Die Macht der Verdrängung

Nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine ist der Westen gerade wieder dabei, die imperiale Obsession Putins zu unterschätzen. Ein Podcast mit der Historikerin Franziska Davies.

Foto von Wladimir Putin und Gerhard Schröder, die ein blondes junges Mädchen mit einer Deutschlandflagge in der Hand anstarren. Das Bild illustriert einen Beitrag über die Ukraine.
Kaliningrad am 21. Juni 2005: Bei der 750-Jahr-Feier der Stadt Kaliningrad wurde Noch-Bundeskanzler Gerhard Schröder extra begrüßt, dabei war auch Jacques Chirac, der Präsident Frankreichs, zu Gast. 2005 wurde die Pipeline Nord Stream beschlossen. © Getty Images

Dass Wladimir Putin eine Geschichtsobsession hat, ist spätestens seit seinem Interview mit Tucker Carlson der ganzen Welt bekannt. Franziska Davies, Historikerin an der LMU München, hat eine Kurzfassung: „Putin hält die Existenz der Ukraine für einen Fehler. Diesen will er korrigieren.“ Und sie macht Hoffnung: „Auch Russland ist nicht unbesiegbar.“

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Dass Putin die Demokratie systematisch zerstört, hat man lange gesehen.

Als Wladimir Putin, der sein Netzwerk während seiner Geheimdienstjahre aufbaute, 1999 Ministerpräsident und 2000 Präsident wurde, war die Demontage der Demokratie in Russland bereits in vollem Gang. Zugleich suchte Putin, der in den 1990er Jahren austestete, wie sich Konflikte mit Gewalt lösen lassen, und wie man ein oligarchisches System etabliert, den engen Kontakt zur westlichen Politik.

Von Boris Jelzin und dem Rechtsextremisten Alexandr Dugin sowie aus den Erfahrungen der 1980er Jahre wusste er bereits, dass sich Öl und Gas eignen, um die Geopolitik nach eigenem Willen zu gestalten. „Das Putin systematisch demokratische Ansätze zerstört hat, hatte man 2022 schon lang gesehen.“

Die Desinformation war systematisch und fiel auf fruchtbaren Boden, weil Russland immer als der zentrale Player in Osteuerropa gesehen wurde und die Ukraine ein blinder Fleck war. Vor allem auch die antiwestliche Propaganda verfing sehr gut. Diese Verdrängung und die Kooperation hat ein Kollege von mir auch als mentalen Hitler-Stalin-Pakt bezeichnet.“

Tschetschenien, Georgien, Ukraine?

Die Russische Föderation entstand 1991 nicht aus politischem Willen der Bevölkerung, sondern als Produkt eines Zerfalls. Als sich auch die teilautonome Republik Tschetschenien trennen wollte, reagierte Boris Jelzin mit Gewalt. Der Tschetschenienkrieg (1994-1996 und 1999-2000) zerstörte zivilgesellschaftliche Bestrebungen, legte das Land in Schutt und Asche und etablierte eine Diktatur.

Wie aggressiv Russland ist, wollten die politischen Eliten nicht wahrhaben. Das war die Macht der Verdrängung.

Der Westen schwieg dazu, kaufte weiterhin russisches Gas und begann mit dem Bau von Pipelines. 2008 in Georgien lieferte die westliche Politik erneut einen Beweis, dass das Statement Egon Bahrs anlässlich der Solidarność in Polen immer noch galt: Frieden ist wichtiger als Polen. Als die russische Föderation Teile Georgiens 2008 annektierte, blieb das folgenlos. Erst wenige Monate zuvor hatte man den NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens abgewiesen – unter der Federführung Frankreichs und Deutschlands.

Unterdessen blieb auch die russische Zivilbevölkerung, die sich gegen das Oligarchensystem zur Wehr setzte und Demokratisierung verlangte, ohne Unterstützung durch den Westen.

Aufnahme einer Stadt und eines zugefrorenen Gewässers im Schnee. Mehrere Menschen gehen im Schnee und ziehen ihren Besitz auf einem Schlitten hinter sich her. Das Bild ist Teil eines Beitrags über Russland und die Ukraine.
Ein undatiertes Foto aus dem ersten Tschetschenienkrieg (1994 bis 1996): Einwohner von Grosny fliehen aus ihrer Stadt. © Getty Images

Wer wissen wollte, konnte das, erläutert Franziska Davies. So war etwa das Buch Die Wahrheit über den Krieg von Anna Politkowskaja bereits 2004 in deutscher Übersetzung erschienen. „Ab dann war klar wie dieses Regime tickt.“ Gute Beziehungen zu Moskau seien insbesondere Deutschland immer wichtiger gewesen als Selbstbestimmung und Demokratie, so Davies.

Russland, die Ukraine und die Krym

Die Annexion der Krym war eine Antwort auf die Demokratie-Bewegung in der Ukraine. Deren Zivilbevölkerung hatte 2014 bereits mehrmals die Aushöhlung von Demokratie abgewehrt, etwa in der Orangen Revolution. Während die Ukraine gegen Korruption und für Selbstbestimmung auftrat, radikalisierte sich Putin. Neben Hasspropaganda, Cyberangriffen, politischer und militärischer Gewalt (Annexion der Krym sowie Einmarsch in Donbas und Luhansk) wurde die Geschichte und ihre Fälschung ein Machtmittel Putins.

Inzwischen ist es Putins „feste Ideologische Überzeugung, dass Russland nur ein Imperium sein kann“, so Davies. „Er ist überzeugt, dass die Existenz der Ukraine als eigenständiger Staat ein historischer Fehler ist, den er rückgängig machen muss.“

Putin konnte den Mythos Krym erfolgreich mobilisieren. Für Davies eine Folge des imperialen Mindset gegenüber der Ukraine, das auch in der russischen Gesellschaft verbreitet sei. Allerdings wurde Widerstand in Russland auch aktiv unterdrückt. Neben einer systematischen Repression gegen kritische Medien wurden Kritiker der Annexion verfolgt und inhaftiert, etwa der Regisseur Oleh Senzow.

Die Ukraine wiederum erlebte nun insbesondere die Krymtartaren, die durch die Deportationen Stalins zur Minderheit auf der Krym geworden waren, als ihre Verbündeten. Eine Bevölkerungsgruppe, die für das Selbstverständnis der Ukraine als Nation von großer Bedeutung ist.

Russland, die Ukraine und die Pipelines

Die größten Fehler, die die westliche Politik aus der Sicht von Franziska Davies machte, begannen bereits in den 1970er und 1980er Jahren mit der These vom Wandels durch Handel. Auch nach dem Mauerfall suchte die deutsche Politik die Nähe und das Wohlwollen Moskaus. So sind die gemeinsamen Saunabesuche von Helmut Kohl und Boris Jelzin berüchtigt und einer der Startpunkte der Energieabhängigkeit Europas, insbesondere von Erdgas aus Russland.

Alexei Miller und Rainer Seele umarmen sich und blicken einander in die Augen. Im Hintergrund Wladimir Putin und der damalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz neben einer Österreich-Fahne. Rainer Seele hält einen Vertrag in den Händen.
Wien, am 5. Juni 2018: Die Umarmung von Alexei Miller (links) und Rainer Seele (rechts) besiegelt die Verlängerung der Gaslieferverträge bis 2040. Im Hintergrund Wladimir Putin und der damalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz. © Getty Images

„Wir konnten in den 1980er Jahren sehen, dass die Ostpolitik auf die autoritären Staaten ausgerichtet ist, nicht auf die Zivilgesellschaft, die unter diesen autoritären Staaten nicht leben wollten.“ Noch 2022 beharrte Olaf Scholz auf dem zuerst von Gazprom und dann von Angela Merkel gebrauchten Mantra vom reinen Wirtschaftsprojekt Nord Stream. Tatsächlich konnte Russland damit die Ukraine umgehen, über verschiedene Gasspeicher und Unternehmen war Gazprom 2014 ohnedies fest verankert in Wirtschaft und Infrastruktur in Deutschland und Österreich – allen Protesten, etwa in Polen und in Litauen, zum Trotz.

Wie geht es weiter?

Während Davies die Wahrscheinlichkeit, dass Putin auch Nachbarländer – etwa die baltischen Staaten, Polen oder sogar Finnland – angreift, die Mitglied der NATO sind, für eher gering hält würde sie auch dieses Szenario dennoch nicht ausschließen wollen. Sie mahnt die europäische Politik zur Vorsicht: „Der Krieg ist eine Kampfansage an die EU. Es ist eine vollkommen unrealistische Hoffnung, dass man durch eine Art von Minsk III (Abkommen, die 2014 getroffen wurden) das Problem lösen könnte. Das wäre wieder eine Rückkehr zu der Zeit vor Februar 2022 und erneut die Weigerung, die unschöne Realität anzuerkennen.“

Derzeit werden die Kosten der Waffenlieferungen diskutiert. In den USA stand Präsident Biden deswegen unter starkem Druck, in der Migrationspolitik Zugeständnisse machen zu müssen und etwa die Grenze zu Mexiko mit weiteren Zäunen zu verstärken. Auch in Deutschland mehren sich Stimmen, die nach wie vor Dialog und Verhandlungen als Lösung in dem Krieg propagieren, von Teilen des Parteienspektrums wird auch die Unterstützung für ukrainische Geflüchtete problematisiert.

Franziska Davies findet zum Schluss auch optimistische Worte (auch wenn sie neben Donald Trump die Kriegsmüdigkeit in der westlichen Bevölkerung für die drängendsten Probleme hält): „Man kann gegen eine Atommacht einen Krieg gewinnen. Russland ist nicht unbesiegbar. Fatalismus ist unangebracht. Wir müssen uns klar machen, was verhindert wurde: Dass eine demokratisch gewählte Regierung in der Ukraine gestürzt worden und vermutlich ermordet worden wäre.“

Über Franziska Davies

Foto von Franziska Davies mit verschränkten Armen vor einer gelben Wand.
Franziska Davies. © Davies

Franziska Davies forscht und lehrt als Osteuropa-Historikerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Russlands im 19. und 20. Jahrhundert und die Geschichte der Ukraine. Sie ist die Autorin mehrerer Bücher und die Herausgeberin des Buches Die Ukraine in Europa. Traum und Trauma einer Nation. Für den Pragmaticus schrieb sie den Beitrag „Der hohe Preis der Würde“.

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