Warum eine Flucht Jahre dauern kann

Wer jetzt vor den Taliban aus Afghanistan flüchten will, muss alles aufgeben und startet in eine mehr als ungewisse Zukunft. Der Migrationsexperte Samim Ahmadi im Interview über Schlepper, Routen und Grenzen.

Ein Foto von Schwimmwesten, die vor gestapelten Ruderbooten liegen.
Viele Menschen sind gezwungen, gefährliche Fluchtrouten auf sich zu nehmen. © Getty Images

Bis August 2021 arbeitete Migrationsexperte Samim Ahmadi noch vor Ort in Kabul im Büro des „International Centre for Migration Policy Development“ (ICMPD), nun ist er im Wiener Büro der Organisation, die Maßnahmen für reguläre Migration entwickelt. Seit die Taliban vor rund sieben Monaten erneut die Macht in Afghanistan übernommen haben, konnten 700.000 Menschen fliehen, 3,5 Millionen aber sind innerhalb von Afghanistan auf der Flucht.

Herr Ahmadi, welche Motive bringen Menschen zur Flucht aus Afghanistan Richtung Europa, und was erwarten sie, dort zu finden?

Samim Ahmadi: Der Hauptgrund, das Land zu verlassen, ist die fortdauernde Unsicherheit. Es gibt weder ein funktionierendes Gesundheitssystem noch wirtschaftliche Perspektiven oder Chancen auf Bildung. Hinzu kommt aktuell eine schwere Dürre. Rund 24 Millionen Afghanen benötigen akut humanitäre Hilfe. Im Winter stehen die Menschen vor der Alternative „Heat or eat?“. Das Leben in Europa kann da nur eine Verbesserung sein. Manche sind freilich enttäuscht – sie erwarten ein leichtes Leben. Tatsächlich müssen sie dann oft in Jobs arbeiten, für die sie eigentlich überqualifiziert sind. Das führt natürlich zu Frustration. Die Strapazen werden aber in der Hoffnung auf sich genommen, dass die nächste Generation bessere Möglichkeiten im Leben bekommt.

Nach welchen Mustern läuft die Flucht aus Afghanistan nach Europa ab? Wie lange dauert es zu flüchten, und mit welchen Kosten durch Schlepper ist zu rechnen?

Es gibt prinzipiell zwei Routen auf dem Landweg. Eine davon verläuft Richtung Westen in den Iran. Die andere zunächst nach Pakistan und in der Folge wiederum in den Iran. Von dort geht es weiter in die Türkei und dann an die EU-Außengrenze von Griechenland oder Bulgarien. Bis die Person am eigentlichen Ziel in Deutschland ist, dauert es durchschnittlich drei Jahre. Die Kosten für den Trip von Kandahar in die Türkei lagen vor der Machtergreifung der Taliban bei 500 bis 700 Euro. Nun betragen die Kosten bis zu 1.800 Euro.

Die gestiegene Nachfrage hat zu höheren Preisen geführt. Um die Flucht zu finanzieren, verkaufen die Menschen ihren gesamten Hausrat. Es gibt viele Straßen in Kabul und anderen Städten, die einem Secondhand-Markt gleichen und auf denen Kühlschränke oder Fernseher zu Hunderten stehen. In Afghanistan selbst werden Schlepper von Flüchtenden nicht als Kriminelle gesehen – es ist vielmehr ein Service oder eine Dienstleistung, die sie anbieten.

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Zahlen & Fakten

Wie wird sich die Fluchtsituation in den nächsten Monaten entwickeln?

Die Lage vor Ort wird schwieriger. In den vergangenen Monaten haben in Kabul 17 Krankenhäuser zugesperrt. Aber auch die Flucht wird kaum einfacher. Der Iran weist täglich 4.000 bis 5.000 Afghanen zurück. Und bei der Einreise nach Pakistan warten viele Hürden. Wir haben mit unserem Büro versucht, legale Möglichkeiten der (Arbeits-)Migration aufzuzeigen, denn es gibt sehr wohl Länder wie Kanada, England oder einige Staaten auf der Arabischen Halbinsel, wo Afghanen arbeiten können.

So wollten wir verhindern, dass sich die Menschen in Afghanistan in die Hände von Schleppern begeben – was freilich nach der Stilllegung unserer Niederlassung nicht mehr möglich ist. Die Lage in Afghanistan ist sehr ernst – der Westen muss humanitäre Hilfe leisten, aber diese Unterstützung auch mit Bedingungen, beispielsweise Frauenrechten, verknüpfen.

Foto von Samim Ahmadi
Samim Ahmadi ist Migrationsexperte des International Centre for Migration Policy Development. © privat
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Zahlen & Fakten

Das „International Centre for Migration Policy Development“ (ICMPD) wurde 1993 von Österreich und der Schweiz gegründet, 19 Staaten sind heute Mitglied. Mit rund 460 Mitarbeitern ist das ICMPD in 90 Ländern aktiv und berät bei der Entwicklung von Maßnahmen für eine reguläre Migration. Generaldirektor ist aktuell der frühere österreichische Außenminister Michael Spindelegger.