Die große Wehleidigkeit

Immer mehr Menschen glauben, Opfer von irgendwem oder irgendwas zu sein, und reagieren entsprechend weinerlich. Es wird Zeit, diesen Unfug zu beenden.

Foto von Ron de Santis an einem Rednerpult, im Zentrum des Bildes ist in großen Lettern die Aufschrift Faith and Freedom zu lesen. Das Bild illustriert einen Beitrag über Wehleidigkeit.
„Glaube und Freiheit“ statt Woke: Ron de Santis, Gouverneur von Florida, spricht bei der Faith and Freedom-Konferenz am 23. Juni 2023 in Washington. © Getty Images

Einer österreichischen Tageszeitung war unlängst zu entnehmen, welch unermessliches Leid den Studenten einer bekannten und sehr renommierten Ausbildungsstätte für Schauspieler in Wien zugefügt worden ist.

„Eine Studentin soll empört gewesen sein, weil sie die Medea spielen sollte – und das, obwohl sie nicht Griechin ist“, war da zu lesen. „Eine Klasse sei betroffen gewesen, weil man sie bei einem weltliterarischen Stück nicht gewarnt hatte, dass darin sexuelle Inhalte vorkommen. Und ein Student soll protestiert haben, dass er mit ‚Herr‘ angesprochen wurde, obwohl er sich an dem Tag nicht als Mann gefühlt habe.“

Wehleidigkeit im Westen

Ich weiß nicht, ob jedes Detail dieses Protokolls aus dem Alltag einer akademischen Irrenanstalt stammt – plausibel erscheint es allemal, zudem uns ganz ähnliche Berichte vor allem aus dem universitären Raum nahezu täglich erheitern, den dafür notwendigen Humor vorausgesetzt.

Dabei geht es freilich nicht nur um ein paar verhuschte Studenten. In konzentrierter Form wird hier sichtbar, was für die westlichen Kulturen im frühen 21. Jahrhundert so charakteristisch ist wie etwa die enorme Hochleistungsbereitschaft für die asiatischen Gesellschaften: eine unfassbare Wehleidigkeit, die sich quer durch unsere Gesellschaften zieht.

Nahezu jeder begreift sich heute als Opfer von irgendwem und irgendwas, regelmäßig verbunden mit dem tränenverzerrten Begehr an „die Gesellschaft“, dieses Leiden entsprechend zu kompensieren; und zwar am besten durch entsprechend schmerzmildernde Zuwendungen finanzieller Natur.

Praktisch jeder unselbständig Beschäftigte mutiert solcherart unter Anleitung der einschlägigen Lobbys zu einem geknechteten Opfer der blutsaugenden Kapitalisten, was Erlösung in Form einer 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich erfordert.

Kinder, die von ihren Eltern regelmäßig eine warme Mahlzeit bekommen, dürfte es überhaupt kaum noch geben, berichten zumindest jene, die Armut politisch bewirtschaften. Dass Frauen ganz grundsätzlich und von Geburt an Wehleidigkeitsanspruch zukommt, verursacht von toxischer Männlichkeit, dem Wüten des Neoliberalismus und von geldgierigen Arbeitgebern, darf als bekannt vorausgesetzt werden. 

Mi-mi-mi-Männer

Aber auch immer mehr Mitglieder jenes Geschlechts, das man früher „das starke“ genannt hat, entdecken die Lust an der Wehleidigkeit. Geregelte Erwerbsarbeit über mehrere Tage am Stück empfinden immer mehr Männer als menschenrechtswidrig, weil die „Work-Life-Balance“ in Unordnung bringend, dem Staat für ein paar Monate als Soldat zu dienen gar als reaktionäre Zumutung und ganz generell jede Unpässlichkeit des Lebens als Anlass, Schmerzensgeld vom Staat zu begehren.

Ich meine, es ist angesichts der nicht gerade geringen Menge an zu lösenden Problemen, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen werden, an der Zeit, mit diesem Unfug aufzuhören. Mit einer infantilen Mischung aus Wehleidigkeit, Betroffenheit und Selbstmitleid ist nämlich noch nie ein Problem gelöst worden, ganz im Gegenteil.

Ich habe keine Ahnung, wie man derartige kollektive Befindlichkeiten therapiert. Aber das Lächerliche als lächerlich zu bezeichnen, anstatt Verständnis zu heucheln, wäre vermutlich ein ganz passabler Anfang.

Mehr Christian Ortner

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