Das Morden geht weiter

Drei Jahre lang gab es in Europa kaum Terrorattentate. Doch in Afrika und Afghanistan wachsen neue Extremisten heran und die Hamas-Angriffe auf Israel könnten zu weiteren Terroranschlägen motivieren.

Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen und seine Frau Brigitte Van der Bellen am Tag nach der tödlichen Schießerei am 03. November 2020 in Wien bei der Kranzniederlegung im Stadtzentrum.
Alexander Van der Bellen am Tag nach der tödlichen Schießerei im November 2020 in Wien bei der Kranzniederlegung im Stadtzentrum. Am Allerseelenabend zuvor tötet Kujtim F., ein 20-jähriger Islamist mit nordmazedonischen Wurzeln, in einem terroristischen Amoklauf vier Menschen und verletzt 23 weitere. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Anschlag in Wien. Am 2. November jährt sich der Terroranschlag in der Wiener Innenstadt, bei dem vier Menschen ermordet worden sind.
  • Trügerische Ruhe. Der Anschlag war Teil einer von vielen unerwarteten Welle islamistischer Gewalt im Jahr 2020. Auch jetzt ist die Lage brandgefährlich.
  • Islamischer Staat. Aktuell konsolidiert sich der IS Afghanistan und fasst in Syrien wieder Fuß. Subsahara-Afrika wird zur Terrorismus Hochburg.
  • Hamas-Terror. Das Pogrom in Israel am 7. Oktober dürfte die islamistische Szene weltweit beflügeln, mit Anschlägen ist zu rechnen.

Der 2. November 2020 war für Österreich – und besonders für Wien – ein einschneidender Moment. An einem lauen Allerseelenabend unmittelbar vor dem zweiten Corona-Lockdown tötet Kujtim F., ein 20-jähriger Islamist mit nordmazedonischen Wurzeln, in einem terroristischen Amoklauf vier Menschen und verletzt 23 weitere. Mit einem Schnellfeuergewehr und einer Pistole feuert er wahllos auf Passanten und Gäste der Straßencafés und zieht innerhalb von neun Minuten eine blutige Schneise des Terrors durch das „Bermudadreieck“, eine beliebte Wiener Ausgehmeile.

Hit and run

In der Terrorismusforschung spricht man bei derartigen Szenarien von einer „Mumbai-Stil-Attacke“. Bei den Großanschlägen im indischen Mumbai am 26. 11. 2008 wurden insgesamt 166 Menschen getötet und 304 verletzt. Kennzeichnend für diese von mehreren Hit-Teams simultan durchgeführten Attacken war die Taktik des „Hit and run“: Mit Schnellfeuerwaffen ausgerüstete Terroristen streiften auf der Suche nach spontanen Zielen im Laufschritt durch urbane Zentren und feuerten dabei wahllos auf Unbeteiligte.

Nach diesem Muster gestaltete sich auch der Anschlag in Wien, allerdings handelte der Terrorist bei der Ausführung der Tat allein. Die Spezialkräfte der polizeilichen Sondereinheit WEGA konnten den Attentäter innerhalb von nur neun Minuten durch einen tödlichen Treffer ausschalten. Über die erstaunlichen Hintergründe, die Netzwerke des Attentäters und die zahlreichen Versäumnisse der Behörden (sowie deren Ursachen) im Vorfeld der Tat berichte ich ausführlich in meinem Buch Trügerische Ruhe.

Wien ist nicht tabu

Der Terroranschlag hat weite Teile des österreichischen Sicherheitsapparats schockiert. Über viele Jahre hinweg hatte dort die etwas naive Vorstellung dominiert, Österreich sei kein bevorzugtes Terrorziel bei islamistischen Akteuren. Vielfach herrschte die Meinung, dass Wien als neutraler Boden tabu sei.

Es werde schon nichts passieren. Wien sei zu klein. Wien sei zu unbedeutend. Österreich sei kein geopolitischer Player. So lauteten die Einschätzungen. Insgesamt war das subjektive Bedrohungsgefühl der österreichischen Bevölkerung und teilweise auch der Sicherheitsbehörden eher grundlos optimistisch – trotz der zunehmenden Internationalisierung des Terrorismus, insbesondere im dschihadistischen Spektrum seit dem Aufkommen des IS. Nur wenige Experten in Österreich rechneten damals mit einem Terroranschlag.

Dabei gab es ausreichend Hinweise: Auf sicherheitspolitischer Ebene bedeutsam waren Aspekte wie die zentrale Lage in Mitteleuropa, die Nähe zum Balkan, die zunehmende Vernetzung des islamistischen Terrors und die Wahrnehmung von Wien als Anlaufstelle und möglichem Rückzugsort für radikalislamistische Extremisten. Zudem verfügt Wien als mitteleuropäisches Drehkreuz – insbesondere zum Balkan – seit einigen Jahren über eine ausgeprägte, nach wie vor gefährliche dschihadistische Szene mit „großer ideologischer Strahlkraft“ (Guido Steinberg) und weitreichenden internationalen Verbindungen.

Wien war ein „weiches Ziel“.

Ich hatte seit 2015 immer wieder in medialen Statements betont, dass Wien von Dschihadisten als „weiches Ziel“ betrachtet werde. In der Szene hielt man es für einfacher, in Wien einen Terrorakt „erfolgreich“ durchzuführen als in anderen Städten, die mehr Vorkehrungen getroffen hatten. Vereitelte Terrorpläne in ganz Europa (auch in Wien) sowie konkrete Drohungen gegen Österreich verstärkten die Gefahrenlage.

Ein dschihadistischer Herbststurm

Im September 2020 herrschte Aufruhr in der dschihadistischen Szene, weil das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ zu Beginn der Gerichtsverhandlungen gegen mutmaßliche Mittäter des Terroranschlags auf die Redaktion von 2015 in einem Sonderheft erneut jene Mohammed-Karikaturen veröffentlichte, die damals für einen Sturm der Entrüstung gesorgt hatten.

Propagandisten nutzten die Bilder, um neue Rekruten zu gewinnen. Die verstärkte islamistische Mobilisierung auch im Internet mündete in einen dschihadistischen Herbststurm der Gewalt. Dieser fegte durch Europa und hinterließ eine blutige Spur. Es kam zu mehreren Anschlagsversuchen und terroristischen Attacken durch Einzeltäter, die mit Hieb- und Stichwaffen wehrlose Personen auf offener Straße angriffen. Fast alle dieser gewalttätigen Extremisten waren durch die islamistische Kampagne aufgrund der Mohammed-Karikaturen mobilisiert worden.

Antisemitismus und Homophobie

Den Anfang dieser schrecklichen Terrorserie in West- und Mitteleuropa markierte ein islamistisch und homophob motivierter Messerangriff in der Dresdener Altstadt am 4. Oktober 2020. Bei der Attacke wurde eine Person getötet und eine weitere schwer verletzt.

Weltweit für Aufsehen sorgte jedoch ein anderer Anschlag: Am 16. Oktober 2020 wurde der 47-jährige Geschichtslehrer Samuel Paty in einem Vorort von Paris von einem 18-Jährigen mit tschetschenischen Wurzeln auf offener Straße mit einem Messer enthauptet. Der Pädagoge hatte in seinem Geschichtsunterricht die Mohammed-Karikaturen gezeigt und eine kritische Diskussion im Klassenverbund angeregt. Der antisemitische Prediger Abdelhakim Sefrioui, ein Mitglied der sich als friedlich gerierenden Muslimbruderschaft, soll in diesem Fall mit einer gezielten Hass-Kampagne eine tragende Rolle gespielt haben. Ein paar Tage später, am 29. Oktober, tötete ein 21-jähriger Tunesier in der Kirche Notre-Dame-de-l’Assomption in Nizza drei Menschen. Auch hier legten die Ermittlungen einen Zusammenhang mit den Karikaturen nahe.

Der Wiener Terroranschlag vom 2. November ist ebenfalls in diesen dschihadistischen Herbststurm einzuordnen. Die kurze Periode von 2018 bis zur Gewaltwelle 2020 kann also in der Retrospektive als Ruhe vor dem Sturm gewertet werden. Hier drängt sich die Frage auf, ob die aktuelle Lage eine ähnlich trügerische Sicherheit vermittelt. Die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen sind derzeit jedenfalls nicht günstig.

Der Anschlag der islamistischen Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel, bei dem über 1.400 Israelis mit exzessiver Brutalität ermordet worden sind, dürfte Islamisten weltweit zu neuen Anschlägen motivieren. Dass Hamas-Sympathisanten von New York über Wien und Berlin bis Sydney das systematische Abschlachten von Juden feierten, könnte ein Menetekel dafür sein, was auf uns zukommt.

Erstarkung des IS

Auch die Entwicklung in Afghanistan ist besorgniserregend. Nach dem Abzug der westlichen Koalitionstruppen haben die Taliban die Macht übernommen. In deren Windschatten gelingt es sowohl al-Qaida als auch dem Islamischen Staat in Form des regionalen Ablegers IS-Khorasan (IS-K), sich zu konsolidieren. Das wirkt sich auf zwei Ebenen aus: Zum einen scheint das Land ein Rückzugsort und eine Brutstätte für dschihadistische Kämpfer und Organisationen zu werden. Zum anderen wird die Vertreibung der westlichen Besatzer durch die Taliban als „Erfolgsgeschichte“ des globalen Dschihad überliefert.

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Zahlen & Fakten

Mit der wieder erstarkten ideologischen Strahlkraft des IS könnte das ein Antrieb für das terroristische Geschehen im Westen werden und die Islamisten weiter beflügeln. So haben sich etwa die zuletzt festgenommenen, durchwegs sehr jungen Islamisten in Österreich immer wieder bewundernd auf den IS-K berufen. Da entsteht offenbar eine neue Szene. Die afghanische Fluchtmigration nach Europa, die sich nach der Machtübernahme der Taliban wieder verstärkt hat, muss auch vor diesem Hintergrund beurteilt werden.

Terror-Hochburg Afrika

Hinzu kommt die instabile politische Lage im Krisenbogen vom Maghreb über die Levante und den Euphrat bis nach Subsahara-Afrika. In Nordafrika bleibt die Sicherheitslage angespannt, und vor allem der IS versucht, in der Region Fuß zu fassen. Die Levante bleibt ebenso im Visier der Terrororganisation. Dem IS gelingt es im Irak und teilweise in Syrien weiterhin, landesweit terroristische Aktionen gegen Sicherheitskräfte, lokale Verwaltungsstrukturen und kritische Infrastruktur durchzuführen.

Der islamistische Terrorismus hat in weiten Teilen Afrikas auf alarmierende Weise zugenommen. Das in Algier ansässige African Centre for the Study and Research on Terrorism (ACSRT) der Afrikanischen Union (AU) berichtet, dass die Zahl der Anschläge in Afrika um 400 Prozent gestiegen ist und die Zahl der Todesfälle zwischen 2012 und 2020 um 237 Prozent zugenommen hat. Im Jahr 2023 wird wahrscheinlich fast die Hälfte der weltweiten Todesfälle durch Terrorismus in Subsahara-Afrika zu beklagen sein.

Wie die Wirtschaft hat sich auch der Terrorismus längst globalisiert. Die Lage ist brandgefährlich.

Die Anschläge haben sich über historische Brennpunkte wie die Sahelzone und das Horn von Afrika hinaus auf den Süden und die Küstenregionen Westafrikas ausgebreitet. Die Sahelzone ist das Epizentrum dschihadistischer Militanz. Die islamistische Gewalt dort nahm seit 2020 um satte 140 Prozent zu. Rund 60 Prozent aller derartigen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung werden in dieser Region verübt. Diese Eskalation der Gewalt trieb mehr als 2,5 Millionen Menschen in die Flucht und tötete im Vorjahr mehr als 8.000 Menschen.

Somalia bleibt im Würgegriff der Al-Shabaab-Milizen. Boko Haram gelang es, sich in Nigeria als feste Größe in der extremistischen Landschaft zu etablieren. In Mozambique bleibt der lokale IS-Ableger eine permanente Bedrohung. Fragile Staatlichkeit, versagende Demokratie und eine prekäre Wirtschaftslage sind stets ein geeigneter Nährboden für extremistische Entwicklungen.

Und alle genannten terroristischen Akteure in dieser Region haben eine gewaltbereite Anhängerschaft in Europa. Wie die Wirtschaft hat sich auch der Terrorismus längst globalisiert. Die Lage ist brandgefährlich.

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Conclusio

Anhaltende multiple Krisen wie militärische Konflikte, der Klimawandel, Pandemien und wirtschaftliche Einbrüche befeuern Extremismus und Terrorismus. Gesellschaftliche Verwerfungen und Polarisierung als Folgen dieser Krisen erleichtern die Radikalisierung großer Bevölkerungsgruppen und begünstigen damit in letzter Konsequenz auch terroristische Gewalttaten. Das zeigt sich am Beispiel Corona: Die Gewinnerin dieser Pandemie war ganz klar die Radikalisierung. Lassen wir uns also nicht ins Bockshorn jagen und von der bis zum 7. Oktober dieses Jahres vermeintlich ruhigeren Phase täuschen. Der Überfall der islamistischen Hamas auf Israel könnte der Auftakt zu weiteren Terrorakten
in aller Welt sein. Der Terrorismus wird auf Sicht leider unser dauerhafter Begleiter bleiben, auch in Europa.

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