Die neue Speerspitze des Terrorismus
Mit verheerenden Anschlägen ist der „Islamische Staat Khorasan Provinz“ global ins Rampenlicht gerückt. Jetzt hat die Terrororganisation die Olympischen Spiele im Visier.
Auf den Punkt gebracht
- Terrorismus. Spätestens seit dem Anschlag in Moskau im März 2024 mit mindestens 144 Toten steht das afghanische Terror-Franchise ISKP im weltweiten Rampenlicht.
- Propaganda. Die Terroristen organisieren sich in geschlossenen Chat-Gruppen, wo sie junge Jihadisten anwerben und Ziele und Angriffsmethoden erörtern.
- Deutschland. Als europäische Operationsbasis scheint sich Nordrhein-Westfalen etabliert zu haben, es gibt aber auch Kontakte nach Österreich.
- Olympia. Frankreich ist während der Sommerspiele besonders gefährdet, aber die Gefahr einer neuen islamistischen Terrorwelle in Europa besteht darüber hinaus.
Der „Islamische Staat Khorasan Provinz“ (ISKP), ein regionaler Ableger der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS), wurde rund um das Jahr 2015 als eine Art Franchise der ursprünglichen Kerngruppe in Afghanistan gegründet. Seinen Namen verdankt das lokale Terrornetzwerk der grenzüberschreitenden historischen Region Khorasan (Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan), wo einer apokalyptischen Prophezeiung Mohammeds zufolge der „Endkampf“ gegen die „Ungläubigen“ ausgetragen werden sollte.
Seit geraumer Zeit strebt der ISKP nach globaler Geltung und unterstreicht dies durch teilweise spektakuläre Anschläge im Westen, aber auch im Iran, in Russland oder der Türkei. Seine transnationale Bedeutung als Terrororganisation verdankt das afghanische Terror-Franchise seinen grenzüberschreitenden Ambitionen und operationellen Fähigkeiten, sowie einer ausgefeilten Propagandastrategie.
Hinzukommt eine veritable Finanzierungsbasis des ISKP, mehrheitlich aus privaten Spenden jenseits der 100 Mio. Dollar-Grenze und staatlichen Zuwendungen im mittleren zweistelligen Millionenbereich aus dem arabischen Raum- genannt werden in der einschlägigen Literatur die „üblichen Verdächtigen“ in dieser Hinsicht: Qatar, Kuwait, Saudi-Arabien.
Über die Führungsstrukturen der Terrororganisation ist wenig bekannt, jedoch geht man davon aus, dass die Führungseliten des ISKP mehrheitlich Tadschiken sein sollen. Der ehemalige afghanische Anführer Sanaullah Ghafari, bekannt unter seinem nom de guerre Shahab al-Muhajir, soll 2023 von den Taliban getötet worden sein. Dies ist allerdings nicht bestätigt. Anderslautenden Berichten zufolge soll er mit Verletzungen über die Grenze nach Pakistan entkommen sein und nun in der Grenzprovinz Belutschistan Unterschlupf gefunden haben.
Die Planer im Hintergrund
Die inspirative Wirkung des ISKP auf Jihadisten in Europa ist enorm. Und die prekäre Lage in und rund um Gaza sowie deren einseitige Interpretation durch Islamisten beflügelt den Zustrom einer radikalisierten Anhängerschaft, vor allem in West- und Zentraleuropa.
Im virtuellen Raum bildet sich eine Anhängerschaft immer jüngerer Radikalisierter heraus, die massiv zur Profilierung des ISKP innerhalb des islamistischen Spektrums beiträgt. Tendenziell immer Jüngere – häufig Teenager – organisieren sich in einschlägigen Telegram-Gruppen und huldigen der „frischen Kraft“ am islamistischen Horizont.
Zahlen & Fakten
Die geschlossenen Chat-Gruppen dienen als virtueller Planungshub für Terroranschläge. Derartige Anleitungen können einerseits Empfehlungen zur Wahl des Ziels oder Angriffsmethode sein, aber ebenso ideologische und/oder logistische Unterstützung bieten. In der Umsetzung sind die angeleiteten Terroristen meist frei und flexibel – sie bestimmen über das „Wann“, „Wie“ und „Wo“.
Blaupause für weitere Anschläge
Spätestens seit dem verheerenden Terroranschlag in der Moskauer Crocus City Hall am 22. März 2024, bei dem mindestens 144 Todesopfer und mehr als 360 Verletzte zu beklagen waren, ist der Daesh-Ableger ISKP auch in unseren Breitengraden auf breite Aufmerksamkeit gestoßen.
Die Umsetzung des Terroraktes lässt bei einschlägig befassten Experten Reminiszenzen hinsichtlich des Bataclan Anschlags vom 13. November 2015 aufkommen. Die frappierenden Ähnlichkeiten in der Durchführung sind nicht zu übersehen und deuten auf eine Imitation eines „bewährten“ taktischen Schemas hin. Die Bilder der Attacke haben einerseits die brutale, zugleich perfide Vorgehensweise der Attentäter und andererseits ein hohes Maß an taktischer Disziplin sowie eine akribische Vorbereitung der Planer im Hintergrund offenbart.
Die olympischen Sommerspiele in Paris sind als potenzielles Terrorziel in den Fokus des ISKP gerückt.
Wir müssen davon ausgehen, dass das Durchführungsmuster dieses Anschlags eine Art Blaupause für zukünftige Terroranschläge des ISKP in Europa sein wird. Regelmäßig werden seitens des IS-Ablegers solche angekündigt und entsprechende Drohungen verlautbart – zuletzt im Vorfeld und während der Fußballeuropameisterschaft in Deutschland. Zudem sind die olympischen Sommerspiele in Paris als potenzielles Terrorziel in den Fokus des ISKP gerückt.
Operationsbasis Deutschland
Deutschland, und Nordrhein-Westfalen (NRW) im Besonderen, scheint zu einer Art Operationsbasis des ISKP in Europa geworden zu sein. Der Großteil der 23 in Deutschland verhafteten mutmaßlichen ISPK-Anhänger gelangten sehr wahrscheinlich mit dem Flüchtlingsstrom aus der Ukraine nach Europa. In der Ukraine gibt es seit rund zehn Jahren eine zahlenmäßig zwar überschaubare, aber sehr aktive jihadistische Szene, die hauptsächlich aus Zentralasiaten und Kaukasiern besteht. Einige ihrer Mitglieder verfügen offenbar über Kampferfahrung, da sie für den IS in Syrien gekämpft haben dürften. Sehr wahrscheinlich hat sich bedingt durch die Fluchtmigration seit 2022 auch das Epizentrum des ISKP nach NRW verlagert.
Im Juli 2023 nahmen die deutschen Bundesbehörden und die niederländische Justiz in einer konzertierten Aktion im lokalen Umfeld neun mutmaßliche ISKP-Mitglieder fest. Die verdächtigte Gruppe traf sich dutzende Male. Bei den Treffen mit ISPK-Kadern sollen mögliche Terroranschläge innerhalb der EU besprochen worden sein.
Die Zelle, die hauptsächlich aus tadschikischen Staatsangehörigen besteht, wird verdächtigt, den Deutzer Kirmes (einen Vergnügungspark) und die liberale "Ibn Rushd Goethe"-Moschee in Berlin, die sich offen für einen toleranten Islam und die LGBTQ-Community einsetzt, ausgespäht zu haben, um deren Eignung für einen Anschlag zu prüfen.
Deutschland, und Nordrhein-Westfalen (NRW) im Besonderen, scheint zu einer Art Operationsbasis des ISKP in Europa geworden zu sein.
Ihre Kontakte reichten offenbar bis nach Österreich, zu jener länderübergreifenden Zelle, die vermutlich für die Silvesternacht Anschläge auf Kathedralen in Köln, Wien und ein nicht näher definiertes Ziel in Madrid plante. Zudem sollen die fortgeschrittenen Pläne für einen Anschlag auf die Vienna Pride wahrscheinlich mit einer deutsch-tadschikischen ISKP-Zelle koordiniert worden sein.
Die deutsche Polizei berichtete von einem verdeckten Informanten, der erwähnte, dass „drei Brüder“ in Österreich verhaftet worden seien, die im Sommer 2023 beabsichtigten, das Wiener LGBTQ-Festival mit in Deutschland genehmigten Aufträgen anzugreifen. Die Präferenz der ISKP-„Strategen“, diese Gruppe zu unterstützen, fiel offenbar bewusst auf das im Verdacht stehende österreichische Trio, da jüngere Jihadisten aufgrund ihrer Straf(un)mündigkeit nur geringe oder keine Haftstrafen zu erwarten hätten.
Zwischenzeitlich wurden in Österreich die drei Verdächtigen rund um das Pride-Szenario aus der Untersuchungshaft entlassen, die Ermittlungen dauern jedoch weiterhin an. Die Gefahr durch den islamistischen Terrorismus bleibe „akut“, warnte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser und bezeichnete den IS-Ableger als die derzeit „größte islamistische Bedrohung in Deutschland“.
Olympia im Visier
Europa steht in diesem Sommer der Sportgroßereignisse aus gutem Grund unter höchster Alarmbereitschaft in Hinblick auf die terroristische Bedrohung durch den ISKP bzw. dessen Anhänger. Erst Anfang Juni, also knapp eine Woche vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft 2024 in Deutschland, verhaftete die Polizei am Kölner Flughafen einen mutmaßlichen ISKP-Unterstützer mit deutsch-marokkanisch-polnischer Staatsangehörigkeit. Dieser lenkte den Verdacht der Behörden auf sich, nachdem er angeblich fast 1.700 Dollar über eine Kryptowährungsbörse an den ISKP überwiesen und sich für einen Job als Ordner und Sicherheitskraft (!) bei Public Viewings beworben hatte.
Frankreich stand kontinuierlich an der Spitze der attraktiven Terrorziele.
Mitte Juni warnten die deutschen Behörden öffentlich vor der Möglichkeit eines groß angelegten ISKP-Angriffs in Deutschland. „Ein sehr gefährliches Szenario wäre zum Beispiel, dass sogenannte Hit-Teams aus dem Ausland nach Deutschland einreisen oder vielleicht einzelne Mitglieder auch schon eingereist sind, die als Gruppe einen Anschlag begehen“, stellte Thomas Haldenwang, Leiter des deutschen Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) in den Raum.
Zwar erweist sich die terroristische Bedrohung durch den IS und dessen Ableger für Westeuropa als transnational, trifft zumindest seit 2019 aber vor allem Frankreich, das Vereinigte Königreich und Deutschland am stärksten. Frankreich stand dabei sowohl vor als auch nach dem Zusammenbruch des territorialen IS- „Kalifats“ kontinuierlich an der Spitze der attraktiven Terrorziele.
Zwar werden aus nachrichtendienstlichen und ermittlungstaktischen Gründen nicht sämtliche vereitelten Terrorpläne oder Anschlagsszenarien einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Doch die veröffentlichten Daten zeigen, dass Frankreich im Zeitraum von 2019 bis 2024 eine deutlich geringere Verhinderungsquote aufweist als das Vereinigte Königreich oder Deutschland. Dem anerkannten norwegischen Sicherheits- und Verteidigungsforschungs- Think Tank „Norwegian Defence Research Establishment“ (FFI) zufolge wurden in diesem Zeitraum in Frankreich nur 29 Prozent der öffentlich bekannten Anschläge vereitelt (fünf von 17 Fälle), verglichen mit einer Vereitelungsquote von 58 Prozent im Vereinigten Königreich (sieben von 12) und sogar 94 Prozent in Deutschland (15 von 16).
Die niedrige Vereitelungsquote ist ein besorgniserregender Indikator für eine konstante Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus, insbesondere in Hinblick auf die Olympischen Spiele in Paris. In regelmäßigen Abständen kommen seit geraumer Zeit Fälle radikalisierter Islamisten mit fester Tatabsicht ans Tageslicht, die Schlupflöcher und gravierende Mängel im französischen Sicherheitssystem offenbaren.
Conclusio
Im April 2024 sagte FBI-Direktor Christopher Wray, dass „die Bedrohung durch ausländische Terroristen nach dem 7. Oktober ein völlig neues Niveau erreicht“ habe. Auf beiden Seiten des Atlantiks muss man ergänzen. Möglicherweise aufgrund der aktuellen Sportgroßereignisse noch stärker in Europa. Die derzeit zugespitzte Gemengelage rund um den Gaza-Krieg, das kontinuierliche Erstarken des ISKP und die eklatanten Defizite Europas, diesen extremistischen und militanten Bedrohungen effektiv im supranationalen Zusammenspiel entgegenzuwirken, verheißt nichts Gutes. Hinzu kommt die nahezu vollständige Abhängigkeit von amerikanischen Nachrichtendienstinformationen. Hier hat ganz Europa einen eklatanten Nachholbedarf. Man muss kein Pessimist sein, um nachvollziehen zu können, dass die Wahrscheinlichkeit für eine erneute islamistische „Terrorwelle“ in Europa wie jener zwischen 2015 und 2018 deutlich gestiegen sein dürfte.
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