Die größten Rätsel der Wissenschaft (II)

Menschen waren auf dem Mond, haben die höchsten Berge erklommen und die Tiefen der Ozeane erforscht. Wissenschaftler blicken mit ihren Teleskopen bis zum Anfang des Universums. Doch trotz all dieser Errungenschaften bleiben viele Rätsel der Wissenschaft ungelöst, deren Lösung bedeutende Fortschritte ermöglichen könnten.

Illustration für die größten Rätsel der Wissenschaft.
Wir wissen vieles, aber noch viel mehr wissen wir nicht. © Ulrich Fuchs

Auch im Jahr 2024 steht die Wissenschaft noch vor unbeantworteten Fragen. In diesem Report sowie im ersten Teil (siehe hier) berichten elf führende österreichische Wissenschaftler, welches für sie die größten Rätsel der Wissenschaft in ihrem Fachgebiet darstellen. Jürgen Eckert, Professor für Materialphysik, wüsste gerne, wie sich das ideale Material herstellen ließe, während die Mathematikerin Sandra Müller rätselt, ob es unendlich viele Unendlichkeiten gibt. Ein sehr aktuelles Thema behandelt der KI-Experte Markus Schedl: Wie lässt sich das Vertrauen in KI wieder herstellen? Lesen Sie hier Teil 2 unsere Pragmaticus-Rätselrallye!

7. Was ist dunkle Materie?

von Jochen Schieck

Mit der Entdeckung des Higgs-Bosons im Jahr 2012 wurde auch das letzte Elementarteilchen des Standardmodells der Teilchenphysik experimentell nachgewiesen. Es war der Höhepunkt in der Etablierung einer erfolgreichen Theorie, deren Zusammenführung mehrere Jahrzehnte gedauert hat. Aus verschiedenen unabhängigen Messungen wissen wir allerdings auch, dass diese Theorie nicht alles sein kann. Wir beobachten deutlich mehr gravitative Anziehung, als wir aus der Materie des Standardmodells erwarten würden.

Ganz neue Kräfte?

Diese zusätzliche Materie ist für uns nicht sichtbar; das heißt, sie nimmt nicht an der elektromagnetischen Wechselwirkung teil und bleibt dunkel – daher sprechen wir von der Dunklen Materie. Wir gehen davon aus, dass diese Dunkle Materie aus bisher unbeobachteten Elementarteilchen besteht, die nicht Teil des Standardmodells sind. Vielleicht ist es auch mehr als ein einziges Teilchen, vielleicht ist es ein neuer Bereich mit neuen Teilchen und neuen Kräften, ein Dunkler Sektor sozusagen. Die Idee, für die Lösung bestehender Probleme neue Teilchen einzuführen, ist nicht neu und war auch in der Vergangenheit immer wieder erfolgreich. Die Entdeckung und Entschlüsselung der Dunklen Materie als neues fundamentales Elementarteilchen gehört sicherlich zu den größten Rätseln der modernen Teilchenphysik.

Ohne Dunkle Materie können wir die Form unseres Kosmos, wie wir ihn beobachten, nicht erklären.

Mithilfe der Allgemeinen Relativitätstheorie lässt sich das Energie-Materie-Budget des Universums beschreiben, und sie zeigt, dass die uns bekannte Materie nur eine kleine Rolle spielt: Nur zirka fünf Prozent des gesamten Energie-Materie-Budgets können wir mit der uns bekannten Physik beschreiben. Ein detaillierteres Wissen über die fehlenden 95 Prozent, zu denen auch noch die Dunkle Energie gehört, ist daher absolut notwendig, um ein besseres Verständnis unserer Existenz zu erlangen. Ohne Dunkle Materie können wir die Form unseres Kosmos, wie wir ihn beobachten, nicht erklären. Die Teilchenphysik ist reine Grundlagenforschung, ihr vorrangiges Ziel der Erkenntnisgewinn. Mögliche Anwendungen und der Profit aus dem Erkenntnisgewinn können heute noch nicht abgeschätzt werden.

Illustration von Jochen Schieck.
Jochen Schieck ist Direktor des Instituts für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. © Andreas Leitner

8. Wie entstehen Krankheiten?

von Markus Hengstschläger

Diabetes, viele Krebsarten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurodegenerative Erkrankungen, psychische Erkrankungen und andere gesundheitliche Störungen werden von verschiedenen Faktoren verursacht. Sie entstehen zumeist durch die Wechselwirkung genetischer Anlagen mit entsprechenden exogenen Umwelteinflüssen und werden auch durch Epigenetik, die die Aktivität von Genen steuert, beeinflusst.

Rätsel der Wissenschaft: Krankheiten
Krankheitsursachen: Wie spielen genetische und äußere Faktoren zusammen? © Ulrich Fuchs

Das Erbgut (Genom) des Menschen beinhaltet etwa 22.000 Gene. Bei multifaktoriellen Erkrankungen können zahlreiche verschiedene Gene involviert sein. Außerdem können umweltbedingte Einflüsse wie Ernährung, Lebensstil, Chemikalien und Ähnliches bei der Entstehung solcher Krankheiten von Bedeutung sein. Welche genetischen Veranlagungen genau mit welchen exogenen Faktoren zusammenspielen müssen, damit eine Krankheit entsteht, ist das große Rätsel der medizinischen Genetik und eigentlich der gesamten Humanmedizin.

Zu viele Faktoren

Dieses Rätsel ist auch deshalb so schwierig zu lösen, weil jeder Mensch individuelle genetische Veranlagungen hat und auch verschiedene Kombinationen von genetischen und exogenen Faktoren krankheitsrelevant sein können. Ein besseres Verständnis dieser Interaktionen könnte die Basis für die Entwicklung neuer prophylaktischer und therapeutischer Konzepte bilden. Da es dabei um sehr häufig auftretende Krankheiten geht, wäre der Nutzen enorm. Vor allem das Angebot neuer vorbeugender Maßnahmen würde es vielen Menschen ermöglichen, ein langes, gesundes Leben zu führen.

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Vor allem das Angebot neuer vorbeugender Maßnahmen würde es vielen Menschen ermöglichen, ein langes, gesundes Leben zu führen.

Und man darf hoffen: Schon in naher Zukunft wird es besser möglich sein, große Mengen an klinischen Daten, Genomdaten und Details über Lebensgewohnheiten und andere exogene Einflüsse zu sammeln und über künstliche Intelligenz zu interpretieren. Das bildet die Grundlage für die Präzisionsmedizin, die es sich zum Ziel macht, für jede Patientin und jeden Patienten zielgerichtete Therapien zu entwickeln.

Illustration von Markus Hengstschläger.
Markus Hengstschläger ist vielfach ausgezeichneter Genetiker. © Andreas Leitner

9. Wie können wir das ideale Material herstellen?

von Jürgen Eckert

Die Menschheit weiß seit Jahrtausenden, wie man unterschiedliche Materialien herstellt. Dennoch sind die grundlegenden Bedingungen und Prinzipien, die vielfach die Eigenschaften eines Materials bestimmen, nach wie vor nicht vollständig erklärt. Zwar weiß man sehr genau, wie sich etwa Festigkeit, Zähigkeit und Verformbarkeit von Materialien einstellen lassen und an welchen Stellschrauben man drehen muss, um die Eigenschaften zu verbessern.

Das gilt für ganz unterschiedliche Materialklassen wie metallische Legierungen, Keramiken und Gläser oder auch Polymerwerkstoffe. Oftmals entstehen dabei aber auch einander einschränkende oder ausschließende Eigenschaften. So sind hochfeste Materialien meist gleichzeitig spröde und brechen leicht, oder aber sehr gut formbare Werkstoffe besitzen oft keine ausreichende Festigkeit. Auch schließen sich häufig mechanische Festigkeit, Korrosionsbeständigkeit oder elektrische Eigenschaften gegenseitig aus.

Dies gilt nicht nur für die Materialien an sich, sondern genauso für die daraus entstehenden Werkstoffe für technische Anwendungen. Hier spielen nicht nur die Eigenschaften der Materialien selbst eine Rolle.

Ein Baukasten für Materialien

Es ist ebenso wichtig, für die Herstellung von Werkstoffen, Bauteilen und Produkten geeignete Verfahren zu finden, die es erlauben, die gewünschten Eigenschaften unter fertigungsgerechten, kostengünstigen und nachhaltigen Gesichtspunkten zu erzeugen. Dies gilt für alle Bereiche der Materialwissenschaft – von Stählen im Karosseriebau über Glas und Keramik für verschiedenste Anwendungen bis hin zu funktionsoptimierten Bauelementen in der Mikroelektronik oder nachhaltigen Polymerwerkstoffen. Darüber hinaus sollen sich die Materialien möglichst ressourcenfreundlich und nachhaltig herstellen sowie recyceln lassen und möglichst wenig Energie bei der Herstellung verbrauchen – oder aber für Energiewandlung und -speicherung verwendbar sein.

Bei der Suche nach einer Lösung kann man sich ein wenig von der Natur abschauen.

Damit stellt sich die Frage, wie man das in allen Belangen optimierte, selbstadaptierende und reparierbare oder recycelbare, vielleicht auch noch biokompatible Material entwickeln kann. Anders ausgedrückt: Wie lässt sich ein Baukasten erstellen, aus dem man – wie beim Lego – aus einzelnen Bausteinen genau das richtige Material designen kann, das dann auch noch einfach herstellbar ist? Natürlich gibt es für viele Einzelbereiche inzwischen spezifische Lösungen, aber das Baukastenprinzip konnte bisher nicht realisiert werden.

Bei der Suche nach einer Lösung kann man sich ein wenig von der Natur abschauen. Auch hier gibt es Kombinationen ganz unterschiedlicher Materialien mit unterschiedlichen Eigenschaften und Strukturen, die oftmals in hierarchischer Art und Weise miteinander kombiniert sind. Typische Beispiele sind Holz, Knochen, Muschelschalen, Libellenflügel und vieles andere mehr. Diese „Bauprinzipien“ sind allerdings meistens nicht direkt auf technische Materialien und Werkstoffe übertragbar.

Illustration von Jürgen Eckert.
Jürgen Eckert ist Professor für Materialphysik an der Montanuniversität Leoben. © Andreas Leitner

Hoffen auf KI

Große Hoffnungen setzt die Forschung daher in die Entwicklung mathematischer Werkzeuge, die Eigenschaften von Materialien mit extrem vielen Baueinheiten, Konfigurationen, Eigenschaftsprofilen und -kombinationen analysieren, um daraus optimierte Materialien, Werkstoffe und Bauteile zu kreieren. In der Physik sind solche Konzepte äußerst beliebt und laufen unter Sammelbegriffen wie künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen.

Allerdings muss sich erst zeigen, ob die auf der Basis solcher Konzepte entwickelten Materialien auch in der Realität die gewünschten Eigenschaften aufweisen und mit geeigneten Verfahren herstellbar sind. Bis das in größerem Ausmaß gelingt, wird vermutlich noch viel Zeit vergehen.

10. Gibt es nur eine Unendlichkeit oder viele?

von Sandra Müller

Die Unendlichkeit liefert unzählige Fragen, und es ist sehr schwierig, ein anschauliches Verständnis von unendlich großen Dingen zu entwickeln. Zum Beispiel: Gibt es nur eine Unendlichkeit oder mehrere? Wenn es mehrere gibt, wie viele denn? Unendlich viele? Wie kann man diese Unendlichkeiten vergleichen? Auf diese Fragen hat die Wissenschaft bereits vor über hundert Jahren Antworten gefunden.

Rätsel der Wissenschaft: Die Unendlichkeit
Die Unendlichkeit ist eine komplizierte Sache. © Ulrich Fuchs

Der deutsche Mathematiker Georg Cantor hat gezeigt, dass es mehr als eine Unendlichkeit gibt; genauer gesagt gibt es sogar unendlich viele Unendlichkeiten. Aber schon der Blick auf verhältnismäßig kleine Unendlichkeiten wirft neue Fragen auf. Zwei Beispiele für Unendlichkeiten sind die Menge der natürlichen Zahlen (0, 1, 2, 3 usw.) und die Menge der reellen Zahlen (umgangssprachlich alle Zahlen, die in der Schule vorkommen, also auch Brüche, die Kreiszahl Pi, die Wurzel aus 2 usw.).

Der deutsche Mathematiker Georg Cantor hat gezeigt, dass es mehr als eine Unendlichkeit gibt.

Cantor hat gezeigt, dass die Menge der reellen Zahlen eine größere Unendlichkeit ist als die Menge der natürlichen Zahlen. Anders formuliert: Es gibt keine Möglichkeit, alle reellen Zahlen mithilfe von natürlichen Zahlen aufzuzählen.

Die berühmte Kontinuumsfrage

Gibt es also eine Unendlichkeit zwischen den natürlichen und den reellen Zahlen? Dieses Rätsel ist als Kontinuumsfrage berühmt geworden. Für alle bekannten Teilmengen der reellen Zahlen gilt, dass sie entweder die gleiche Unendlichkeit haben wie die natürlichen Zahlen oder wie die reellen Zahlen. Die Menge der rationalen Zahlen (alle Brüche) kann zum Beispiel mit den natürlichen Zahlen aufgezählt werden.

Durch bahnbrechende Arbeiten des Mathematikers Kurt Gödel im Wien der 1930er-Jahre und seines US-Kollegen Paul Cohen aus den 1960er-Jahren wissen wir heute, dass die Kontinuumsfrage mit den gängigen mathematischen Methoden nicht beantwortet werden kann. Dennoch ist sie gemeinsam mit den von Gödel und Cohen entwickelten Ideen noch immer Ansporn für Grundlagenforschung. Eine natürliche Erweiterung der mathematischen Grundpfeiler, welche die Kontinuumsfrage beantwortet und gleichzeitig von der Mehrheit der Mathematikerinnen und Mathematiker akzeptiert wird, würde wohl auch viele andere offene Probleme unserer Fachrichtung lösen.

Illustration von Sandra Müller.
Sandra Müller ist Professorin für Mathematik an der Technischen Universität Wien. © Andreas Leitner

11. Wie gewinnen wir Vertrauen in Künstliche Intelligenz?

von Markus Schedl

KI-basierte Anwendungen zur Suche nach digitalen Inhalten, wie beispielsweise Empfehlungssysteme, Suchmaschinen oder Chatbots wie ChatGPT, sind aus der heutigen Welt nicht mehr wegzudenken. Solche Angebote werden typischerweise von global agierenden Unternehmen zur Verfügung gestellt und sind einerseits äußerst hilfreich beim Auffinden neuer Inhalte wie Musik, Filme oder Nachrichten. Andererseits ist ihr Entscheidungsfindungsprozess oft intransparent; das System kann keine Erklärung dafür liefern, warum es bestimmte Inhalte empfohlen hat, andere jedoch nicht. Verzerrungen in Suchergebnissen oder Empfehlungen können sogar zu einer Ungleichbehandlung ganzer Nutzergruppen führen.

Deshalb gehört es zu den größten Herausforderungen in der Forschung an solchen Systemen, die Vertrauenswürdigkeit der zugrunde liegenden Technologie auf allen Ebenen zu gewährleisten. Konkret müssen wir dabei der Fragestellung nachgehen, wie wir durch technische Lösungen sicherstellen, dass KI-basierte Anwendungen transparent, nicht diskriminierend, robust, sicher, verantwortungsvoll und ressourcenschonend gestaltet werden.

Verzerrt und halluziniert

Halluzinierende Chatbots, diskriminierende Web-Suchmaschinen und Empfehlungssysteme, die persönliche Daten preisgeben, tragen nicht gerade dazu bei, das oftmals bereits verloren gegangene Vertrauen von Menschen in KI-basierte Angebote wiederherzustellen. Um nur zwei konkrete Beispiele zu nennen: Suchanfragen zu eigentlich geschlechtsneutralen Begriffen wie „CEO“, „Gewichtheben“ oder „Karenz“ weisen eine geschlechtsspezifische Verzerrung in den Suchergebnissen auf. Simple Hacker-Attacken auf Empfehlungssysteme erlauben es, mit hoher Wahrscheinlichkeit Geschlecht und Alter des Users vorherzusagen – sogar ohne Zugang zu den eigentlichen Interaktionsdaten.

Das Ziel sind vertrauenswürdige Empfehlungssysteme und Suchmaschinen.

Um das Vertrauen der Anwender wiederzugewinnen, bedarf es exzellenter wissenschaftlicher Forschung, die über den Tellerrand hinausblickt und insbesondere soziale, psychologische, wirtschaftliche und rechtliche Aspekte berücksichtigt. Informationszugriffssysteme müssen jedem User die gleichen Möglichkeiten und Chancen bieten, müssen Cyberattacken standhalten können, allen Stakeholdern Erklärungen für die Art der Auswahl liefern können, reproduzierbar sein und einen deutlich geringeren Energiebedarf als heutige Plattformen haben.

Das Ziel sind vertrauenswürdige Empfehlungssysteme und Suchmaschinen. Dann können wir diese KI-basierten Anwendungen ruhigeren Gewissens verwenden, ohne uns fragen zu müssen, ob wir benachteiligt werden, mit jedem Klick sensible Informationen preisgeben oder einen substanziellen negativen Beitrag zum Klimawandel leisten.

Illustration von Markus Schedl.
Markus Schedl Informatikprofessor an der Johannes Kepler Universität Linz. © Andreas Leitner

Lesen Sie hier Teil 1:

Die größten Rätsel der Wissenschaft (I)

Menschen erforschten das Weltall und die tiefsten Stellen der Ozeane. Wir können heute Krankheiten heilen, die früher ein Todesurteil bedeuteten. Trotzdem gibt es noch immer Rätsel der Wissenschaft, deren Lösung große Fortschritte bringen würde.

ist Mikrobiologin und Umweltgenomikerin
ist Direktorin des Instituts für Weltraumforschung
ist Physikerin
ist Senior Scientist am Institut für Experimentalphysik der Universität Innsbruck
ist Professor für Neurowissenschaften
ist Biochemikerin und selbst ernannte Kräuterhexe

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