Die Erfindung der Vergangenheit

Gab es das sagenumwobene Atlantis wirklich? Brachten Außerirdische uns die Zivilisation? Oder entstand diese vielleicht in der Eiszeit? Nein, sagt die Wissenschaft. Warum viele Menschen dennoch an solche Geschichten glauben wollen.

Moai (Steinstatue) auf der Osterinsel. Das Bild illustriert einen Artikel über Mythen und die Vergangenheit.
Moai auf der Osterinsel. Wie Menschen solche 80 Tonnen schweren Figuren an ihre Bestimmungsplätze transportierten, ist unerklärlich. Manch Autor postuliert Außerirdische als Helfer. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Spielplatz der Phantasten. Spätestens seit sich die Archäologie professionalisiert hat, gibt es auch in dieser Branche phantasiebegabte Querdenker, die irre Versionen der Vergangenheit verbreiten.
  • Quatsch als Quotenbringer. Alternative Versionen der Vergangenheit sind meist Quatsch, dafür aber unterhaltsam und werden gerne weitergesponnen, in Bestsellern oder in Streaming-Serien.
  • Wissenschaft als Widerpart. Erzähler dieser "Alternativen Geschichte" bekritteln einen hochnäsigen Forscher-Mainstream den sie – samt seinen Methoden – ablehnen.
  • Geborgte Kompetenz. Trotzdem greifen sie auf das Vokabular der Branche zurück, um glaubwürdiger zu wirken. Vielen geht es um prinzipielle Wissenschaftskritik.

Menschen sind fasziniert von der Vergangenheit. Zu wissen, wie andere früher lebten, gibt Antworten auf die uralte Frage „Woher kommen wir?“. Allerdings: Einige der populärsten Erzählungen über die menschliche Frühgeschichte sind mehr Märchen als Wissenschaft. Oft handelt es sich um moderne Mythen, die von Amateuren in die Welt gesetzt wurden und durch keinerlei glaubwürdige Beweise gestützt werden.

Einige dieser Autoren versuchen gar, die gesamte menschliche Historie neu zu schreiben. In der Netflix-Serie „Ancient Apocalypse“ aus dem Jahr 2022 kommt beispielsweise der britische Journalist und Schriftsteller Graham Hancock (geb. 1950) zu Wort, der behauptet, Beweise für eine fortgeschrittene Zivilisation während der letzten Eiszeit entdeckt zu haben. Diese sei den Mainstream-Archäologen unbekannt und habe angeblich ihre überlegene Technologie an weniger fortgeschrittene Völker auf der ganzen Welt weitergegeben.

Erfolg mit Erfundenem

Eine Generation früher veröffentlichte der Schweizer Hotelier Erich von Däniken (geb. 1935) seinen Bestseller „Erinnerungen an die Zukunft“ (1968), in dem er die Idee vertrat, dass Besucher aus dem Weltraum das nötige Know-how lieferten, um die großen Zivilisationen der Vergangenheit zu begründen.

Alternative Geschichten über die ferne Vergangenheit kursieren zu den verschiedensten Themen: Manche versuchen etwa, die Arche Noah zu lokalisieren, andere behaupten, dass die Sphinx Jahrtausende älter sei als die ägyptische Zivilisation. Erzählt wird auch, dass antike Völker Flugzeuge konstruiert hätten oder Westafrikaner den Atlantik Jahrhunderte vor Kolumbus überquerten und sich im heutigen Südmexiko niederließen.

Die Erfinder solcher Mythen werden von ihren Fans als Pioniere verehrt, die spektakuläre Wahrheiten aufdeckten, für die „Mainstream-Archäologen“ zu dogmatisch oder arrogant sind. Ein genauerer Blick auf diese Erzählungen zeigt aber, dass sie gar nicht innovativ sind, sondern vielmehr Reaktionen auf einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel, der sich im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts vollzog.

Fromme Fiktion

In ihren Anfängen war die Erforschung der Vorgeschichte von der Faszination für spektakuläre Artefakte geprägt. Diese Objekte wurden sowohl wegen ihrer ästhetischen und rätselhaften Qualitäten geschätzt und gesammelt als auch wegen der Einblicke, die sie in die ferne Vergangenheit der Menschheit gewährten. Darüber hinaus versuchten sowohl Hobby-Antiquare als auch Gelehrte im frühen 19. Jahrhundert immer noch, die gesamte menschliche Existenz in den engen Rahmen der biblischen Chronologie einzupassen, die die Erschaffung der Welt vor nur sechstausend Jahren ansetzt.

Der dänische Gelehrte Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865) revolutionierte die Kategorisierung von Artefakten mit seiner bahnbrechenden Unterscheidung zwischen Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit, doch selbst er war davon überzeugt, dass die Zeitspanne zwischen den alten Steinwerkzeugen und seiner eigenen Zeit in wenigen Jahrtausenden gemessen werden konnte. Im Großen und Ganzen entstand die Archäologie als wissenschaftliche Disziplin, als die beiden Zwänge des Antiquarismus und der biblischen Chronologie überwunden waren. Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Durchbrüche in der Geologie und Paläontologie die biblische Zeitskala in den Bereich der frommen Fiktion verbannt.

Angebliche Beweise

Besonders wichtig war die Arbeit von Charles Lyell (1797–1875), der das Konzept des Uniformitarismus vertrat, also die Vorstellung, dass sich die geologischen Prozesse auf der Erde in riesigen Zeiträumen abspielten und den Planeten über Millionen von Jahren formten.

Darüber hinaus begannen neue und weitaus systematischere Ansätze zur Aufdeckung und Deutung von Spuren der Vergangenheit das Fachgebiet zu beherrschen. Statt sich auf einzigartige und ästhetisch auffällige Objekte zu konzentrieren, setzten Wissenschaftler nun die Geschichte vergangener Epochen methodisch zusammen, indem sie die Spuren prähistorischer Völker untersuchten, zum Beispiel die Gegenstände, die sie in Gräber gelegt hatten, die Überreste ihrer Behausungen, die Werkzeuge, die sie benutzt hatten, und sogar ihren Abfall.

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Zahlen & Fakten

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Schon in dieser Reformära der Archäologie gab es alternative Ideen über die ferne Vergangenheit der Menschheit, die von begeisterten Nichtfachleuten entwickelt wurden und ein breites Publikum fanden. Ein auffälliges Merkmal dieser Literatur ist ihre ambivalente Haltung gegenüber dem neuen wissenschaftlichen Ansatz.

Zu den einflussreichen Vertretern dieser Strömung zählt etwa Ignatius Donnelly (1831–1901), ein amerikanischer Kongressabgeordneter und Schriftsteller, der 1882 das Buch „Atlantis, die vorsintflutliche Welt“ veröffentlichte. Donnelly vertrat die These, dass Platons Bericht über den versunkenen Kontinent keine Allegorie, sondern ein Tatsachenbericht über eine Hochkultur sei, die unter den Wellen verschwunden war, und präsentierte eine Reihe von angeblichen Beweisen, um seine Ansicht zu untermauern.

Zwei Arten von Wissenschaft

Andere wandten sich paranormalen Mitteln zu, um ihre Geschichtsschreibung zu gestalten – behaupteten aber gleichzeitig, dass empirische Beweise auf ihrer Seite seien. Helena Blavatsky (1831–1891), eine russische Emigrantin, verfasste ein umfangreiches Werk, das auf Informationen beruhte, die sie von einer Gruppe „spirituell fortgeschrittener Wesen“, den Meistern, erhalten haben wollte. Blavatsky spielte eine Schlüsselrolle bei der Gründung der Theosophischen Gesellschaft im Jahr 1875, einer Organisation, die sich dem Studium dieser Offenbarungen widmete.

In ihrem Hauptwerk „Die Geheimlehre“ (1888) stellte sich Blavatsky, wie die meisten Gelehrten ihrer Zeit, die Geschichte als eine Saga vor, die weit über die biblische Zeitskala hinausgeht und Millionen von Jahren umfasst. In ihrer Version jedoch war die Vergangenheit bevölkert von einer Reihe von „Wurzelrassen“, die angeblich verlorene Kontinente wie Lemuria und Atlantis bewohnten. Obwohl sie behauptete, diese Informationen aus übermenschlichen Quellen erhalten zu haben, waren Blavatskys Texte voller Verweise auf wissenschaftliche Werke, was ihren Behauptungen einen Hauch von akademischer Glaubwürdigkeit verlieh.

Die von Donnelly, Blavatsky sowie anderen Vertretern des alternativen Lagers erstellten Berichte wurden von professionellen Wissenschaftlern weitgehend abgelehnt. Sie würden ihre vorgefassten Theorien und Hypothesen mit handverlesenen Beweisen stützen, lautete der Vorwurf. Obwohl sie widerlegt wurden, beeinflussten diese Vorläufer im 19. Jahrhundert Generationen von spekulativen Schriftstellern: Donnellys Bewohner von Atlantis etwa, die von ihrer versunkenen Heimat aus die Saat der Zivilisation in die ganze Welt getragen haben sollen, tauchen in Graham Hancocks Werk als die Weisen der Eiszeit wieder auf.

Auch Erich von Dänikens frühgeschichtliche Astronauten haben ihre Wurzeln in früheren Ideen: In ihrem Buch „Man: Whence, How and Whither“ (1913) beschrieben die beiden Theosophen Annie Besant (1847–1933) und Charles Webster Leadbeater (1854– 1934), wie weise Wesen von der Venus auf der Erde ankamen, „mit dem mächtigen Getöse eines raschen Abstiegs aus unermesslichen Höhen, umgeben von lodernden Feuermassen, die den Himmel mit schießenden Flammenzungen erfüllten“.

Vom Reiz des Spinnens

Auch andere Erzählungen folgen vertrauten Mustern und weisen dieselbe ambivalente Haltung gegenüber empirischen Beweisen auf. Angebliche Fragmente der Arche Noah werden im Labor untersucht, Erosionsspuren an der Sphinx als Beweis für ihr hohes Alter angeführt, und die Theorie von präkolumbianischen Reisen von Afrika in die Neue Welt wird durch Behauptungen über die angeblich afrikanischen Gesichtszüge einiger alter mesoamerikanischer Skulpturen gestützt. Fachleute können noch so oft einwenden, dass diese vermeintlichen Beweise einer genauen Prüfung nicht standhalten und die Argumentation lediglich den Anschein von Wissenschaftlichkeit erweckt. Die Befürworter dieser alternativen Geschichten werfen ihren wissenschaftlichen Gegnern daraufhin Arroganz vor oder ignorieren sie einfach.

Alternative Geschichtsdarstellungen dienen oft ideologischen Zwecken. Einige sind offen politisch motiviert: Für Menschen afrikanischer Abstammung, die mit systemischem Rassismus konfrontiert sind, bietet die Vorstellung, dass ihre Vorfahren den Atlantik vor Kolumbus überquert haben, ein Gefühl der Ermächtigung.

Alternative Geschichtsdarstellungen dienen oft ideologischen Zwecken.

Häufiger als um Politik geht es um Kulturkritik, ja sogar um Wissenschaftsfeindlichkeit. In solchen Erzählungen werden anerkannte Experten und Institutionen, in denen professionell und systematisch gearbeitet wird, als inkompetent dargestellt; blind für Wahrheiten, die mutige unabhängige Denker ohne formale akademische Ausbildung aufzudecken vermögen.

Die sorgfältige Anhäufung von Daten in wissenschaftlicher Methodik erscheint vielen seelenlos und trocken. Und natürlich ist es weniger fesselnd, Tonscherben akribisch zu untersuchen, als Geschichten über verlorene Kontinente, vergessene Zivilisationen oder außerirdische Besucher zu spinnen.

Obwohl wir durch die präzise Untersuchung der von unseren Vorfahren hinterlassenen Spuren die komplexe Geschichte der Menschheit heute schon recht gut verstehen, wird es immer Menschen geben, die an Atlantis oder andere Mythen glauben wollen. Der Reiz des Mysteriösen ist im Zweifel stärker.

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Conclusio

Irrglaube. Das Interesse am Leben unserer Vorfahren begleitet den Menschen seit jeher. Mangels fundierter naturwissenschaftlicher Erkenntnisse galt die Bibel bis ins 19. Jahrhundert als wortwörtlich zu verstehendes Geschichtsbuch.
Spaltung. Realistische Zeitskalen bringt erst die systematische Erforschung der Vergangenheit. Das ist mühselig, und die Resultate sind oft trocken. Für saftigere Erzählungen reichen mitunter erfundene Mitteilungen aus dem Jenseits.
Wut-Wissenschaftler. Verfechter selbst geschaffener Mythen präsentieren wissenschaftlich wirkende „Beweise“, um Autorität für sich zu reklamieren. Gleichzeitig halten sie echte Fachleute für zu arrogant, um eine neue Wahrheit zu akzeptieren.

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