Tag des Sieges: Gedenken für das Imperium

Am Tag des Sieges feiert Russland den Sieg über Nazi-Deutschland. Doch der 9. Mai hat im heutigen Russland wenig mit Antifaschismus zu tun. Im Gegenteil.

Am 8. Mai 2025 in Moskau: Alles ist für die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai vorbereitet. Gefeiert wird im heutigen Russland aber nicht das Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern die eigene nationale Größe – und das Recht auf imperiale Ausdehnung, argumentiert Oleksandra Nesina.
Am 8. Mai 2025 in Moskau: Alles ist für die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai vorbereitet. Gefeiert wird im heutigen Russland aber nicht das Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern die eigene nationale Größe – und das Recht auf imperiale Ausdehnung, argumentiert Oleksandra Nesina. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Erinnerung. Der Sieg der Sowjetunion über Nazideutschland im Mai 1945 ist der Inhalt des sogenannten Tag des Sieges, der am 9. Mai gefeiert wird.
  • Kontinuität. Als Teil des Großen Vaterländischen Kriegs zieht der Festtag eine Verbindungslinie zum Krieg des Zarenreichs gegen Frankreich 1812-1814.
  • Konstruktion. In den 80 Jahren seit Kriegsende wurde der moralisierende Kern aufgeblasen und dient heute der Rechtfertigung imperialer Ansprüche.
  • Identität. Das Narrativ wird in Russland von breiten Bevölkerungsschichten mitgetragen und hatte insbesondere nach 1991 eine starke Rolle im Nation Building.

Erhebe dich, weites Land,
Erhebe dich für einen Kampf auf Leben und Tod,
Gegen die dunkle faschistische Macht,
Gegen die verfluchte Bande.

Bei diesem Lied – es wurde 1941 kurz vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Russland geschrieben – summt jeder Russe mit, sobald die Melodie den Roten Platz erfüllt und so die jährliche Parade zum Tag des Sieges eröffnet. Während Staatsflagge und Siegesbanner feierlich präsentiert werden, mobilisiert sein Klang die Nation einmal mehr.

Heute, am 9. Mai 2025 – genau wie vor achtzig Jahren – füllen sich in Russland die städtischen Plätze, um den 1945 errungenen Sieg über den Nationalsozialismus zu feiern. Im ganzen Land wird der Feiertag mit einer Vielzahl von Gedenkveranstaltungen begangen: Konzerte, Schulaufführungen, Nachstellungen, Ausstellungen und Paraden. Radio und Fernsehen sind voller Geschichten über Kriegshelden und Familienerinnerungen, während Denkmäler und Gedenkstätten zu Pilgerorten werden, an denen die Bürger in feierlichem Gedenken Blumen und Kränze niederlegen.

Am 9. Mai 2017 in Moskau: Folklore und Reenactment gehören zum Tag des Sieges dazu – ebenso wie das Sankt Georgs-Band. Eine Frau und ein Kind stehen auf dem Roten Platz, wobei beide das Sankt Georgs-Band tragen. Die Frau ist gekleidet wie eine Angehörige der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg, das Kind trägt eine traditionelle ländliche Kleidung und eine Pilotenjacke aus Leder. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Oleksandra Nesina über die Geschichte des Tag des Sieges und seine Verwendung im heutigen Russland.
Am 9. Mai 2017 in Moskau: Folklore und Reenactment gehören zum Tag des Sieges dazu – ebenso wie das Sankt Georgs-Band, das beide an ihren Jacken tragen. © Getty Images

An diesem Tag scheint sich die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzulösen. Der Krieg wird nicht einfach erinnert, er wird wiedererlebt und eindringlich gegenwärtig gemacht.

Das Nachkriegsjahrzehnt

Der nationale Diskurs schwillt an mit vertrauten Refrains: die Heiligkeit des Feiertags, die entscheidende Rolle Russlands beim Sieg über den Faschismus und die dringende Notwendigkeit, die historische Wahrheit zu verteidigen, was den Außenstehenden mit einer berechtigten Frage verwirrt: Warum wird ein Sieg, der vor achtzig Jahren errungen wurde, immer noch mit solch glühender Hingabe gefeiert? In der Tat ist es schwer zu begreifen, wie der Tod von 27 Millionen Menschen, die Zerstörung, die schiere Brutalität des Krieges mit solchem Pomp gefeiert werden können. Wie konnte das schwerste nationale Trauma zum stolzesten nationalen Feiertag werden?

Tag des Sieges: Mehr als ein Kult

„Pobedobesie“ oder „Siegeskult“ ist ein Begriff, der in kritischer Absicht geprägt wurde, um das Phänomen zu beschreiben. Es ist jedoch viel mehr als ein einfacher „Siegeskult“. Der Krieg – in Russland stolz als „Großer Vaterländischer Krieg“ bezeichnet – ist zum konstituierenden Ereignis der russischen Identität geworden, zum Wesenskern der Kultur Russlands. Der Siegeskult prägt das nationale Narrativ, steuert die Außenpolitik und definiert die Bedeutung von Moral, Leid und Stärke. Der Große Vaterländische Krieg ist nicht mehr nur Geschichte: Er ist ein Gründungsmythos, ein zivilisatorischer Eckpfeiler, ein Instrument im Dienste des Nationalismus und sinnstiftend für die gegenwärtige Realität.

Wir werden die Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine anstreben.

Wladimir Putin am 24. Februar 2022

Es ist der Große Vaterländische Krieg, der zur Mobilisierung des russischen Nationalbewusstseins beitrug und schließlich den russisch-ukrainischen Krieg auslöste. „Nationalisten, Neonazis, Russophobe und Antisemiten haben diesen Putsch ausgeführt (…) wir alle können die Absichten dieser ideologischen Erben von Bandera, Hitlers Komplize im Zweiten Weltkrieg, klar erkennen“, sagte Präsident Wladimir Putin 2014 in seiner berüchtigten Krym-Rede über die Maidan-Proteste, wenige Tage, nachdem er die Halbinsel annektiert hatte und damit den Krieges begann.

Acht Jahre später, am 24. Februar 2022, nur wenige Minuten bevor russische Raketen Städte in der Ukraine angriffen, verwies Putin auf die Lehren des Zweiten Weltkriegs und erklärte, er habe „die Entscheidung getroffen, eine besondere militärische Operation durchzuführen. (…). Wir werden die Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine anstreben.“

„Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“ Dieses Prinzip der Ingsoc-Partei aus der Orwellschen Dystopie 1984 hat in Russland heute eine bleierne Schwere. Denn im heutigen Russland scheint Putin das „wer“ des Zitats zu sein. Öffentliche wie akademische Diskurse sind gesättigt mit plakativen Aussagen wie „Putin will die Geschichte des Zweiten Weltkriegs neu schreiben“ und „Putin hat die Geschichte konsequent instrumentalisiert und verzerrt“. Doch dieser Top-down-Ansatz zur Erklärung der Vergangenheitspolitik Putins ist bestenfalls unvollständig. Er stellt den Kreml als nahezu allwissenden Puppenspieler dar und die Öffentlichkeit als eine Masse passiver Input-Output-Maschinen.

Wer glaubt die Geschichte? Und warum?

Was aber, wenn es noch eine andere Ebene gibt? Eine von unten nach oben gerichtete Seite der Geschichte? Schließlich gab es den Mythos des „Großen Sieges“ schon lange vor Putins Geburt. Was wäre, wenn ich Ihnen sagen würde, dass die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges schon geschrieben wurde, bevor der Krieg selbst begann?

Es reicht nicht aus, zu debattieren, wer die Geschichte kontrolliert, ohne dabei zu fragen „Wer glaubt sie?“ Und vor allem: „Warum?“

Menschen sind keine Input-Output-Computer. Sie nehmen nicht einfach Botschaften auf und handeln entsprechend. Sie können auch nicht durch Umweltreize instruiert werden, sondern lediglich angeregt. Menschen sind nicht passiv: Sie stiften Sinn und Bedeutung und sie suchen nach Sinn und Bedeutung. sie müssen dem, was ihnen begegnet, einen Sinn geben und ihre Reaktion auf die Außenwelt wird durch ihre innere Lebenswelt bestimmt.

Das heißt: Der Glaube wird nicht aufgezwungen. Er wird gewählt.

Warum sonst versiegen alternative Narrative? Wenn Putins Propaganda nur von oben nach unten gesteuert würde, dann müsste sich die Wahrnehmung der Russen ändern, sobald sie sich mit der tatsächlichen Geschichte auseinandersetzen – mit Archiven, Zeugenaussagen, mit dem internationalem Konsens. Aber das ist nicht der Fall.

Der Tag des Sieges am 9. Mai 1967 in Moskau. Zwanzig Jahre zuvor hatte Josef Stalin den Tag in einen regulären Arbeitstag umgewandelt. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Oleksandra Nesina über die Geschichte des Tag des Sieges und seine Verwendung im heutigen Russland.
Der 9. Mai 1967 in Moskau. Zwanzig Jahre zuvor hatte Josef Stalin den Tag in einen regulären Arbeitstag umgewandelt. © Getty Images

Damit Propaganda wirksam und dauerhaft ist, kann sie nicht im luftleeren Raum existieren – sie muss bereits bestehende soziale, historische und psychologische Bedingungen haben, die es ihr ermöglichen, Fuß zu fassen. Staatliche Institutionen, die eine Gesellschaft kontrollieren wollen, müssen sich auf die nämlichen narrativen Instrumente stützen, die bereits in der Gesellschaft verwendet werden. Wenn sie sich zu weit von dem entfernen, was die Öffentlichkeit bereits weiß und glaubt, würden sich ihre Bemühungen künstlich anfühlen und daher schnell wieder verschwinden.

Das Gedächtnis, insbesondere das kollektive oder historische, ist nichts Festes und Gleichbleibendes. Es ist vielmehr ein Prozess: ein lebendiger, fortlaufender Diskurs, der sich im Laufe der Zeit verändert und weiterentwickelt. Der Diskurs entfaltet sich durch die Beteiligung der Mitglieder einer Gesellschaft, wird weitergegeben und von nachfolgenden Generationen neu geformt. Wie die Kultur ist das kollektive Gedächtnis nicht einfach da – Menschen erschaffen es. Und sie tun dies gemeinsam.

Glaubt Putin die eigenen Mythen?

Dennoch wäre es irrational, die Macht des Kremls bei der Gestaltung der historischen Erinnerung zu übersehen. Der Staat spielt – durch Bildung, Medien und offizielle Zeremonien – eine bedeutende Rolle bei der Konstruktion eines bestimmten Verständnisses von der Vergangenheit.

Schwarzweiß Foto von befreiten sowjetishen Gefangenen, die vor Baracken und einem doppelten Stacheldrahtzaun stehen und jubeln. Es sind sowjetische Gefangene im Lager Stukenbrock.
Das sogenannte Stammlager 326 bei Stukenbrock in Nordrhein-Westfalen am Tag der Befreiung 1945. Insgesamt etwa 300.000 sowjetische Kriegsgefangene wurden während des Krieges durch dieses Lager geschleust, wo nach Schätzungen 70.000 Gefangene starben. Das Opfer der Sowjetunion war groß: Im 2. Weltkrieg starben zehn Millionen Angehörige der Roten Armee und (geschätzt) 17 Millionen sowjetische Zivilisten. Von den 5,7 Millionen sowjetischen Soldaten in deutscher Gefangenschaft starben 3,3 Millionen. © Getty Images

Was in den Debatten über die Geschichte Russlands häufig übersehen wird, ist aber die Tatsache, dass Putin – wie auch andere Mitglieder der politischen Elite und Medienfiguren – kein isoliert handelndes Individuum ist. Seine Weltanschauung ist nicht in einem Vakuum entstanden. Sie wurde von denselben kulturellen Traditionen, Erzählungen, kollektiven Erinnerungen und nationalen Mythen geprägt, die auch in der breiteren Gesellschaft Widerhall finden.

Es ist dieses kollektive Gedächtnis, das zusammen mit der Kultur die Linse bildet, durch die wir die Welt wahrnehmen. Es prägt nicht nur die Art und Weise, wie sich Menschen an die Vergangenheit erinnern, sondern auch, wie sie die Gegenwart interpretieren. Unsere früheren Erfahrungen und Überzeugungen dienen als Bezugspunkte, von denen wir uns ständig leiten lassen, wie wir neue Informationen verstehen, was wir glauben, und was wir ablehnen.

Aus diesen Gründen darf eine Debatte über das russische Geschichtsbewusstsein nicht mit Putins Ära beginnen, sondern muss fragen: Wie wurde die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ überhaupt erst konstruiert?

Woher der „Tag des Sieges“ kommt

Bereits der Name Großer Vaterländischer Krieg ist Teil der Konstruktion der Vergangenheit und der russischen nationalen Identität: Während sich der Rest der Welt an den Krieg 1939 bis 1945 als Zweiter Weltkrieg erinnert, benannte die Sowjetunion ihren Kampf gegen Nazideutschland nach dem „Vaterländischen Krieg“ von 1812.

Am 22. Juni 1941 war der sowjetische Außenminister Vjačeslav Molotow der erste, der sich auf den Krieg von 1812 bezog und die Formulierung Großer Vaterländischer Krieg verwendete. Er unterstrich damit den Gedanken, dass die Existenz Russlands erneut ernsthaft bedroht sei. Der Bezug auf 1812, jenem Krieg, aus dem Russland als siegreiches Imperium hervorging, trug zu dem starken Glauben der russischen Öffentlichkeit an eine nationale Mission bei: eine selbstauferlegte messianische Pflicht, die Menschheit zu retten.

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Zahlen & Fakten

Joachim von Ribbentrop steht mit verschränkten Armen neben einem Schreibtisch und beobachtet seinen Amtskollegen, den sowjetischen Außenminister Vjačeslav Molotow, der den „Hitler-Stalin-Pakt“ unterzeichnet. Ein weiterer Mann steht neben Molotow mit einem Roll-Löscher in der Hand, um die Tinte nach der Unterzeichnung zu trocknen. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Oleksandra Nesina über die Geschichte des Tag des Sieges und seine Verwendung im heutigen Russland.
Joachim von Ribbentrop, links im Bild, kann zufrieden sein: Sein Amtskollege, der sowjetische Außenminister Vjačeslav Molotow unterzeichnet den Pakt, der als „Hitler-Stalin-Pakt“ in die Geschichte eingehen würde. © Getty Images

Expansionsfantasien

  • Der Tag des Sieges übertüncht einen unrühmlichen anderen Tag: den 17. September 1939. An diesem Tag besetzte die stalinistische Sowjetunion den östlichen Teil Polens.
  • Grundlage des Einmarsches – nur etwas mehr als zwei Wochen, nachdem Deutschland Polen am 1. September 1939 angegriffen hatte und damit einen Vernichtungskrieg begann – geht auf ein geheimes Zusatzprotokoll zum so genannten Hitler-Stalin-Pakt zurück.
  • Das Zusatzprotokoll sah die Teilung Ostmitteleuropas zwischen Deutschland und der Sowjetunion vor. Am 24. August 1939 wurde dies gemeinsam mit dem „Nichtangriffspakt“ vom deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop und dem sowjetischen Außenminister Vjačeslav Molotov in Anwesenheit von Josef Stalin vereinbart.

Diese grundlegende Überzeugung ermöglichte eine Neuinterpretation der sowjetischen Kriegshandlungen. Der sowjetische Einmarsch am 17. September 1939 in Polen und den baltischen Staaten wurde als Schutz ethnischer Minderheiten umgedeutet. Das offizielle Datum des Kriegsbeginns wurde so auf den 22. Juni 1941 festgelegt, was die UdSSR in ein rein defensives Licht rückte. Am Ende des Krieges wurde die Besetzung Mittel- und Osteuropas nicht als Besetzung, sondern als „Befreiung Europas vom Faschismus“ dargestellt.

Staatliche Macht und Kontrolle in Kombination mit der kulturell unterfütterten Akzeptanz einer starken autokratischen Führung nährten eine gesellschaftliche Haltung, in der Opfer nicht nur erwartet, sondern auch moralisch begründet waren, was zu einer Verinnerlichung der Leiden des Kriegs führte. Stalins katastrophales Missmanagement – einschließlich brutaler Tribunale, gescheiterter Evakuierungen und Repressionen in den „befreiten“ Zonen – wurde der Kritik entzogen. Der Tod von 27 Millionen Sowjetbürgern wurde zum notwendigen Opfer für einen gerechten und heiligen Sieg umgedeutet.

Innenseiten der Prawda am 23. Juni 1941. Das Faksimile ist Teil eines Beitrags über die Rolle des Tag des Sieges am 9. Mai für die Konstruktion einer russischen Nationalidentität.
Innenseiten der Prawda am 23. Juni 1941. © Nesina und Der Pragmaticus

All dies wird besonders deutlich, wenn wir einen Blick in die Prawda, der offiziellen Zeitung der KPdSU, vom 23. Juni 1941 werfen, dem Tag nach der Invasion der deutschen Wehrmacht. Von Anfang an wurde der Krieg gegen Nazideutschland in den Artikeln als „Großer Vaterländischer Krieg“ bezeichnet. Die Schlagzeilen lauteten: „Wir werden unser Vaterland bis zum letzten Blutstropfen verteidigen“ und „Wir werden unsere Pflicht im Großen Vaterländischen Krieg erfüllen“.

Statt über Evakuierungen, Luftschutzsirenen oder Luftschutzbunker zu informieren, wurde an Einheit und Pflicht erinnert und kühn ein „sicherer und entscheidender Sieg“ versprochen.

Juni 1942: Die deutsche Wehrmacht in der Nähe von Charkiw in der heutigen Ukraine. In der heutigen russischen Erzählung vom Großen Vaterländischen Krieg kommt der Anteil ukrainischer Soldaten am Sieg über Nazi-Deutschland und die Grausamkeit der deutschen Besetzung der Ukraine von 1941 bis 1944 nicht vor. In der Geschichtswissenschaft geht man von fünf Millionen Opfern unter der Zivilbevölkerung aus. Das Bild ist Teil eines Beitrags der Anthropologin Oleksandra Nesina über die Geschichte des Tag des Sieges und die zeitgenössische Rolle des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg und des Sieges über Nazi-Deutschland 1945 im heutigen Russland.
Juni 1942: Die deutsche Wehrmacht in der Nähe von Charkiw in der heutigen Ukraine. In der russischen Erzählung vom Großen Vaterländischen Krieg kommt der Anteil ukrainischer Soldaten am Sieg über Nazi-Deutschland und die Grausamkeit der deutschen Besetzung der Ukraine von 1941 bis 1944 nicht vor – betont wird die Kollaboration mit den deutschen Besatzern, die es auch gab. Die Ukraine hatte unter der deutschen Besatzung fünf Millionen zivile Opfer zu beklagen. © Getty Images

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Tag des Sieges zu einem staatlichen Feiertag, doch schon 1947 wandelte Stalin den 9. Mai in einen Arbeitstag um, erst 1965 gab wieder eine Parade zum 9. Mai in Moskau. Von 1948 bis 1964 wurde jedoch informell gefeiert: Kundgebungen, Vorlesungen, Ausstellungen und mancherorts Ehrensalven füllten die Lücke. Die Zeitungen gaben dem Tag des Sieges nach 1947 mehr Raum als zuvor.

Der Tag des Sieges ab 1991

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 befand sich Russland in einer großen Identitätskrise. Im Gegensatz zu anderen postkommunistischen Ländern Osteuropas hatte Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keinen klaren Weg vor sich – und niemanden, den es für seine Vergangenheit verantwortlich machen konnte; es gab keinen externen Besatzer, dem man das sowjetische Erbe anlasten konnte.

Russland erhebt sich von seinen Knien!

Boris Jelzin, Antrittsrede als Präsident, 10. Juli 1991

Die sowjetische Identität war schließlich nichts, was Russland von außen aufgezwungen worden war, sie wurde als etwas angesehen, das Moskau selbst gestaltet und gewählt hatte. Und so stand der Staat, der jahrhundertelang ein Kolonialreich gewesen war, nach dem Zusammenbruch vor dem Nichts, musste zusehen, wie ihm all seine früheren Errungenschaften entglitten und litt unter einem katastrophalen wirtschaftlichen Zusammenbruch. In den 1990er Jahren waren viele Russen auf die humanitäre Hilfe der Vereinigten Staaten angewiesen, die jahrzehntelang ihr ideologischer Feind gewesen waren.

Der Große Vaterländische Krieg bot etwas, was kein westliches Modell vermochte: eine verbindende Geschichte, die die tiefsten Wunden des postsowjetischen Russlands ansprach. Die Erzählung hatte die Kraft, den Nationalstolz wiederherzustellen, ein Gefühl moralischer Bestimmung zu vermitteln und als emotionaler Dreh- und Angelpunkt einer neuen russischen Identität zu dienen.

Wladimir Putin, damals noch Ministerpräsident, verlässt die Wahlkabine in der Duma bei einer Abstimmung am 19. Dezember 1999. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Oleksandra Nesina, in dem es um die Genese des Tag des Sieges geht und dessen Rolle für eine eigenständige russische Identität.
Wladimir Putin, damals noch Ministerpräsident, verlässt die Wahlkabine in der Duma bei einer Abstimmung am 19. Dezember 1999. © Getty Images

Putin hat dieses Narrativ gestärkt, neu organisiert und aufgewertet. Die Gesellschaft hatte internalisiert, dass „die Nation in ihrem Leiden und ihrer Wiedergeburt heilig ist in ihrer Rolle als Retterin Europas vor dem barbarischen Bösen des Nazismus“, wie die Historikerin Elizabeth A. Wood formuliert.

Bei seiner Amtseinführung als Präsident am 7. Mai 2000, also zwei Tage vor dem Tag des Sieges, erklärte Putin, dass es seine heilige Pflicht sei, das russische Volk zu vereinen und seine gemeinsame Geschichte zu ehren. Einige Tage später führte er eine der größten Feiern zum Tag des Sieges an, die Russland in Jahren erlebt hatte. Er bezeichnete den Sieg als den endgültigen Beweis für Russlands Status als Großmacht.

Und einfache Russen waren bereit, ihren Beitrag zur großen Erzählung zu leisten. Eines der eindrücklichsten Beispiele ist die Kampagne für das Sankt Georgs-Band. Das schwarz-orangefarbene Band, das ursprünglich ein Bestandteil des Sankt Georgs-Ordens war, der höchsten militärischen Auszeichnung des Russischen Reiches, die 1769 eingeführt wurde, tauchte in der Sowjetzeit als Teil von Kriegsauszeichnungen wieder auf. Es wurde auf der Medaille „Für den Sieg über Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg“ abgebildet, die mit fast 15 Millionen Empfängern die am häufigsten verliehene Medaille in der sowjetischen Geschichte wurde. Das Band wurde für die Gestaltung von Postkarten, Postern und Büchern über den Krieg verwendet.

Im Jahr 2005 erwachte es zu neuem Leben, als die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti eine Kampagne startete, um es als öffentliches Symbol des Gedenkens zu verbreiten. Das Sankt Georgs-Band verbreitete sich schnell in ganz Russland – nicht aufgrund einer Anordnung, sondern aufgrund der großen Beteiligung. Die Bürger steckten es an ihre Jacken, banden es an Autoantennen und trugen es an ihren Taschen.

Genau dieses Sankt Georgs-Band ist ab 2014 zum Symbol für Russlands Aggression gegen die Ukraine geworden. Im Jahr 2022 verhüllte dieselbe Farbkombination das berüchtigte „Z“ – das Zeichen der russischen Invasion in der Ukraine im großen Stil.

Der Tag des Sieges in der Dauerschleife

Die Siegesparade wurde zum Kernstück der russischen Rituale zur Feier des Tags des Sieges. Die erste große Siegesparade auf dem Roten Platz fand im Juni 1945 statt und diente als Vorbild für alle folgenden Paraden.

Sorgfältig inszeniert, laufen die Paraden nach einem strengen Protokoll ab: die Präsentation des Siegesbanners, die Inspektion der Moskauer Garnison durch den Verteidigungsminister, die Rede des Präsidenten, der Marsch des Militärs und die Luft-Show.

Dehnen für das Herzstück der Feierlichkeiten zum 9. Mai: die Parade. Zwei Soldaten der russischen Armee in Paradeuniform machen Dehnübungen, wobei einer der Soldaten das Bein des zweiten Soldaten festhält. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Oleksandra Nesina über die Geschichte des Tag des Sieges und seine Verwendung im heutigen Russland.
Dehnen für das Herzstück der Feierlichkeiten zum 9. Mai: die Parade. © Getty Images

In der Tat ist darin ein Ritual im anthropologischen Sinn zu sehen. Die Parade findet zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen statt, folgt einer vorgeschriebenen Struktur und ist darauf ausgelegt, Jahr für Jahr in der selben Weise wiederholt zu werden. Der Rote Platz wird in eine symbolische Bühne verwandelt, auf der die nationale Identität nicht lediglich in Erinnerung gerufen, sondern vorgeführt wird. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Kulturstiftendes Ereignis.

Obwohl die Parade vom Kreml organisiert wird, trägt sie dazu bei, ein Gefühl der Kontinuität zu erzeugen, indem sie Vergangenheit und Gegenwart zu einer gemeinsamen nationalen Identität verschmilzt. Wer an einem 9. Mai auf dem Roten Platz steht, ist wird automatisch vom Beobachter zum aktiven Teilnehmer an der Inszenierung. Dem Ritual beizuwohnen bedeutet, daran teilzunehmen.

Die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges geht jedoch weit über einen einzelnen Feiertag hinaus. Der Tag des Sieges ist mehr als nur ein einziges Datum im Kalender: Jeden Monat, das ganze Jahr über, veröffentlichen die staatlichen Medien Dutzende von Nachrichten, die sich auf den Krieg beziehen; neue Gesetze und Gedenkfeiern, die Entwicklung von Lehrmitteln für den Schulunterricht, Dokumentarfilme und Ausgrabungen von Massengräbern sorgen für eine stete Präsenz des Krieges. Wer in Russland lebt, beteiligt sich aktiv oder passiv permanent an dieser Erinnerungsarbeit – als Ausstellungsbesucher, als Mitglied von Suchteams, als Filmproduzent oder Kulturschaffender. Die Vergangenheit ist keine Vergangenheit, sondern Teil der Gegenwart.

Bis 2022, dem Jahr der Vollinvasion der Ukraine, wurde die umdeutende Vergangenheitspolitik intensiviert.

Es begann mit der Revolution der Würde 2014, die im russischen Diskurs als „Putsch“ abgetan wurde, und verstärkte sich parallel zu den ukrainischen Bemühungen um Entkopplung von Russland, die mit einer Ablehnung der traditionellen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges einhergingen. Beides wurde in das wachsende „Nazi“-Narrativ verwebt.

2020 eskalierten die Spannungen, nachdem das Europäische Parlament am 19. September 2019 die „Entschließung zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“ angenommen hatte. Darin wurde die Sowjetunion wegen ihres Überfalls auf Polen offiziell als Mitverursacherin des Zweiten Weltkriegs eingestuft und Moskaus „Befreiung“ Osteuropas in der Nachkriegszeit als Besatzung umgedeutet. Die Resolution forderte ein größeres Bewusstsein, eine moralische Auseinandersetzung und eine juristische Untersuchung der Verbrechen des Stalinismus und anderer Diktaturen.

Als Reaktion darauf wurde die Bewahrung der „Wahrheit“ über die Vergangenheit zum nationalen Imperativ Moskaus. Da der Sieg über Nazideutschland seit langem als moralischer Kompass für die russische Außenpolitik diente, verschärfte die Resolution unwillentlich die Grenze zwischen Außen und Innen, einem russischen „wir“ und europäischen „die“, indem der Große Vaterländische Krieg noch enger mit der zeitgenössischen Identität Russlands verknüpft werden konnte.

In Sankt Petersburg im Mai 2016. Vor allem Jugendliche stehen vor einem großen semi-transparenten Banner mit dem Emblem der Roten Armee, machen Selfies und reden. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Oleksandra Nesina über die Geschichte des Tag des Sieges und seine Verwendung im heutigen Russland.
In Sankt Petersburg im Mai 2016. © Getty Images

In dem Glauben, mehr gelitten zu haben als jede andere Nation und Europa „vom absolut Bösen befreit“ zu haben, sieht sich Russland nun als rechtmäßiger Hüter des Friedens, der berechtigt ist, neue Formen des „Bösen“ zu erkennen und entsprechend zu handeln. Genau so wurde die Ukraine im aktuellen Narrativ des Krieges zum Antagonisten.

Im Jahr 2021 vertiefte sich die Kriegserzählung weiter, als Russland offiziell begann, die Gräueltaten der Nazis an den Sowjetbürgern als „Völkermord“ zu bezeichnen. Im März dieses Jahres fasste das Untersuchungskomitee alle damit zusammenhängenden Strafverfahren zu einem einzigen zusammen. Das verlieh der Deutung mehr Gewicht und eine größere Reichweite. Tatsächlich legen freiwillige Suchtrupps noch heute Gräber frei, was die Lesart stärkt. „Der Krieg geht weiter, bis der letzte Soldat begraben ist“, heißt es. Und in Russland scheint es so, als würde dieser Krieg niemals enden.

Zum Tag des Sieges am 9. Mai 2021 schlug Wladimir Putin in seinen Reden offen aggressive und spaltende Töne an. „Es ist unser rechtmäßiger Festtag, denn wir sind die Blutsverwandten jener, die den Nazismus besiegt haben, erklärte er. Wir stammen von der Generation der Sieger ab.“ Das Erbe des „abscheulichen Nazi-Monsters“ erhebe fast ein Jahrhundert nach seinem Aufstieg in Deutschland wieder das Haupt in Zentraleuropa: „Die Mitglieder dieser Todeskommandos und ihre Anhänger versuchen die Geschichte umzuschreiben, um die Verräter und Kriminellen, deren Hände rot sind vom Blut der Zivilisten, zu rechtfertigen“, fügte er warnend in einer unmissverständlichen Anspielung auf die Ukraine hinzu. „Russland verteidigt das Völkerrecht, während wir unsere nationalen Interessen und die Sicherheit unseres Volkes schützen“, so seine Schlussworte.

Neun Monate später startete er die Vollinvasion der Ukraine.

Politik mit der kollektiven Erinnerung

Anders als im Westen wird der Zweite Weltkrieg nicht erinnert, um eine Wiederholung des Horrors zu verhindern, sondern um bei Bedarf das Heldentum der Väter zu reaktivieren. Der Tag des Sieges feiert das Durchhaltevermögen, das Opfer und den Triumph, es ist kein Gedenktag zur Warnung.

Anzuerkennen, dass der Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg nicht von Putin erfunden wurde, sondern dem kollektiven Gedächtnis entstammt, heißt nicht, den Mythos zu legitimieren. Vielmehr zeigt die Genese des Mythos, dass die vereinfachende Annahme, Putin habe die Russen einer Gehirnwäsche unterzogen, nicht stimmt. Es geht etwas anderes, tiefergehendes, vor sich. Ein Phänomen, das es in der Geschichte bisher nicht gab.

Dies ist nicht nur Putins Krieg. Es ist Russlands Krieg.

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Conclusio

Ausgrenzung und Kontinuitäten. Die Feierlichkeiten am 9. Mai haben in der russischen Alltagskultur die Paraden und Festivitäten zur Oktoberrevolution der Sowjetunion abgelöst. Damit trat ein Festtag in den Vordergrund, der schon früh eine ausgrenzende Komponente hatte: Der Bezug zum Vaterländischen Krieg des zaristischen Russland gegen Frankreich nach dem Einmarsch der napoleonischen Truppen 1812 enthält bereits die Imagination Russlands als eine (vom Westen) bedrohte, isolierte Einheit, argumentiert Oleksandra Nesina.

Geschichte von unten. Der Sieg über Nazideutschland und damit das Ende des Zweiten Weltkriegs wird nicht als Befreiung Europas vom Faschismus gefeiert, sondern als weiterer Abwehrkampf gegen eine Russland feindlich gesinnte Welt. Diese Rolle des Festtages wird erst sichtbar, wenn Geschichte und Vergangenheit nicht als etwas Gegebenes betrachtet werden, sondern als aktiv konstruiertes. Geschichte wird gemacht, wenn auch nicht absichtsvoll und intentional – das zeigt nicht zuletzt die wechselvolle Geschichte des Tag des Sieges selbst.

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