Wann explodiert das Pulverfass Taiwan?
China und die USA versuchen in Taiwan ihren Einfluss zu vergrößern – auch mit militärischen Drohgesten. 2024 wählen die Bürger Taiwans einen neuen Präsidenten und müssen dabei auch entscheiden, welcher Weltmacht sie sich zuwenden.
Auf den Punkt gebracht
- Südpazifik. Taiwan als vorgelagerte Insel Chinas hat eine strategisch wichtige Rolle in der Weltpolitik. Hier treffen die Ideen Chinas und der USA aufeinander.
- Innenpolitisch. Der Inselstaat ist auch innerlich gespalten in ein pro-amerikanisches und ein pro-chinesisches Lager. 2024 stehen Wahlen an.
- Kolonialgeschichte. Seit Jahrhunderten wird um die Insel gerungen. Dabei hatten viele Mächte ihre Hand im Spiel.
- Wirtschaftsmacht. Taiwan ist Weltmarktführer in der Halbleiterproduktion und insofern für das Funktionieren der gesamten digitalen Welt entscheidend.
Die Präsidentin von Taiwan, Tsai Ing-wen, besuchte Anfang April die USA. Es war eine heikle Reise. Politikern des Inselstaats ist es eigentlich nicht erlaubt, in Länder zu reisen, mit denen keine diplomatischen Beziehungen unterhalten werden. Aber Tsai Ing-wen nützte ein Schlupfloch; einige Stunden Aufenthalt im Transit sind gestattet. Zuerst war die Präsidentin kurz in New York, im Anschluss an ihre Reise nach Südamerika machte sie in Kalifornien noch einmal Zwischenstopp und traf den Vorsitzenden des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy.
Taiwan zwischen China und der USA
Etwa gleichzeitig reiste Tsai Ing-wens Amtsvorgänger Ma Ying-jeou in die Volksrepublik China und blieb dort länger als eine Woche. In der chinesischen Welt wird Ende März das Totengedenkfest begangen, und der Ex-Präsident besuchte die Grabstätten seiner Vorfahren. Dabei erwies er nicht nur seiner Familie, sondern auch dem Gründungsvater der Republik China die Ehre. In Nanjing besuchte Ma Ying-jeou das Mausoleum von Sun Yat-sen, der als Vater der ersten Republik in Asien gilt.
Beide Besuche markierten den ersten Höhepunkt im Wahlkampf um die Übernahme der Präsidentschaft auf Taiwan, über die im Jänner 2024 entschieden wird. Die Wahl wird für die weitere Entwicklung der Insel von entscheidender Bedeutung sein.
Zahlen & Fakten
Um die Nachfolge von Tsai Ing-wen wird in ihrer Demokratischen Fortschrittspartei noch gerungen. Sie hat mit ihrer Reise jedoch gezeigt, in welche Richtung es im sogenannten grünen Lager gehen soll. Taiwans enge Bindung an die USA habe dem Land, so ihr Argument, den Frieden der letzten 75 Jahre beschert. Deshalb müssten die Wähler sich auch für die kommenden Jahre weiterhin zu einer engen Allianz mit den USA bekennen.
Auch die Kuomintang von Ma Ying-jeou hat ihre Entscheidung über die Präsidentschaftskandidatur noch nicht bekannt gegeben. Mit seiner Reise setzt der Altpräsident die Partei und das sogenannte blaue Lager unter Zugzwang.
Insel als Zankapfel
Seine Erzählung ist der von Tsai Ing-wen diametral entgegengesetzt. Er möchte, dass die Spannungen zwischen dem Festland und Taiwan aufhören und die Führungen in der Volksrepublik China und auf Taiwan wieder zu dem Konsens von 1992 zurückkommen, den Präsidentin Tsai aufgekündigt hat. Diese Vereinbarung sah vor, dass beide Seiten am Ein-China-Prinzip festhalten und auf dieser Grundlage den Status quo bewahren.
Taiwan ist eine junge Demokratie, aber die Taiwaner beherrschen die Kunst des Möglichen in der Politik.
Präsidentin Tsai spricht dagegen von ihrem Staat als der „Republik China auf Taiwan“, die ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Festland verteidigt. Beide Parteien haben damit deutlich gemacht, dass es in dieser Wahl nicht um mehr oder weniger Steuern, mehr oder weniger Wohlfahrt und mehr oder weniger Demokratie geht. Es geht um die Frage, wie Taiwan sich in der internationalen Ordnung positioniert und ob es – kurz gesagt – auf Zusammenarbeit mit den USA oder mit der Volksrepublik China setzt. Obwohl Taiwan eine junge Demokratie ist, haben die Wählerinnen und Wähler immer wieder unter Beweis gestellt, dass sie politisch sehr durchdachte Entscheidungen treffen und sich der Tatsache bewusst sind, dass es unter den gegebenen Umständen keine ideale Lösung gibt. Die Taiwanerinnen und Taiwaner beherrschen die Kunst des Möglichen in der Politik.
Geografische Sonderstellung
Taiwan liegt geografisch zwischen Japan und China und hat im indopazifischen Raum eine geopolitisch äußerst wichtige Stellung. Ursprünglich von Einwanderern aus dem Südpazifik besiedelt, entdeckten im 17. Jahrhundert Spanien und die Niederlande die Bedeutung der Insel und bauten sie zu einem Handelsstützpunkt aus. Von hier aus konnten sie mit Hilfe der in der Gegend mächtigen Piraten sowohl mit Japan als auch mit China Handel treiben. Bald entdeckten auch Siedler vom chinesischen Festland, dass die Insel vor allem in den Küstengebieten sehr fruchtbar ist, setzten vom Festland über und verdrängten die heute Ureinwohner genannten Polynesier in die Berge.
Teil der staatlichen Organisation auf dem chinesischen Festland wurde Taiwan erst im 17. Jahrhundert. Gegner der damals auf dem Festland herrschenden mandschurischen Qing-Dynastie mussten ihr kurzlebiges unabhängiges Königreich Dongningguo aufgeben. Eine eigenständige Provinz des Qing-Reiches wurde Taiwan jedoch erst 1885, und auch diese Situation hielt nur kurz an. Das Qing-Reich hatte seinen ersten Krieg gegen Japan im Jahr 1895 ver-loren. Der Friedensvertrag von Shimonoseki machte Taiwan zur japanischen Kolonie. Nur drei Wochen lang konnten die Bewohner Taiwans ihren neu gegründeten unabhängigen Staat, die Republik Formosa, aufrechterhalten. Dann mussten sie sich den neuen Umständen beugen.
Ringen um Unabhängigkeit Taiwans
Die Eingliederung in die Republik China erfolgte durch den Beschluss der Konferenz von Kairo im Jahr 1943. Generalissimus Tschiang Kai-schek, Roosevelt und Churchill kamen überein, dass Taiwan nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu China gehören sollte aus der Geschichte, dass man die Insel brauchte, um sich im Fall einer Niederlage im Bürgerkrieg notfalls dorthin zurückzuziehen.
So kam es denn auch: Ab 1948 zogen sich die Regierungsinstitutionen unter Führung der Kuomintang sukzessive nach Taiwan zurück. Als Mao am 1. Oktober 1949 auf dem Tian’anmen-Platz in Peking die Gründung der Volksrepublik China verkündete, dankte die Republik China nicht ab, sondern ihr Präsident und Oberbefehlshaber Tschiang Kai-schek erklärte, der Bürgerkrieg werde weitergehen, bis die Republik China von Taiwan aus die Herrschaft über das chinesische Festland wiederhergestellt und die Kommunisten vertrieben habe.
Weißer Terror
Das war seine Version der Ein-China-Politik, die bis heute von der Kuomintang vertreten wird. Tschiang machte seinerzeit die USA dafür verantwortlich, dass er das Festland hatte aufgeben müssen. Im Gegensatz zur Sowjetunion, die die Machtübernahme der Kommunisten unterstützt hatte, übte sich die US-Regierung in Zurückhaltung. Sie hielt die Regierung Tschiang Kai-schek für korrupt. Erst im Zuge des Koreakrieges integrierten die USA Taiwan in ihr Sicherheitskonzept für den asiatisch-pazifischen Raum und ermöglichten durch militärischen Schutz und finanzielle Unterstützung die Aufrechterhaltung von Tschiang Kai-scheks Regime.
Heute nennt man diese Phase auf Taiwan die Zeit des „weißen Terrors“. Das Land lebte unter Kriegsrecht, von Demokratie keine Spur. Wie auch in vielen anderen Teilen der Welt scheuten die USA damals nicht davor zurück, schlimmste Diktaturen zu unterstützen, wenn dies dazu beitrug, die Sowjetunion zu schwächen. Mit der Aufnahme der Volksrepublik China in die UNO verlor Taiwan von einem Tag auf den anderen die Funktion als einzige Repräsentantin Chinas auf der internationalen Bühne. Hatte vorher die Mehrheit der Länder die Republik China auf Taiwan diplomatisch anerkannt, erkannten nun immer mehr Länder die Volksrepublik China diplomatisch an. Es ist kein Geheimnis, dass hinter dieser Entwicklung die Annäherung zwischen den USA und der Volksrepublik China stand.
Taiwan als Computerchips-Weltmarktführer
Die Bürger Taiwans machten also die Erfahrung, dass immer wieder andere über ihr Schicksal entschieden. Dennoch ist das Land heute eine Demokratie und gehört wegen seiner florierenden Hochtechnologie zu den reichsten der Welt. Berühmt ist Taiwan vor allem für seine Chip-Produktion. Doch im Ringen der Hegemonialmächte kommt die Insel nun wieder unter Druck.
Seit dem Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan im Sommer 2022 hat die chinesische Marine das Gebiet nicht mehr verlassen und rückt immer näher an die taiwanische Küste heran; amerikanische Flugzeugträger der Siebten Flotte stehen ihr gegenüber. Über der Insel hört man tagtäglich das Donnern der Militärjets, die vom Festland aus die Luftwaffe Taiwans herausfordern.
Bisher war die Situation im Auge des Taifuns ausgesprochen ruhig. Die Menschen auf Taiwan genossen überwiegend ein entspanntes Leben in einer von der Natur reich beschenkten Landschaft. Mit Beginn des Krieges in der Ukraine ist jedoch alles anders geworden. Die von den USA angeführte Welt stellt sich Russland entgegen und versucht dabei zugleich, China einzubremsen. In Europa ist es die Ukraine, auf deren Territorium die Auseinandersetzung stattfindet; in Ostasien ist es Taiwan.
Mit der Wahl im Jänner 2024 können die Bürger Taiwans der Welt zeigen, welchen Weg sie gehen wollen. Noch lässt sich nicht absehen, ob sie weiter-hin auf den Schutz der USA setzen oder doch wieder eine Annäherung an Festlandchina suchen wollen. Doch alle Umfragen zeigen klar: Die Bevölkerung möchte den Status quo bewahren.
Conclusio
Die bis heute de facto eigenständige Insel Taiwan blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Ihre günstige Lage machte sie von jeher zum Zankapfel zwischen Japan und China. Aktuell ist die Insel geostrategisch für den Indopazifik von größter Bedeutung, prallen dort doch die Interessen der USA und Chinas aufeinander. Dabei geht es um die Vorherrschaft in der Region und um wirtschaftliche Interessen. Taiwan ist als Hersteller von Computerchips Weltmarktführer und spielt damit eine Schlüsselrolle in der globalen Digitalisierung. Nicht zuletzt ist Taiwan auch innenpolitisch in ein prochinesisches und ein amerikanisch orientiertes Lager gespalten. Anfang 2024 finden Präsidentschaftswahlen statt. Sie werden als weichenstellend für die Zukunft des Landes, der Region und der gesamten Welt eingestuft.
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