Kein Frieden ohne Freiheit
Ein bisschen Frieden, ein bisschen Sonne – das ist es nicht, was die Ukraine braucht. Frieden allein kann nicht das Ziel sein; die Opfer müssen auch Gerechtigkeit erfahren und die Überlebenden ihre Freiheit zurückerlangen.
Entgrenzungen sind heute an der Tagesordnung. Von der nonchalanten privaten Ausbreitung im öffentlichen Raum über den kurzen Ausflug ins Metaverse bis hin zu situativen Identitätswechseln hat sich die überwiegende Mehrheit der Menschen in den westlichen, demokratischen, wohlhabenden, ja wohlstandsverwöhnten Gesellschaften längst daran gewöhnt, keine Grenzen mehr zu spüren, außer vielleicht die eigenen. Jeglicher Hinweis von außen, sei er freundschaftlich-mahnender oder auch regulativ-eingreifender Natur, gilt als vollkommen übertrieben und im Grunde genommen ungerechtfertigt.
Grenzen und Angst
Seitdem nun aber Wladimir Putin am 24. Februar dieses Jahres eine eindeutige Grenze, nämlich die Landesgrenze der Ukraine, überschritten hat, erhält der Begriff der Grenzüberschreitung wieder einen etwas ernsthafteren Charakter. Plötzlich gilt es, Stellung zu beziehen zu einem Krieg, den man nicht hat kommen sehen (wollen).
Die frivole Selbstgefälligkeit der vergangenen Jahre scheint an ihre eigenen Grenzen zu stoßen. Denn nichts fürchten Menschen in Westeuropa mehr als eine Entgrenzung dieses Kriegs: ein Überschwappen des Konflikts auf das eigene Land, in die eigene Gesellschaft. Deshalb, so finden die Verfasserinnen und Unterzeichner der offenen Briefe, die im April und Juni in der „Emma“ respektive der „Zeit“ erschienen und inzwischen von hunderttausenden weiteren Menschen unterzeichnet wurden, müsse die Gegenwehr, also die Unterstützung der Ukraine, ihre Grenzen haben.
Nicht, dass diese Angst eines größeren Kriegs unbegründet sei. Nicht, dass es Kriege wo immer möglich zu vermeiden gelte. Nur befindet sich eine Gesellschaft dann, wenn der Krieg einmal losgetreten wurde, in einer gänzlich anderen Logik als davor. Genau diese neue, andere Logik, so scheint es, könnte den Verfasserinnen und Unterzeichnern der erwähnten offenen Briefe ferner nicht liegen.
Ukrainer, die letzten Verteidiger Europas
Putins Kriegsziele oder der Kampf um die Freiheit
Der Verurteilung des Angriffskriegs kann man sich ohne weiteres anschließen; darüber ist man sich auf höchster politischer wie breitester gesellschaftlicher Ebene einig. Die Feststellung, dass Diplomatie und Verhandlungen besser wären als Krieg – geschenkt. Und der Grundsatz des Gewaltverzichts wie der Wunsch nach Frieden sind als solche nachvollziehbar. Niemand würde alldem widersprechen – schon gar nicht die Menschen in der Ukraine, die sich den Krieg nicht etwa herbeigewünscht haben.
Nun aber geht es in diesem Krieg – wie in jedem anderen, wenn er denn einmal begonnen hat – in erster Linie darum, die mit ihm verbundenen Ziele zu erreichen. Für Putin ist es die Einverleibung der Ukraine oder, falls das nicht gelingen sollte, ganz sicher die vollkommene Zerstörung derselben; für die Ukrainer sind es ihr Land, ihre Existenz und vor allem: ihre Freiheit. Für dieses gemeinsame Ziel kämpfen sie, unter Einsatz hoher Kosten, zu denen auch Menschenleben gehören. Und es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, dass der Verlust auch nur eines dieser Menschenleben leichtfertig in Kauf genommen würde.
Ein Ende dieses Kriegs ist erst dann in Sicht, wenn eine der beiden Kriegsparteien ihr Ziel erreicht hat oder ihre verbleibende Übermacht so eindeutig ist, dass sie den Krieg für beendet erklären und ihre Bedingungen durchsetzen kann. Verhandlungen sind erst dann möglich, wenn beide Parteien den Krieg beenden wollen, weil sie erschöpft sind und ein eindeutiger Sieg sich auf keiner Seite abzeichnet. Ein Frieden schließlich kann nur dann von Dauer sein, wenn die Opfer eine gewisse Gerechtigkeit erfahren. Es ist diese brutale binäre Logik, die den Krieg auszeichnet und die sich jeglicher verharmlosenden Beschwichtigung diametral entgegenstellt.
Der Wert einer offenen Gesellschaft
Zur Erinnerung: Deutschland konnte am 7. Mai 1945 im französischen Reims nur deshalb zur Kapitulation gezwungen werden, weil die Alliierten – nach größten Kriegsanstrengungen und ebenfalls unter hohem Einsatz von Menschenleben – eindeutig überlegen waren. Damals – wie auch heute in der Ukraine – ging es nicht um „ein bisschen Frieden, ein bisschen Sonne“, wie die deutsche Schlagersängerin Nicole in den frühen 1980ern durch die Hitparade trällerte. Es ging und geht um nicht weniger als die Erhaltung der offenen Gesellschaft. Die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen nicht nur um ihr Leben, sondern vor allem um ihre Freiheit. Und das heißt auch: Ein Leben ohne Freiheit relativiert das bloße Überleben.
Ein Frieden kann nur dann von Dauer sein, wenn die Opfer eine gewisse Gerechtigkeit erfahren.
Eine Welt ohne Kriege ist eine Illusion. Sie kann nur dem naiven Glauben der westeuropäischen Gesellschaften seit dem Ende des Kalten Kriegs entspringen: dass man in einer durch das Recht gesicherten Freiheit leben kann, ohne selbst fähig sein zu müssen, dieses Recht auch verteidigen und durchsetzen zu können.
Kriege sind zweifelsohne schrecklich und grauenhaft, aber sie haben wichtigen gesellschaftlichen Entwicklungen zum Durchbruch verholfen. Gerade wir Bürgerinnen und Bürger liberaler Gesellschaften in einem friedlichen Europa sollten uns dies in Erinnerung rufen: dass wir in dieser schier grenzenlosen Freiheit nur leben, weil unsere Vorfahren dafür gekämpft haben – und bereit waren, ihr Leben dafür zu lassen. Nur so lässt sich verstehen, was es bedeutet, für die eigene Freiheit zu kämpfen.
Kardinalversteher der Putin-Versteher
Zwar zeugen offene Briefe von einer offenen Gesellschaft. Allerdings haben die Verfasserinnen und Verfasser dieser offenen Briefe die vielleicht wichtigste Lektion des berühmten österreichisch-britischen Philosophen Sir Karl Popper nicht gelernt: die Einsicht, dass offene Gesellschaften nicht nur für ihre Freiheit, sondern genauso für ihre Sicherheit vorsorgen müssen. Dass Popper den Entschluss, über die offene Gesellschaft und ihre Feinde zu schreiben, am 13. März 1938 fasste – an jenem Tag, als er von Hitlers Einmarsch in Österreich erfuhr –, ist kein Zufall.
Krieg kann man nicht können
Die genannten offenen Briefe zeugen von einer grenzenlosen Anmaßung einerseits: darüber richten zu können, was für die Ukraine das Richtige sei. Sie offenbaren aber auch die Unmöglichkeit, die engen Grenzen des eigenen Denkens zu überwinden und sich der Logik des Kriegs auszusetzen. Sich dieser Logik zu verweigern entspricht, schließlich, der Weigerung, das zu anerkennen, worum es den Ukrainerinnen und Ukrainern geht, ja seit dem Angriff Wladimir Putins gehen muss: um ihre Freiheit.