Das stete Rauschen des Imperiums

Im 19. Jahrhundert erfand das imperiale Russland für die Ukraine eine russische Identität. Diese Erzählung hält sich bis heute – und legitimiert den Krieg.

Darstellung eines Hafens mit großen Fregatten und Segelschiffen bei Nacht. Es handelt sich um das Bild „Ansicht von Odessa im Mondlicht“ von Ivan Konstantinovich Aivazovsky.
„Blick über Odessa bei Mondschein“ von Ivan Konstantinovich Aivazovsky, 1896. Aivazovsky wurde 1817 in eine armenische Familie im russischen Imperium auf der Krim geboren. Sein Nachname ist russifiziert und lautet eigentlich Aivazian. Das Metropolitan Museum of Art in New York weist ihn seit Anfang 2023 als ukrainischen und nicht mehr als russischen Künstler aus. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Imperial. Die Erfindung einer russischen Identität für die Ukraine begann ab Mitte des 18. Jahrhunderts unter Katharina II.
  • Kultur. Ab dem 19. Jahrhundert wurde die russische Sprache zum Instrument der Vereinnahmung der ukrainischen Kultur und ihrer Negierung.
  • Einfluss. Die Vorstellung der Ukraine als „kleines Russland“ beeinflusst noch heute das politische und öffentliche Denken über die Ukraine.
  • Wirkung. Die Idee, die Ukraine sei russisch, lässt in Politik und Medien permanent Zweifel am Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung aufkommen.

Jahrhundertelang hat die russische Perspektive die Meinungen westlicher Experten und der Öffentlichkeit von der Ukraine gelenkt. Der Kreml erreichte dies, indem er seine imperiale Version von Geschichte und Identität innerhalb der Ukraine konsequent durchsetzte und indem er die Nation im Ausland als ein „Russland im Kleinen“ darstellte. Dies führte zu dem Phänomen, dass viele westliche Wissenschaftler eine Invasion im Jahr 2022 weder vorhersagen noch erklären konnten, weil ihre Wahrnehmung zu einem großen Teil auf lang bestehenden Missverständnissen beruhte.

Mehr Geschichtsbilder

Oxana Shevel, die Präsidentin der American Association for Ukrainian Studies, argumentiert, dass das Trauma der Ukraine durch den russischen Imperialismus und Kolonialismus nach wie vor „weitgehend übersehen“ wird. Viele in der westlichen Welt glauben weiterhin, dass die Ukraine unter der Herrschaft des Kreml von „Modernisierung, Bildung und Industrialisierung“ profitiert habe. Dies zu glauben liegt nahe: Die Diskussionen über die Region werden von Experten für Slawistik, Russisch und Sowjetische Studien dominiert – und nicht von Experten der Ukrainistik.

Die Mär von der „schwachen Nation“

Insbesondere haben westliche Experten die Ukraine „falsch eingeschätzt und missverstanden“, als sie erwarteten, dass sie unter dem russischen Angriff 2022 schnell fallen würde. Sie glaubten, dass eine „geteilte Nation mit einem schwachen Sinn für nationale Identität“ sich nicht wehren könne.

Dieser Glaube spiegelt die Beobachtung von Samuel Huntington aus den 1990er Jahren wider, dass die Ukraine „ein gespaltenes Land“ sei, das zwischen Sprachen, Religionen und politischen Sympathien zerrissen sei. Huntington hatte zwar nicht ganz unrecht, aber er hat die wichtigsten Kennzeichen der ukrainischen Identität falsch interpretiert.

Viele westliche Experten haben sich ohne ausreichende Sachkenntnis zu den jüngsten Ereignissen in der Ukraine geäußert und dabei oft falsche Projektionen und Annahmen gemacht, die auf westlichen Erfahrungen beruhen, aber für die Region nicht unbedingt relevant sind. Edward Lukas und Aliaksei Kazharski bezeichnen dieses Phänomen als „Westsplaining“.

Der amerikanische Historiker Mark von Hagen fügt hinzu, dass sich viele westliche Kommentatoren seit langem mit der Wahrnehmung der Ukraine als historisch „künstliche“ oder „unechte“ Nation abgefunden haben. Im Vergleich zu den etablierten staatlichen Einheiten Westeuropas erscheint die Geschichte der Ukraine unterbrochen und uneinheitlich, während ihre Identität aufgrund der sich überlagernden Vermächtnisse fremder Herrschaften brüchig wirkt.

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Zahlen & Fakten

Sepia-Foto eines Mannes in Uniform, der vor einem Pferd steht, das zur Seite blickt. Das Bild wurde während des Krim-Krieges (1853 bis 1856) gemacht.
Während des Krim-Krieges 1855. Im Bild der britische Major Charles Woodford. © Getty Images

Puschkin, Mazepa und der feindliche Westen

Die Repression ukrainischer Kultur und Sprache im russischen Imperium erreichte um 1860 einen Höhepunkt, doch bereits im frühen 19. Jahrhundert wurde eine ukrainische Nationalidentität als Bedrohung für die russische Identität und Einheit gesehen. Zwei fatale Ideen aus dieser Zeit halten sich bis heute: jene vom russenfeindlichen Europa und der verräterischen Ukraine. In die Welt gesetzt wurden sie unter anderem durch die politische Lyrik Alexander Puschkins.

  • In dem Gedicht „Poltava“ aus dem Jahr 1828 deutet Puschkin den ukrainischen Hetman Ivan Mazepa (1687-1709) zum Verräter um. Mazepa hatte mit seinem Kosakenheer Zar Peter I. im Nordischen Krieg (1700–1721) unterstützt, seine Kosaken allerdings 1708 nach einem Vertragsbruch des Zaren zurückgezogen.
  • Der Zar rächte sich mit der Zerstörung von Baturyn, der kosakischen Hauptstadt, 6.000 Menschen starben bei dem Massaker am 13. November 1708; wer sich danach zu Mazepa oder dem Kosakentum bekannte, wurde getötet. In dem Gedicht Puschkins ist Mazepa der Verräter.
  • 1831 kämpft Polen um die Unabhängigkeit von Russland und beschließt die Absetzung von Zar Nikolaus I. Dieser lässt den Aufstand gewaltsam niederschlagen, doch insbesondere in Frankreich solidarisieren sich Intellektuelle.
  • Alexander Puschkin verfasst daraufhin ein europa- und polenfeindliches Gedicht: „An die Verleumder Russlands“, in dem er den Europäern empfiehlt, sich nicht in interne Angelegenheiten „der Slawen“ einzumischen. Das Bild des russophoben Europa spielt heute eine große Rolle für die Legitimation des Krieges; so rezitierte der russische Außenminister Sergeij Lavrov das Gedicht im November 2022 öffentlich.
  • Der Historiker Martin Schulze Wessel deutet die Gedichte in seinem Buch „Der Fluch des Imperiums“ so: „Es geht um nichts weniger als die kollektive Identität Russlands, Polens, der Ukraine und Europas. Russland und das Zarentum sind in Puškins Poemen von unangreifbarer Rechtmäßigkeit gekennzeichnet, die von den Europäern einschließlich der Ukraine nur um den Preis des eigenen Verderbens herausgefordert werden kann.“

Gleichzeitig wurde das russische Recht, die Region zu „überwachen“, selten in Frage gestellt. Auch heute noch wird Russland als unbestreitbarer Hegemon wahrgenommen: „Der französische Präsident Emmanuel Macron beispielsweise hat sich öffentlich Sorgen gemacht, Putin zu 'demütigen', und zahlreiche Kommentatoren, darunter Henry Kissinger, haben davon gesprochen, dass Russland einen herausragenden Platz in der internationalen Sicherheitsordnung einnehmen muss“, so John Herbst, David J. Kramer und William Taylor in Foreign Affairs anlässlich des ersten Jahrestages des Überfalls auf die Ukraine.

Vor diesem Hintergrund müssen wir uns eine Frage stellen: Wie ist es Russland gelungen, diesen Status eines regionalen Hegemon aufzubauen, und warum sollte die Ukraine besser „beurteilt und verstanden“ werden?

Das Imperium und die Bücher

Im 19. Jahrhundert, zur Zeit der intensiven politischen Nationenbildung in Westeuropa, bremste Russland die natürliche Entwicklung der ukrainischen Gesellschaft, indem es seine eigenen Werte rigide durchsetzte.

Als es um Sicherheitsfragen im Zusammenhang mit der Emanzipation der Leibeigenen 1861 und dem Aufstand in Polen 1863 ging, sah die russische kaiserliche Verwaltung in der langsam, aber stetig wachsenden Zahl der in ukrainischer Sprache veröffentlichten Bücher eine Bedrohung.

Um diese Bedrohung einzudämmen, wurden mit dem Valuev-Dekret von 1863 und dem Ems-Dekret (1876, geändert 1881) Sachbücher in ukrainischer Sprache verboten. Alle Übersetzungen aus dem Russischen ins Ukrainische wurden 1892 ebenfalls verboten, so dass Russisch die einzige Sprache der Bildung und des intellektuellen Austauschs sein konnte.

Gleichzeitig unterstützten die kaiserliche Verwaltung und einzelne Wohltäter wissenschaftliche Gesellschaften, die an der Kodifizierung und Popularisierung der Geschichte des Russischen Reiches arbeiteten, in der die Entwicklungen auf ukrainischem Boden übersehen, verzerrt oder als unwichtig dargestellt wurden.

Die russische „große Erzählung“

Die kaiserliche „große Erzählung“ oder das „traditionelle Schema“ der russischen Geschichte wurde im 19. Jahrhundert vollständig ausgeformt und „wurde zu einer Behauptung historischer Priorität, einem Anspruch auf privilegierten Besitz von Territorium und Staatlichkeit und einer Rechtfertigung einer großrussischen ethnolinguistischen Definition des 'Russentums' und der russischen Identität“.

Anstatt als eigenständige Nation anerkannt zu werden, wurde der Ukraine die Rolle eines „Russlands im Kleinen“ oder Kleinrusslands zugewiesen. Die Ukrainer wurden intellektuell und politisch untergeordnet; sie wurden innerhalb und außerhalb des Reiches kolonialisiert.

Die Karte einer unabhängigen Ukraine in französischer Sprache, de die Delegierten der Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg zu den Friedensverhandlungen mitbrachten. Die Karte zeigt die Ukraine als unabhängigen Staat.
Die Karte der ukrainischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Versailles 1919.

Die Macht und Popularität der „großen Erzählung“ lässt sich an den Schlussbestimmungen des Versailler Vertrags ablesen. Die Teilnehmer der Pariser Friedenskonferenz von 1919 sprachen der Ukraine und ihrer Nation das Recht auf Selbstbestimmung nicht zuletzt deshalb ab, weil diese Selbstbestimmung im westlichen politischen Denken nicht vorhanden war: „Die Ukraine erschien 1914 nicht auf der Landkarte (…); die Ukrainer hatten noch wenig Sinn für ihre gemeinsame Existenz als Nation (…); die Anzahl ukrainischer Aktivisten, die für einen unabhängigen Staat eintraten, war winzig (…)“ – so beschreibt der Historiker Andrew Wilson das dominierende Ukraine-Bild von 1919. Für die Mehrheit der Konferenzteilnehmer gehörte die Ukraine zu besser etablierten Entitäten wie Ungarn, Polen und vor allem Russland.

Ukraine oder die Ukraine

Ein Großteil der heute in der westlichen Welt verwendeten ukrainebezogenen Terminologie spiegelt ebenfalls die koloniale Tradition wider. Bereits der Name „Ukraine“, wenn er mit bestimmtem Artikel – „die“ Ukraine – geschrieben wird, verstärkt die aufgezwungene Version der Geschichte des Landes und verzerrt seine Darstellung.

Schwarz-weiß Foto einer Hochzeitsgesellschaft in traditioneller Kleidung. Die Männer tragen Westen mit Stickereien und Hüte; die Frauen ebenfalls die Westen und ein Tuch um den Kopf gewickelt sowie gesteifte Röcke. Alle blicken ernst in die Kamera. Die Aufnahme stammt aus dem ahr 1920.
Eine Hochzeitsgesellschaft in der Ukraine um 1920. © Getty Images

Laut Paul Grod, dem Vizepräsidenten des Ukrainischen Weltkongresses, steht „die Ukraine“ „für eine Region der Reiche, die die Ukraine unterjocht haben. Die fortgesetzte Verwendung des bestimmten Artikels vor dem Namen eines unabhängigen Staates ist daher eine indirekte (wenn auch oft unbeabsichtigte) Verleugnung der Staatlichkeit.“ Wenn die westlichen Experten und die Öffentlichkeit von „Kiew“ und nicht von „Kyiv“ sprechen, halten sie an der Vorstellung fest, dass diese Stadt eine von vielen russischen Großstädten ist und nicht die Hauptstadt eines unabhängigen Landes mit einer eigenständigen Sprache und Kultur.

Die derzeitige Kreml-Regierung fördert die Verwendung der imperialen Terminologie im Westen, um ihre Ansprüche auf die Ukraine zu rechtfertigen und ihre Handlungsfähigkeit zu leugnen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Terminologie ein Zeichen für die Macht über Raum und Menschen ist. Die Fähigkeit, Namen zu vergeben, war schon immer ein Akt, den Dingen einen bestimmten Charakter zu verleihen.

Durch die Terminologie erfährt der russische Überfall Rechtfertigung: Wenn „die Ukraine“ nichts anderes als eine abhängige Region ist, hat Russland das Recht, einzugreifen und die „Expansion“ der Nato in ihre „Einflusssphäre“ zu verhindern; wenn „die Ukraine“ nie „ein richtiger Staat“ war, sollte sie sich nicht gegen die etablierte russische Souveränität wehren und gewinnen. Umgekehrt gilt: Wer von „Kyiv“ und nicht von „Kiev/Kiew“ als Hauptstadt der Ukraine spricht, belegt, dass das Land von russophoben Neonazis regiert wird, die die „große Erzählung“ der Geschichte ablehnen.

Kriegerische Folgen

Diese und viele andere koloniale Behauptungen führen, wenn sie im Westen unkritisch akzeptiert werden, zu einer „Fehleinschätzung und einem Missverständnis“ der Ukraine und ihrer Wahrnehmung als „Russland en miniature“.

Diejenigen westlichen Experten und die Öffentlichkeit, die die Ukraine auf „traditionelle“ Weise betrachten, glauben nicht nur, dass Russland das Recht hat, die gesamte Region zu kontrollieren, sondern auch, dass die autoritäre Regierungsform des Kreml der Ukraine eigen ist. Wladimir Putin verstärkt diesen Glauben in seinem Essay „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“, in dem er versuchte, die Welt davon zu überzeugen, dass beide Nationen ein Volk seien.

Der Logik des Aufsatzes folgend, sollten die Ukrainer ihr politisches Leben um eine starke Führung und eine zentralisierte Hierarchien herum organisieren. Sollten sie dies nicht tun, hätten die Russen – als „älterer Bruder“ – das Recht, korrigierend einzugreifen und den politischen Kurs der Ukraine zu normalisieren.

Die Invasion von 2022 lässt sich daher zu einem großen Teil mit der selbst auferlegten Pflicht der Russen erklären, den mittel- und osteuropäischen Raum zu überwachen. Diese Pflicht, die sich aus der Logik der „großen Erzählung“ ergibt und die eine koloniale Sichtweise auf die Ukraine wiederbelebt, erscheint vielen Experten und der Öffentlichkeit im Westen als legitim.

Die „Lukjanow-Doktrin“

Im Zuge der Analyse der russischen Außenpolitik konnte der Politikwissenschaftler Igor Gretskiy ein Muster ans Licht bringen, das er als eine neoimperiale „Lukjanow-Doktrin“, nach dem russischen Außenminister bezeichnet.

Schwarz-weiß Foto einer Straßenszene in Odessa mit Straßenbahn. Eine Frau kehrt die Straße, während eine Frau mit einem Kind an der Hand, das einen Sandeimer trägt die Straße entlang geht. Das Bild illustriert einen Beitrag über die verbreitete Annahme, dass die Ukraine russisch sei und keine eigenständige Nation.
Odesa circa 1980. © Getty Images

Bei dieser Doktrin handelt es sich um ein „außenpolitisches Paradigma, das zwei grundlegende Elemente der vorangegangenen Breschnew-Doktrin geerbt und vollständig übernommen hat: Erstens die Vorstellung einer begrenzten Souveränität [der Nachbarstaaten], und zweitens das Recht, innerhalb seiner ‚Einflusssphäre‘ zu intervenieren. Letzteres schließt die direkte und indirekte Unterstützung seiner Stellvertreter ein, um die Regierungen derjenigen Länder zu untergraben, die Russlands führende Rolle in der Region nicht akzeptieren.“

Mit anderen Worten: Die „Lukjanow-Doktrin“ stützt sich auf ein koloniales Konzept der mittel- und osteuropäischen Länder, vor allem der Ukraine, und rechtfertigt das Recht der Russen, in den Nachbarländern einseitige Maßnahmen zu ergreifen, selbst wenn diese dem souveränen Willen ihrer unmittelbaren Nachbarn (das heißt dem Willen der „der jüngeren Brüder“) widersprechen. Angela Stent skizziert sehr ähnliche Merkmale der heutigen russischen Außenpolitik, bezeichnet sie aber als „Putin-Doktrin“.

Die westlichen Experten und die westliche Öffentlichkeit, die die oben genannten Doktrinen unkritisch zur Erklärung der heutigen Ukraine anwenden, neigen dazu, viele entscheidende Entwicklungen zu übersehen oder falsch zu interpretieren, so wie es im 19. Jahrhundert geschah, als die „große Erzählung“ zum ersten Mal als Analyserahmen vorherrschend wurde.

Die Wirkung heute

Die „Fehleinschätzung und das Missverständnis“ des Westens in Bezug auf die Ukraine hängen weitgehend mit der jahrhundertelangen Vormachtstellung Russlands bei der Gestaltung der ukrainischen Politik und ihrer Vermittlung nach außen zusammen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Ukraine in den Augen vieler westlicher Beobachter nach wie vor als ein Staat mit „begrenzter Souveränität“ – ein vorübergehend abtrünniges Gebiet, das früher oder später wieder in das „Reich“ eingegliedert werden wird.

Eine Frau in einem karierten Hemd umarmt ein Kind. Die beiden stehen an der Reling einer Fähre. Das Bild ist Teil eine Beitrags über die Ukraine, die oft als russisch angesehen wird, obwohl sie es nicht ist.
Auf der Donaufähre zwischen Orlivka in der Ukraine und Isaccea in Rumänien im Juni 2022. © Getty Images

Um die heutige Ukraine besser „beurteilen und verstehen“ zu können, sollten westliche Experten und die Öffentlichkeit nicht nur erkennen, dass sie etwas anders ist als Russland behauptet, sondern auch anerkennen, dass die Quelle dieses Unterschieds in den kolonialen Versuchen des Kremls liegt, die ukrainische Nation zu „gestalten“ und zu „repräsentieren“. Weil der Kreml heute - wie auch im 19. Jahrhundert - so hartnäckig an der Verwirklichung seiner „Pläne“ festhält, weil er bereit ist, die russische Armee einzusetzen, um die Unterwerfung seines Nachbarn zu vollenden, wird das gesamte europäische Sicherheits- und Rechtssystem unnötig belastet.

Je weniger die westlichen Experten und die Öffentlichkeit ihre Wahrnehmung der Ukraine als „Russland en miniature“ überdenken wollen, desto mehr Faktoren der Instabilität bleiben unberücksichtigt und desto mehr kritische Fragen bleiben unbeantwortet. Diese Art von Ignoranz kann in Zukunft zu neuen Wellen der Gewalt auf dem Kontinent führen.

Wenn westliche Experten und die Öffentlichkeit stattdessen die Tatsache akzeptieren, dass die Ukraine und Russland als politische Nationen schon immer unterschiedlich waren, wird dies den Weg für eine Revision der russischen „großen Erzählung“ und des Anspruchs des Kremls auf regionale Hegemonie ebnen. Dies wird nicht nur dazu beitragen, die Ukraine als einzigartiges demokratisches Gebilde zu betrachten, sondern auch die Bedrohung zu erkennen, die der russische Kolonialismus und Imperialismus für die europäische Sicherheit darstellt.

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Conclusio

Die Wurzeln der Vorstellung, die Ukraine sei eigentlich russisch, zu kennen, kann dabei helfen, die eigenen Annahmen kritisch zu prüfen. Oft spielt die Idee unterschwellig eine Rolle: Sie findet ihren Ausdruck etwa in der Interpretation, die Annäherung der Ukraine an die Europäische Union sei eine Provokation für Russland gewesen. Stillschweigend wird angenommen, dass die Ukraine eigentlich zu Russland gehört. Damit wird ein Geschichtsbild tradiert, das noch aus dem imperialen Russland stammt und in der Gegenwart das nationale Selbstbestimmungsrecht der Ukraine in Frage stellt. Eine Auseinandersetzung mit den Wurzeln bestimmter Ideen und Vorstellungen ist also notwendig, um Fehlurteile zu vermeiden. Dass Wladimir Putin bestimmte Geschichtsmythen instrumentalisiert zeigt, welche Macht in der Geschichtsschreibung (immer noch) steckt.

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