Zeitenwende am Kap

Nach fünfzehn Jahren Misswirtschaft beenden die Wähler 2024 die absolute Herrschaft der Partei Nelson Mandelas in Südafrika. Eine Bilanz über drei enttäuschende Jahrzehnte seit dem Ende der Apartheid. 

Präsident Cyril Ramaphosa wurde auf der siebten Sitzung des südafrikanischen Parlaments am 14. Juni 2024 im Cape Town Convention Center in Kapstadt zum Präsidenten von Südafrika gewählt.
Trotz der historischen Wahlniederlage des ANC wird Cyril Ramaphosa in der ersten Sitzung der südafrikanischen Nationalversammlung am 14. Juni 2024 zum Präsidenten von Südafrika gewählt. Doch die Alleinherrschaft des ANC ist Geschichte. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Wahlen. Die Wahlen im Jahr 2024 beendeten die Einparteienherrschaft des ANC in Südafrika und führten zu einer Koalition aus mehreren Parteien.
  • Zusammenarbeit. Ehemalige politische Gegner müssen nun im Regierungsalltag tiefe inhaltliche und persönliche Gräben überwinden.
  • Aufgaben. Bildungssystem und Justiz sind zu reformieren, die Staatsunternehmen müssen saniert und die Korruption überwunden werden.
  • Perspektive. Südafrika hat die Chance auf eine neue Dynamik, die marktfreundliche Reformen ermöglicht und einen neuen sozialen Zusammenhalt fördert.

Spät in der Nacht des 29. Mai 2024, nach Schließung der Wahllokale, erlebt das Land am Kap eine Zeitenwende, die viele Südafrikaner mit dem historischen Jahr 1994 vergleichen. Damals fand das menschenverachtende und auf Rassentrennung beruhende System der Apartheid ein Ende. Bei den Wahlen im vergangenen Jahr hat der African National Congress (ANC), die Partei des Friedensnobelpreisträgers Nelson Mandela, eine verheerende Niederlage erlitten.

Südafrikas Dauerregierungspartei kam auf nationaler Ebene nur noch auf rund 40 Prozent der Stimmen und büßte über 17 Prozentpunkte im Vergleich zur vorherigen Wahl 2019 ein. Damit wurde die Einparteienherrschaft beendet und der Beginn einer Ära von Koalitionsregierungen auf nationaler und Provinzebene eingeläutet. Wie konnte es dazu kommen?

Eine Antwort lautet: Südafrika hat sich in den letzten fünfzehn Jahren zu einem traurigen Musterbeispiel schlechter Regierungsführung entwickelt. Dies hängt entscheidend mit der katastrophalen Regierungsbilanz der ehemaligen Befreiungsbewegung zusammen. Südafrika hat ein kaputtes Bildungssystem, eine zunehmend dysfunktionale Strafjustiz und marode Staatsunternehmen, wie beispielsweise den Energiekonzern ESKOM, der für ständige Stromausfälle verantwortlich ist. 

30 Jahre nach Beendigung der Apartheid entscheidet die Hautfarbe noch immer über die Lebensumstände.

Im Jahr 2023 wurde bis zu acht Stunden am Tag der Strom abgestellt, um den kompletten Kollaps des Elektrizitätsnetzes zu verhindern. Die Schäden für Volkswirtschaft und Privathaushalte sind enorm. Große Teile der ärmeren, vor allem schwarzen Bevölkerungsmehrheit sitzen dann buchstäblich im Dunkeln, da sie sich teure Solaranlagen auf den Dächern nicht leisten können. Die Stromkrise trägt folglich auch zur Verschärfung der sozialen Ungleichheit im Land bei. Nebenbei führt die Strom- auch zu einer Wasserkrise: Weil die Kläranlagen und Leitungssysteme Strom benötigen, gibt es in den ärmeren Regionen des Landes häufig kein sauberes Wasser zum Trinken und Waschen. 

Die Misere der schwarzen Bevölkerung

Allerdings sind nicht alle Südafrikaner der Misere gleichermaßen ausgesetzt, denn die Hautfarbe ist auch 30 Jahre nach Beendigung der Apartheid noch immer ein entscheidender Faktor, der über die Lebensumstände entscheidet. Arbeitslosigkeit, Armut und Ungleichheit treffen nach wie vor in überdurchschnittlichem Maße die schwarze Bevölkerung, und hier besonders junge schwarze Frauen. 

Rund 43 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt. Jedes Jahr treten etwa 700.000 junge Menschen neu in den Arbeitsmarkt ein. Um die Zahl der Arbeitslosen nachhaltig zu reduzieren, würde man eine jährliche BIP-Wachstumsrate von mindestens sechs Prozent benötigen. Davon ist Südafrika weit entfernt. In den vergangenen Jahren lag das Wirtschaftswachstum unter einem Prozent.

Ein giftiger Cocktail aus Arbeitslosigkeit, zügelloser Kriminalität und schwachem Wirtschaftswachstum, begleitet von ausufernder Korruption und Vetternwirtschaft des ANC, führte zu steigendem Misstrauen der Bevölkerung in Politiker, Parteien und staatliche Institutionen. In Umfragen, die im Vorfeld der Wahlen durchgeführt wurden, sagten über 80 Prozent der Menschen, dass sich das Land am Kap in die falsche Richtung bewege.

Kein Vertrauen in die Demokratie

Ein klarer Indikator hierfür ist der historische Tiefstand der Wahlbeteiligung: Weniger als 40 Prozent der wahlberechtigten Südafrikaner gaben Ende Mai ihre Stimme ab. Dieser niedrige Wert untergräbt nicht nur die Legitimität der gewählten Volksvertreter, sondern den Prozess der demokratischen Willensbildung insgesamt.

Die sinkende Akzeptanz demokratischer Strukturen wurde auch in unserer Arbeit als Konrad-Adenauer-Stiftung im Vorfeld der Wahlen immer wieder deutlich. In vielen Seminaren zum Thema „Wählerbildung” in Townships beklagten arbeitslose Jugendliche die mangelnden Zukunftsaussichten einer verlorenen Generation und erklärten, dass für sie die Regierungsform, ob Demokratie oder autokratisches System, keine Rolle spiele. Hauptsache, die Regierung schaffe neue Arbeitsplätze. Solche jungen Menschen sind besonders anfällig für die vermeintlich einfachen Lösungen autoritärer Politik. 

Vom Versprechen Nelson Mandelas, ‚ein besseres Leben für alle Südafrikaner‘ zu schaffen, ist wenig geblieben.

Zudem hört man regelmäßig die Aussage: „Die Demokratie versagt, wenn es um unsere Zukunft geht!“ Eine besorgniserregende Entwicklung, die Populisten die Tür öffnet. Nicht ohne Grund finden linksradikal-populistische Parteien wie etwa die Economic Freedom Fighters (EFF) oder die neue MK-Partei (uMkhonto weSizwe: „Der Speer der Nation“) des ehemaligen Staatspräsidenten Jacob Zuma besonders in der armen schwarzen Jugend viele Anhänger. 

Trotz der Kritik an der Regierungsführung des ANC und der damit zusammenhängenden Demokratieverdrossenheit der Menschen darf nicht vergessen werden: Es war genau diese Partei, die das Land nach Beendigung der Apartheid in eine stabile Demokratie führte und allen Bevölkerungsgruppen gleiche Rechte als Staatsbürger gewährte. Zudem haben führende Repräsentanten der ehemaligen Befreiungsbewegung, allen voran Nelson Mandela, erfolgreich verhindert, dass das Land Anfang der neunziger Jahre in einen blutigen Bürgerkrieg abrutschte. 

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Zahlen & Fakten

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Zu einer fairen Gesamtbetrachtung gehört auch, dass Südafrika – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern auf dem afrikanischen Kontinent – über widerstandsfähige staatliche Institutionen verfügt. Es finden regelmäßig freie und faire Wahlen statt, und es greift das Prinzip der Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Darüber hinaus besitzt die Regenbogennation eine der modernsten und liberalsten Verfassungen weltweit, die unter anderem die Menschenrechte umfassend definiert und damit verbundene Freiheitsrechte unter besonderen Schutz stellt. Die Medien sind weitestgehend unabhängig, und Südafrika hat eine aktive, robuste Zivilgesellschaft. 

Dennoch ist dreißig Jahre nach dem klaren Wahlsieg des ANC im Jahr 1994 vom Versprechen Nelson Mandelas, „ein besseres Leben für alle Südafrikaner“ zu schaffen, wenig geblieben – obwohl die ersten fünfzehn Jahre nach Beendigung der Apartheid überwiegend gute Jahre für das Land waren. 

Bildlich gesprochen lief die erste Halbzeit unter der Leitung der Spielführer Nelson Mandela und Thabo Mbeki recht rund: Die ANC-Regierung betrieb eine solide Wirtschafts- und Finanzpolitik, die weltweit Anerkennung fand. Große Teile der unterprivilegierten schwarzen Bevölkerung erhielten Zugang zu Strom und fließendem Wasser. Diese Epoche in der jungen Demokratie war durch stetiges Wirtschaftswachstum geprägt, aus dem eine neue und selbstbewusste schwarze Mittelschicht hervorging. Südafrika entwickelte sich zu einem attraktiven Wirtschaftsstandort, nicht zuletzt für ausländische Investoren. 

Allgegenwärtige Korruption

Andererseits wurde in jener Zeit auch damit begonnen, wichtige Ämter in Politik und Verwaltung mit ANC-Parteikadern zu besetzen, die oft nicht über die notwendigen Qualifikationen verfügten („cadre deployment“). Damit war der Grundstein für Korruption und Vetternwirtschaft gelegt. Darüber hinaus wurde zu wenig in die notwendige Instandhaltung der Infrastruktur des Landes investiert, was sich Jahre später bitter rächen sollte. 

Die ausufernde Korruption durchzieht alle Lebensbereiche. Und sie trifft nicht nur Investoren – wenn es etwa um staatliche Aufträge geht – sondern auch die Bevölkerung. So wartet man als armer Student in vielen Fällen lange Zeit auf staatliche Fördergelder, da diese im Behördensumpf versickern. Das hat weitreichende Konsequenzen: Viele Studenten schreiben ihre Abschlussprüfungen mit leerem Magen und haben kein Geld, um nach den Prüfungen nach Hause zu fahren. Manche müssen in den Universitätsbibliotheken schlafen, weil sie die ihnen gesetzlich zustehenden Sozialleistungen nicht erhalten. Oder ein anderes Beispiel: Wer als Bürger bei der örtlichen Polizeistation eine Anzeige erstatten möchte, muss oft erst die Beamten bestechen, damit sie ihre Arbeit tun. 

Verlorene Jahre

Der rasante Niedergang des Landes setzte in der zweiten Halbzeit ein, als sich die erfolgsverwöhnte Partei entschied, Jacob Zuma für Thabo Mbeki auf das Spielfeld zu schicken. Die Amtszeit Zumas von 2009 bis 2018 wird als „nine lost years“ in die Geschichtsbücher eingehen. Das Land büßte an Wirtschaftskraft ein und verzeichnete einen parallel verlaufenden Anstieg an Armut und Kriminalität. Es begann auch die Zeit des State Capture, also der systematischen Korruption, in der eine gierige politische Elite das Land zur Beute machte und staatliche Institutionen schrittweise aushöhlte. 

Nach der Absetzung Zumas erhoffte man sich von seinem Nachfolger, dem noch heute amtierenden Präsidenten Cyril Ramaphosa, einen Neuanfang. Doch anstatt – um in der Fußballer-Sprache zu bleiben – mutig nach vorne zu spielen und Reformvorhaben umzusetzen, verschanzte sich Ramaphosa in der eigenen Spielhälfte. Er gilt als entscheidungsschwach und von der Prämisse geleitet, die Einheit des ANC – einer gesellschaftlichen Sammelbewegung mit unterschiedlichen, untereinander konkurrierenden Flügeln – vor das Wohl des Landes zu stellen. 

Aus der anfänglichen „Ramaphoria“ und der versprochenen „neuen Morgendämmerung“ wurde eine Zeit leerer Versprechen. So setzte sich der stete Niedergang der Regenbogennation weiter fort. Nach der Wahl besteht nun die Chance auf einen Neubeginn. Südafrika hätte ihn verdient. 

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Conclusio

Demokratie. Der ANC akzeptierte nicht nur sein verheerend schlechtes Wahlergebnis (keine Selbstverständlichkeit für ehemalige Befreiungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent), sondern entschloss sich auch, eine „Regierung der Nationalen Einheit“ zu bilden.
Parteien. Wichtige Teile dieser Mehrparteienkoalition sind die wirtschaftsliberale Demokratische Allianz (DA) und die wertkonservative Inkatha Freedom Party (IFP).
Verantwortung. Zeigen die handelnden Führungspersonen Pragmatismus und politische Reife, kann die Regenbogennation den Pfad eines „gescheiterten Staats“ verlassen.

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