keine Ahnung, dass die Stadt aufgegeben wurde, und waren schockiert, als sie die deutschen Truppen bereits in der Stadt vorfanden. Die Reste der Roten Armee zogen sich ans Ufer des Schwarzen Meers zurück und hofften auf Rettung, die nicht kam. Deutsche Artillerie und Flugzeuge beschossen die Küstenlinie. Die Soldaten, die merkten, dass sie im Stich gelassen worden waren, wurden dem Tod überlassen – oder der Gefangennahme.

Das zerstörte Leningrad (Sankt Petersburg) im Januar 1942. Die deutsche Wehrmacht setzte bei der Belagerung von Leningrad gezielt Hunger als Waffe ein. Die Belagerung dauerte zwei Jahre und vier Monate – vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Das Bild ist Teil eines Beitrags über den Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen.
Das zerstörte Leningrad (Sankt Petersburg) im Januar 1942. Die deutsche Wehrmacht setzte bei der Belagerung von Leningrad gezielt Hunger als Waffe ein. Die Belagerung dauerte zwei Jahre und vier Monate – vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. © Getty Images

Es ist umstritten, ob die Leningrader Blockade weniger verheerend hätte ausfallen können, wenn Stalin der Evakuierung der Zivilbevölkerung mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Das sowjetische Oberkommando hat nie einen umfassenden Evakuierungsplan ausgearbeitet.

Der Historiker Laurence Rees stellt fest, dass Stalin wütend reagierte, als er vor der Möglichkeit gewarnt wurde, dass die Nazis sowjetische Zivilisten als menschliche Schutzschilde für ihre vorrückenden Truppen benutzen könnten. Er soll geantwortet haben, dass solche Menschen ohne Zögern oder Schuldgefühle erschossen werden sollten. Krieg, so betonte er, sei gnadenlos zermalme jeden, der Schwäche oder Mitgefühl zeigt. Stalin ordnete an, dass es keine Gnade geben dürfe – nicht für die Nazis und nicht für diejenigen, die in ihrem Dienst eingesetzt wurden.

Es stellt sich auch die Frage nach Stalingrad und warum die Stadt nicht evakuiert wurde, als noch Zeit dafür war. Viele Historiker glauben, dass diese Entscheidung auf Stalins Überzeugung beruhte, dass die Armee härter kämpfen würde, wenn sie wüsste, dass ihre Mitbürger – Frauen, Kinder und ältere Menschen – noch in der Stadt waren. In seinen Augen war die Anwesenheit von Zivilisten keine Belastung, sondern eine Motivation, ein psychologischer Anker, der die Soldaten an das Schlachtfeld binden sollte.

Die vielleicht schrecklichste Entscheidung war jedoch die Umsetzung der Politik der verbrannten Erde durch den Kreml; eine Strategie, bei der den sich zurückziehenden Streitkräften befohlen wurde, alles zu zerstören, was sich für den Feind als nützlich erweisen könnte.

Soja Kosmodemjanskaja vermutlich am 29. November 1941, dem Tag ihrer Hinrichtung, in Petrischtschewo, dem Dorf, dessen Häuser sie anzünden sollte. Das Bild ist Teil eines Beitrags über den Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen.
Soja Kosmodemjanskaja vermutlich am 29. November 1941, dem Tag ihrer Hinrichtung, in Petrischtschewo, dem Dorf, dessen Häuser sie anzünden sollte. © Getty Images

Die UdSSR setzte diese Politik zu Beginn des Krieges aggressiv ein, nicht um Menschenleben zu retten, sondern um den Vormarsch des Feindes zu verlangsamen und ihn zu schädigen, indem sie ihm in den besetzten Gebieten nichts mehr übrig ließ. Diese Taktik war bereits einige Jahre zuvor im Winterkrieg mit Finnland erprobt worden. Anders als in der UdSSR evakuierte die finnische Regierung jedoch die Zivilbevölkerung. Stalin hingegen ließ die sowjetischen Bürger zurück, um sie mit den Nazis oder durch deren Hand leiden zu lassen.

Es ist in dem Zusammenhang bemerkenswert, dass Russland immer noch Soja Kosmodemjanskaja verherrlicht, eine der Partisanen, die Stalins Politik der verbrannten Erde durchführten. Auf Befehl Nr. 428 wurde sie ausgesandt, um Dörfer niederzubrennen, darunter auch Häuser sowjetischer Zivilisten. Als sie von einem Einheimischen beim Anzünden eines Hauses ertappt wurde, wurde sie später von den Nazis hingerichtet. Obwohl ihre Mitbürger sie beschuldigten, ihrem eigenen Volk geschadet zu haben, machte der Staat sie zu einer Nationalheldin, ein Vermächtnis, das bis heute in Ehren gehalten wird.

„Keinen Schritt zurück!“

Wie Timothy Snyder treffend feststellt, „machten die Nazi- und Sowjetregime Menschen zu Nummern“. Dem kann man nur schwerlich widersprechen, vor allem wenn man bedenkt, wie beide Staaten mit dem Leben ihrer eigenen Soldaten umgingen.

Im August 1941 erließ die sowjetische Regierung aus Frustration über die anhaltenden Rückzüge den Befehl Nr. 270 „Über die Verantwortung des Militärpersonals für die Übergabe und das Zurücklassen von Waffen an den Feind“.

Darin wurde erklärt, dass jeder Kommandeur oder politische Offizier, der sich ergab, als Verräter zu betrachten sei und dass seine Familie verhaftet oder ihm die staatliche Unterstützung entzogen werden könne. Von den Soldaten wurde erwartet, dass sie bis zum Tod kämpften. Ein Rückzug, selbst aus taktischen Gründen, konnte als Verrat gewertet werden.

Die fatalen Folgen dieser Politik wurden in der Schlacht um Kiew deutlich. Trotz des massiven Drucks der Nazis verbot Stalin den Rückzug. Als General Michail Kirponos schließlich die Erlaubnis zum Rückzug erhielt, war es zu spät – die sowjetischen Streitkräfte waren bereits eingekesselt. Fast eine halbe Million Soldaten der Roten Armee saßen in einer Falle fest. Viele wurden entweder getötet oder gefangen genommen.

Im Juli 1942 wurde der Befehl Nr. 270 durch eine noch drakonischere Direktive ergänzt und verschärft: Befehl Nr. 227, bekannt unter dem Titel „Keinen Schritt zurück“, war ein verzweifelter Versuch, die Disziplin wiederherzustellen und die demütigenden sowjetischen Rückzüge zu stoppen. Nr. 227 verbot jeglichen unerlaubten Rückzug und ordnete die Bildung so genannter „Blockierkommandos“ an. Diese Einheiten, wurden hinter den sowjetischen Linien stationiert und hatten den Befehl, jeden Soldaten zu neutralisieren, der ohne Befehl zu fliehen oder sich zurückzuziehen versuchte.

Jakow Dschugaschwili, der Sohn von Josef Stalin kurz nach seiner Festnahme im Juli 1941 mit Soldaten der deutschen Wehrmacht. Dschugaschwili starb am 14. April 1943 im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg. Das Bild ist Teil eines Beitrags über den Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen.
Jakow Dschugaschwili, der Sohn von Josef Stalin kurz nach seiner Festnahme im Juli 1941. Dschugaschwili starb am 14. April 1943 im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg. © Getty Images

Eine der anschaulichsten und aufschlussreichsten Episoden des Großen Vaterländischen Krieges ist schließlich die Gefangennahme von Stalins ältestem Sohn, Jakow (Jascha) Dschugaschwili. Er wurde im Sommer 1941, während des chaotischen Rückzugs der Roten Armee, von den Deutschen gefangen genommen. Stalin geriet in einen Wutanfall. Er konnte nicht begreifen, wie sein eigener Sohn sich gefangen nehmen lassen konnte, anstatt sich das Leben zu nehmen, vor allem, da er, Stalin, sowohl den Rückzug als auch die Kapitulation verboten hatte. Als die Nazis 1943 vorschlugen, Jakow gegen den deutschen Feldmarschall Friedrich Paulus auszutauschen, der in Stalingrad gefangen genommen worden war, lehnte Stalin ohne zu zögern ab.

Opfer oder Täter? Man mag argumentieren, dass Stalin und seine Regierung in einem Krieg um das Überleben der Sowjetunion mit gnadenloser Entschlossenheit handeln mussten. Daran mag etwas Wahres dran sein. Doch die Grausamkeit wurde nicht 1941 geboren. Sie war schon lange vorher da. Sicher ist, dass es an der Zeit ist, über die seit langem bestehenden sowjetischen Mythen hinauszugehen und sich nüchtern den unbequemen Fragen zu stellen, die noch immer bestehen. Wenn Moskau half, Krieg zu beginnen, warum wurde es dann nie dafür zur Rechenschaft gezogen?

×

Conclusio

Der Hitler-Stalin-Pakt und die damit verbundene Rolle der Sowjetunion beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sind bekannte, aber unterbelichtete Aspekte. Die Erinnerung an die anfängliche Komplizenschaft von Sowjetunion und Nazideutschland wird in Russland zugunsten einer glorifizierenden Erinnerungskultur zurückgedrängt. Die Aussichten für eine Aufarbeitung der Vergangenheit sind denkbar schlecht. Allerdings ist das Wissen um die historischen Narrative bedeutsam, um aktuelle Indienstnahmen der Geschichte durch Putin klarer erkennen und zurückweisen zu können.

Mehr über Russland

Mehr im Newsletter