Mehr Macht für die Jugend

Die Jungen sind die Zukunft der Demokratie. Wir sollten ihnen mehr Einfluss an der Wahlurne geben.

Illustration zweier Schulkinder an einer Wahlurne
Früh übt sich: Die informierte Teilhabe an Entscheidungsprozessen ist eine Grundfeste der Demokratie. Junge Menschen sollten davon nicht ausgeschlossen sein. © Michael Pleesz
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Auf den Punkt gebracht

  • Alter. Grundrechte sind normalerweise nicht an Altersgrenzen geknüpft, auch 15-Jährige dürfen demonstrieren und ihre Meinung äußern.
  • Vorurteile. Gängige Argumente gegen ein Wahlrecht für Jugendliche, wie mangelnde Erfahrung und Interesse oder leichte Beeinflussbarkeit, zielen ins Leere.
  • Menschenrecht. Das Wahlrecht ist jedoch kein Menschenrecht von Geburt an, sondern wird verliehen. Säuglinge und Kleinkinder wählen zu lassen, wäre absurd.
  • Altersgrenze. Statt eine pauschale Altersgrenze festzulegen, sollten wahlwillige junge Menschen das Recht haben, sich in ein Wählerverzeichnis einzutragen.

Finde den Fehler: „In modernen Demokratien hat jede Wahlstimme den gleichen Wert, und zwar gleichermaßen für Nobelpreisträger wie für Hilfsarbeiter ohne Berufsausbildung, für Personen mit einem IQ von 120 wie für solche mit einem IQ von 80, für hundertjährige Tattergreise genauso wie für fünfzehnjährige Schüler.“

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Falsch ist an diesem Satz die Aussage, dass 15-jährige Schüler wählen können. Denn fast überall gilt die Altersgrenze 18, mit Ausnahme von Österreich, das als erstes Land in Europa das aktive Wahlalter auf 16 gesenkt hat. Dabei gibt es zahlreiche demokratietheoretische Argumente gegen eine pauschale Altersgrenze beim Wahlrecht, dem wichtigsten Bürgerrecht. Grundrechte sind nämlich normalerweise nicht an Altersgrenzen geknüpft: Auch 15-Jährige dürfen demonstrieren und öffentlich ihre Meinung frei äußern.

Wer wählt, der zählt!

„Wer konstituiert den Demos?“ Das ist seit Jahrhunderten eine zentrale Frage für die Politische Theorie. Seit jeher unterliegt dem historischen Wandel, welche Bürger zum Wahlvolk gehören. Vor 200 Jahren bestand der Demos nur aus Männern, die das „richtige“ Steueraufkommen, die „richtige“ Hautfarbe, die „richtige“ Religion, das „richtige“ Alter hatten. Die normative Frage, wer wählen können soll, ist eine andere Frage als die Frage, wer das Wahlrecht hat. Dies wird klar, wenn man zum Beispiel die Abstimmung über das Frauenstimmrecht 1959 in der Schweiz rekapituliert: Zwei Drittel der Männer lehnten die Ausweitung ab und definierten sich damit selbst als auch in Zukunft allein stimmberechtigter Demos. Heute würde kaum noch jemand diese Entscheidung für legitim halten.

Schweiz, 1970: Suffragetten, die in das Bundeshaus in Bern eingedrungen sind, demonstrieren vor dem Eingang zum Parlamentssaal.
Schweiz, 1970: Suffragetten, die in das Bundeshaus in Bern eingedrungen sind, demonstrieren vor dem Eingang zum Parlamentssaal. © Getty Images

Wenn man Generationengerechtigkeit will, sollte man den Jungen mehr Macht an der Wahlurne geben. Die derzeit nicht wahlberechtigten Minderjährigen haben durchaus Pflichten in unserer Gesellschaft. Berufstätige unter 18 zahlen den gleichen Einkommens- oder Lohnsteuersatz wie ältere Arbeitnehmer. Die Steuern bei Erbschaft oder Konsum bevorzugen sie in keiner Weise gegenüber Älteren. Der Dienst als Zeitsoldat in der Armee kann in Deutschland oder Österreich mit Zustimmung der Eltern bereits mit 17 Jahren angetreten werden.

Problematische Vorurteile

Den Jungen auch das Wahlrecht zu gewähren wird meist mit drei Einwänden begegnet:

1. Mangelnde Erfahrung

Bei Erwachsenen wird „Erfahrung“ als Kriterium für die Erlangung des Wahlrechts von der politischen Theorie und der Rechtsprechung vehement abgelehnt. Sogar Analphabeten besitzen das Wahlrecht, und das sind gar nicht wenige. In Deutschland sind laut der LEO-Studie von 2018 rund 6,2 Millionen Menschen im Alter von 18 bis 64 Jahren von funktionalem Analphabetismus betroffen (12,1 Prozent). Für Österreich und die Schweiz gehen Schätzungen von rund acht Prozent der Bevölkerung in dieser Altersgruppe aus. Würde man einen „Wahltest“ zur Überprüfung politischer Urteilsfähigkeit einführen, so dürften auch viele über 18-Jährige bald nicht mehr wählen. Auch die ärztliche Diagnose „Altersdemenz“ ist ausdrücklich kein Grund für den Entzug des Wahlrechts.

2. Mangelndes Interesse

Auch die Wahlbeteiligung – mag sie nun hoch oder niedrig sein – ist kein Kriterium, um Minderjährigen das Wahlrecht vorzuenthalten. Das Demonstrationsrecht gilt ebenfalls ohne Alterseinschränkungen. Genauso verhält es sich mit der Rede- und Meinungsfreiheit. Jeder statistische Durchschnittswert ist bei den Grundrechten irrelevant. Auch eine Altersgrenze von 16, 14 oder 12 Jahren ist also eine – wenn auch zugegeben mildere – Form der Ungerechtigkeit gegenüber allen jeweils jüngeren Staatsbürgern.

3. Leichte Beeinflussbarkeit

Der Grundsatz der freien Wahl wendet sich gegen jede obrigkeitliche Beeinflussung, also gegen jedes System der Bindung an Wahlvorschläge, die etwa von der herrschenden Regierung aufgestellt werden. Freie Wahl im Sinne einer Ausschließung jeglicher Beeinflussung durch Mitmenschen wie etwa Eltern, Partner oder Freunde ist damit nicht gemeint. Das wäre nicht nur das Ende der Wahlwerbung in Radio und Fernsehen, es müsste konsequenterweise auch das Verbot aller Gespräche über Politik bedeuten.

Da Freiheit von Beeinflussung zwischen erwachsenen Wählern weder intendiert noch möglich ist, sollte dies auch bei Minderjährigen nicht problematisiert werden. Letztlich wäre jede Jungwählerin in der Wahlkabine allein und könnte ihr Kreuzchen machen, wo sie möchte.

Grundrechte sind normalerweise nicht an Altersgrenzen geknüpft.

Juridische Befugnisse wie das Wahlrecht erfordern auf den ersten Blick eine Alles-oder-nichts-Regelung – entweder die Minderjährigen haben das Recht zu wählen, oder sie haben es nicht. Radikale Kinderrechtler fordern ein „echtes Kinderwahlrecht ab Geburt“. Dies wird rechtsphilosophisch aus der Forderung nach einer menschenrechtlichen Gleichstellung von Kindern heraus begründet. Nach dieser Auffassung kommt das Wahlrecht Kindern schlicht deswegen zu, weil sie Menschen sind.

Diese enge Verknüpfung von Menschenrechten, Bürgerrechten und dem Wahlrecht ist eine Prämisse, die ich nicht teile. Es gibt gute Gründe, Kindern und Erwachsenen nicht in allen Fällen die exakt gleichen Rechte zu gewähren.

Recht fällt nicht vom Himmel

Zunächst ist die Gleichsetzung von Menschen- und Bürgerrechten irreführend. Aber auch wenn man das Wahlrecht nicht mehr als Menschenrecht, sondern „nur noch“ als das wichtigste Staatsbürgerrecht bezeichnet, so ist es – wie jedes Recht – begründungspflichtig. Die Menschenrechte sind nicht vom Himmel gefallen, sie sind weder gott- noch naturgegeben, sondern eine Erfindung des Menschen. Nach diesem vernunftrechtlichen und antinaturrechtlichen Standpunkt haben Menschen Rechte nur dadurch, dass sie ihnen zugesprochen werden.

Dies ist auch sinnvoll: Für manche Rechte, etwa sexuelle Selbstbestimmung, sind bei Kindern Sonderregelungen nötig. Aus gutem Grund werden in diesem Bereich die formell für alle Menschen in gleicher Weise geltenden Rechte durch spezielle Schutzbestimmungen für Kinder, etwa das Verbot der pornografischen Darstellung des eigenen Körpers, ergänzt. Meine philosophisch-politische Abwägung spricht sich daher nach Abwägung aller Gründe sowohl gegen einen Wahlrechtsausschluss älterer Kinder und Jugendlicher aus als auch gegen eine Wahlrechtsgewährung für Babys und Kleinkinder.

Wahlrecht ohne Altersgrenze

Ein pragmatischer Vorschlag: das altersunabhängige Recht von Minderjährigen, sich für Wahlen zu registrieren! Ich plädiere nicht für ein „Wahlrecht von Geburt an“, und auch die Bezeichnung „Wahlrecht für Kinder“ wäre irreführend. Vielmehr fordere ich, durch ein altersunabhängiges Recht auf Eintragung in eine Wählerliste alle wahlwilligen jungen Menschen ins Elektorat aufzunehmen.

Im Mittelpunkt dieses Vorschlags steht der Wahlwille von Minderjährigen. Da die Willensbekundung eine pauschale Altersgrenze ersetzt, ist es ein Wahlrecht ohne feste Altersgrenze, aber es ist kein Wahlrecht von Geburt an. Bei diesem Modell stehen Kinder und Jugendliche zunächst allesamt nicht im Wählerverzeichnis und haben folglich kein Recht, an Wahlen teilzunehmen.

Colorado, 2023: Eine High School Schülerin hält eine Rede bei einer Demonstration gegen Waffengewalt an Schulen im Colorado State Capitol in Denver
Colorado, 2023: Eine High School Schülerin hält eine Rede bei einer Demonstration gegen Waffengewalt in Denver. Während sich die Generation Y, geboren zwischen 1985 und 2000, eher durch politische Abstinenz einen Namen gemacht hat, ist die nachgeborene Generation Z politisch sehr engagiert und will die Zukunft aktiv mitgestalten. © Getty Images

Sie haben in dem hier vertretenen Modell stattdessen das Recht, sich in das Wählerverzeichnis einzutragen und dadurch das Wahlrecht zu erhalten. Seinen Willen muss der Jugendliche beziehungsweise das Kind mittels einer persönlich vorzunehmenden Eintragung in das Wählerverzeichnis der jeweilig zuständigen Wahlbezirksbehörde kundtun. Die Minderjährige kann sich dabei zum Beispiel auch nur für die Kommunalwahlen anmelden, also das Wahlrecht für Land- und Bundestag sowie Europaparlament zunächst nicht ausüben. Sie kann sich altersunabhängig auch für Volksabstimmungen über Sachfragen registrieren lassen. Es handelt sich nicht um einen „Antrag“ auf Eintragung in eine Wählerliste, denn ein Antrag kann abgelehnt werden, sondern um eine „Willenserklärung“. Eine wie auch immer geartete Prüfung der Wahlfähigkeit von wahlwilligen Minderjährigen gibt es nicht.

De facto werden also nach diesem Modell alle Säuglinge und Kleinkinder sowie große Anteile älterer Kinder und junger Jugendlicher auch in Zukunft nicht das Wahlrecht haben. Dieses Modell wird Verfechtern des Status quo zu weit und der sogenannten Kinderrechtsbewegung nicht weit genug gehen. An letztere Adresse sei gesagt:

Die Forderung, dass Säuglingen und Kleinkindern die Möglichkeit eröffnet werden sollte, bei Wahlen ihre Stimme abzugeben, erscheint nicht nur auf den ersten Blick, sondern auch nach längerem Nachdenken absurd. Babys würden den Stimmzettel eher aufessen als ausfüllen. Ein Wahlrecht für Zweijährige zu fordern ist ebenso sinnvoll oder sinnlos wie die Forderung nach einem Recht auf den Besuch einer Hochschule für Zweijährige.

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Conclusio

Gegen eine pauschale Altersgrenze beim Wahlrecht, dem wichtigsten Bürgerrecht, gibt es viele demokratietheoretische Argumente. Normalerweise sind Grundrechte nämlich nicht an Altersgrenzen geknüpft. Im Sinne der Generationengerechtigkeit sollten die Jungen mehr Macht an der Wahlurne haben, was freilich nicht bedeutet, künftig alle Kleinkinder wählen zu lassen. Stattdessen sollten wahlwillige Junge das Wahlrecht erhalten, indem sie sich in ein Wählerverzeichnis eintragen lassen können.

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