Warum Putin (noch) nicht zu Atomwaffen greift

Nukleare Drohgebärden aus Moskau verunsichern den Westen. Doch seit dem Kalten Krieg hat sich eine Balance gegenseitiger Abschreckung etabliert, die eine Eskalation unwahrscheinlich macht. Die Rüstungskontrolle hingegen steht vor schwierigen Zeiten.

Illustration von zwei Atombomben auf den Schalen einer Wage im Gleichgewicht.
Die Garantie der gegenseitigen Zerstörung macht den Einsatz von Atomwaffen unmöglich – so die Hoffnung. © Jonathan Bartlett
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Auf den Punkt gebracht

  • Täuschung. Moskaus nukleare Drohungen ändern nichts an der ab­schreckenden Wirkung der großen Atomarsenale der NATO-Länder.
  • Transparenz. Seit der Kubakrise 1962 legen die NATO sowie Russland mehr Wert auf offene Kommunikationskanäle, um die Gegenseite nicht zu verunsichern.
  • Taktik. Der Einsatz kleinerer taktischer Kernwaffen gegen ein Land ohne Atomwaffen wie die Ukraine ergibt militärisch für Russland derzeit keinen Sinn.
  • Tabu. Jeder Einsatz von Atomwaffen würde das weltweit vor­herrschende Tabu brechen und könnte sogar verbündete Staaten – allen voran China – abstoßen.

Dass Russlands Präsident Wladimir Putin die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt hat, sorgt im Westen für Verunsicherung. Schließlich sind seit dem Zweiten Weltkrieg keine Nuklearwaffen mehr eingesetzt worden und jegliche Rhetorik eines Nuklearschlags ein Tabubruch.

US-Präsident Joe Biden wollte gar zu Beginn seiner Amtszeit eine Doktrin für Atomwaffen festlegen, wonach die USA ihre Kernwaffen niemals als Erster einsetzen würden. Davon ist er nun abgegangen. Stattdessen spricht das Weiße Haus von Nuklearschlägen in extremen Situationen, wenn vitale Interessen der USA oder deren Verbündeten auf dem Spiel stünden. Damit kehrt er zum Verständnis von Nuklearwaffen als Abschreckung zurück.

Abschreckung funktioniert

Genau dank dieser Abschreckung sind nukleare Drohgebärden von russischen Militärs und Politikern mehr TV-Darbietung als mit tatsächlichen Handlungen verbunden. Zumal auch die westlichen Geheimdienste keinerlei ungewöhnliche Bewegung von Atomwaffensystemen wahrgenommen haben.

Vielmehr dürfte Putin den Politikern, Beratern und Bürgern im Westen – die für ihn überraschend tatkräftig die Ukraine unterstützen – das Gleichgewicht des Schreckens in Erinnerung rufen wollen: Zwei hochgerüstete Atommächte würden einander unweigerlich zerstören, wenn eine Seite einen Angriff startet. Also sollte man von Provokationen die Finger lassen, so das Signal Moskaus. Damit stellt sich die Frage, wie gut oder schlecht atomare Abschreckung heutzutage funktioniert.

Der Ukraine-Krieg macht einen Atomkonflikt zwischen Russland und der NATO kaum wahrscheinlicher.

Obwohl seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges die Zahl der Atomwaffen deutlich reduziert wurde, besteht die Logik der gegenseitigen Abschreckung nach wie vor. Die schlechte Nachricht: Die Gefahr eines absichtlichen oder unabsichtlichen Atomkrieges besteht. Die gute Nachricht: Der Krieg in der Ukraine hat einen atomaren Konflikt zwischen der NATO und Russland trotz der erwähnten Drohgebärden nicht wesentlich wahrscheinlicher gemacht. Um das zu verstehen, muss man das bestehende militärische Drohpotenzial kennen und auf die historische Entwicklung des Gleichgewichts des Schreckens zurückblicken.

Atomares Gleichgewicht

Russland besitzt derzeit rund 5.500 aktive Atomsprengköpfe. Etwa die Hälfte dieses Arsenals sind strategische Kernwaffen mit großer Sprengkraft, die weit entfernte Ziele erreichen können. Dazu zählen atomar bewaffnete Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber oder mit Atomraketen bestückte U-Boote. Die andere Hälfte besteht aus taktischen Kernwaffen, die von ihren Trägersystemen getrennt gelagert werden.

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Zahlen & Fakten

Die Vereinigten Staaten verfügen mit rund 3.700 aktiven nuklearen Sprengköpfen über etwas weniger Atomwaffen als Russland. Dafür wären etwas mehr amerikanische als russische Sprengköpfe einsatzbereit. Zirka hundert taktische Sprengköpfe sind auf verschiedenen NATO-Stützpunkten verteilt. Dazu kommen etwa 300, die auf strategischen Bombern positioniert werden können und die ballistischen Raketen der USA sind mit etwa 1300 Sprengköpfen ausgerüstet. Die zwei anderen Nuklearmächte in der NATO sind Frankreich, das über fast 300 einsatzbereite Sprengköpfe verfügt, und Großbritannien mit etwa 120 Sprengköpfen.

Kontrollblick auf Arsenale

Das Ausmaß der existierenden strategischen Waffensysteme ist größtenteils bekannt, da diese einfacher zu verfolgen sind. Nicht zuletzt, weil im Rahmen der Rüstungskontrolle regelmäßige, gegenseitige Inspektionen durchgeführt werden. Klar ist: Russland bleibt die einzige Atommacht mit Zweitschlagfähigkeit im Fall eines nuklearen Erstschlags der NATO. Das heißt, sie verfügt über genügend strategische Kernwaffen, um bei einem Angriff den Vereinten Staaten und seinen europäischen Verbündeten irreparablen Schaden zuzufügen.

Trotzdem rüstet Russland weiter auf. In den letzten Jahren hat es neue Trägersysteme für Kernwaffen entwickelt, etwa nuklear bestückte Torpedos, die einen radioaktiven Tsunami auslösen würden, oder unterschiedliche Versionen von lenkbaren Hyperschallraketen, die mit konventionellen Sprengköpfen bestückt auch gegen die Ukraine eingesetzt wurden. Solche neuen Waffen sollen künftige Abwehrsysteme der USA aushebeln.

Paradox Wettrüsten

In Moskau herrscht nämlich die Sorge, dass sich die USA irgendwann befähigt fühlen könnten, einen Großteil der russischen Atomwaffen auszuschalten und dank effektiver Abwehrsysteme einem Rückschlag standzuhalten. Das würde das gegenseitige Drohpotenzial aus dem Gleichgewicht bringen. Das Paradox im nuklearen Wettrüsten lautet: Je sicherer sich eine Seite fühlt, desto nervöser wird die andere. So steigt die Eskalationsgefahr.

Noch sind die USA weit davon entfernt, ein derartiges Abwehrsystem zu entwickeln. Die Raketenschutzschirme Israels etwa, die im Zuge der deutschen Aufrüstungsdebatte erwogen werden, wirken gut gegen Artillerie-Raketen, wie sie von der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas abgefeuert werden. Interkontinentalraketen, die außerhalb der Atmosphäre fliegen, sind viel schwerer – manche sagen sogar unmöglich – in großer Zahl verlässlich abzufangen.

Das Paradox im nuklearen Wettrüsten lautet: je sicherer sich eine Seite fühlt, desto nervöser wird die andere.

Schutzschirme mit einer solchen Effektivität sind derzeit pure Science Fiction. Das Gleichgewicht des Schreckens ist stabil. Diese Stabilität ist einer langen Geschichte beidseitiger Aufrüstung zu verdanken, die schließlich in einer gegenseitig versicherter Vernichtung, auf englisch „mutual assured destruction“ (MAD) mündete.

Rangeleien am Abgrund

Die Situation in den 1950er Jahren war prekär, auch weil es kein strategisches Gleichgewicht gab. Einerseits war die Rote Armee den NATO-Kräften in Europa numerisch stark überlegen. Andererseits waren US-Atomraketen in der Türkei und Westeuropa auf die Sowjetunion gerichtet, während es umgekehrt noch keine echte Bedrohung für das US-Festland gab. Das sollte sich erst mit der Entwicklung nuklearer U-Boote und insbesondere mit dem „Sputnik-Schock“ 1957 ändern.

Damals hatte die Sowjetunion den allerersten Satelliten ins All gebracht. Dieser Meilenstein der Raumfahrt bedeutete für die Strategen im Pentagon vor allem eines: Der Rivale könnte genauso gut eine Atombombe ins All schießen und sie über Washington oder New York wieder herunterbringen. Damit ging das strategische Wettrüsten so richtig los.

Freiwillige Astronomen im Jahr 1957 bei der Satellitenbeobachtung in Millbrook, New York. Nachdem die Russen offensichtlich die Weltraum­technik beherrschten, musste man mit buchstäblich allem rechnen.
Freiwillige Astronomen im Jahr 1957 bei der Satellitenbeobachtung in Millbrook, New York. Nachdem die Russen offensichtlich die Weltraum­technik beherrschten, musste man mit allem rechnen. © Getty Images

Um das Gleichgewicht des Schreckens zu bewahren, rüsteten beide Seite auf und brachten stetig Waffen in Stellung. Das führte auch zur Kuba-Krise, als Nikita Chruschtschow 1962 als Antwort auf die in der Türkei stationierten und auf Russland gerichteten nuklearen Mittelstreckenraketen ähnliche Raketen auf Kuba installieren wollte, um Washington D.C. zu bedrohen.

Weckruf für Supermächte

Die Kuba-Krise, bei der die Welt mehrmals knapp einem nuklearen Zusammenstoß entging, war ein Weckruf für das Weiße Haus und für den Kreml zugleich. In mehreren brenzligen Situationen trafen Militäreinheiten vor Ort Entscheidungen, die nicht von den Regierungen abgesegnet waren. Zum Beispiel beschossen US-Schiffe sowjetische U-Boote – ohne Befehl von oben und nicht wissend, dass die U-Boote mit Kernwaffen bestückt waren.

Damit zeigte die Krise, dass es offene Kommunikationskanäle zwischen den USA und der Sowjetunion beim Thema Rüstungskontrolle brauchte, egal welche anderen Konflikte sie gerade auf der Weltbühne ausfochten. Seit der Kuba-Krise wurden eine steigende Anzahl Abkommen abgeschlossen und die Lehre hält bis heute.

Ohne Satellitenbeobachtung wäre Putins Ansage, die nuklearen Streitkräfte in Alarmbereitschaft zu setzen, viel beängstigender.

Dank den damit verbundenen Inspektionen haben heute beide Seiten einen besseren Einblick darin, was die andere macht. Dieser Informationsaustausch vermag es, brenzlige Situationen zu entspannen – ohne Satellitenbeobachtung wäre Putins Ansage, die nuklearen Streitkräfte in Alarmbereitschaft zu setzen, viel beängstigender.

Trotz der verbesserten Kommunikation bestehen die nuklearen Arsenale, und damit das aus einem logischen Kalkül geborene Gleichgewicht des Schreckens, weiter. Somit bleibt nicht nur ein Atomkrieg, sondern auch eine Begegnung von Truppen der NATO und Russlands auf dem Schlachtfeld sehr unwahrscheinlich.

Gefährliches taktisches Kalkül

Anders steht es mit dem Einsatz taktischer Kernwaffen. Ein Gleichgewicht des Schreckens mit strategischen Waffen kann paradoxerweise dazu führen, dass sich verfeindete Staaten eher kleinere Provokationen abseits einer direkten Konfrontation leisten. So kann die andere Seite darauf nicht mit Eskalation reagieren, die zur gegenseitigen Vernichtung ausarten könnte. Zu diesem Phänomen würden Moskaus nukleare Drohgebärden passen. Schließlich verfügt Russland über das mit Abstand größte Arsenal an taktischen Kernwaffen und befindet sich im Krieg mit einem Land, das unter keinem nuklearen Schutzschirm steht.

Zweck taktischer Kernwaffen ist der Einsatz auf dem Schlachtfeld gegen gegnerische Truppen, militärische Infrastruktur, Schiffe etc. Ihren Ursprung hatte die Aufrüstung taktischer Kernwaffen bereits in den Anfängen des Kalten Krieges, als das Potenzial einer kompletten gegenseitigen Vernichtung mit strategischen Waffen noch nicht gegeben war. Damals bereiteten sich beide Seiten darauf vor, einen konventionellen Krieg in Europa mit Nuklearschlägen zu kombinieren.

Zum Beispiel gab es nukleare Landminen, die eine Kolonne an Truppenfahrzeugen vernichten sollte. Die USA hatten sogar Ein-Mann-Atombomben, deren Reichweite geringer als ihr Explosionsradius war – also eine Selbstmordwaffe für den Schützen. Darüber hinaus waren zahlreiche Raketen und Bomber mit kleineren Atomwaffen bestückt und nahe dem Eisernen Vorhang stationiert.

Die Bezeichnung „kleine Atomwaffen“ vermittelt jedoch ein falsches Bild: Selbst die kleinsten taktischen Kernwaffen, die heute in Verwendung sind, haben etwa ein Drittel der Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Solche kleinere US-Atombomben sind auch heute noch in Deutschland stationiert und können von der Luftwaffe eingesetzt werden. Diese Waffen haben wenig militärischen Zweck, dienen aber als Symbol des nuklearen Schutzschirms.

Tabu als Schutzschild

Über das russische Arsenal an taktischen Waffen sind weniger Details bekannt. Fest steht, dass sie quer durch die Waffengattungen einsatzbereit sein dürften. Ihr Einsatz in der Ukraine ergäbe aus militärischer Sicht aber keinen Sinn. Es gibt dort keine taktischen Ziele, wie große Stützpunkte voller Panzer oder Flieger, die gut vor nicht-nuklearen Angriffen geschützt wären. Wo es den Russen um Zerstörung geht, reichen ihre konventionellen Bomben aus, ohne dass Moskau das nukleare Tabu brechen müsste.

Auch China würde sich schwer damit tun, einem nuklearen Aggressor den Rücken zu decken.

Prekär könnte es jedoch werden, wenn sich Präsident Putin in die Ecke gedrängt fühlt, und zwar durch militärische Erfolge der ukrainischen Armee. Der Einsatz taktischer Kernwaffen wäre ein Signal an Kiew, wie weit die Invasoren bereit sind zu gehen, um die Ukraine zum Aufgeben zu bewegen.

Fest steht: im unwahrscheinlichen Fall eines taktischen Nuklearschlags gegen die Ukraine könnte der Westen nicht viel tun, außer Sanktionen weiter zu verschärfen. Relevanter wäre die Reaktion Pekings. Auch China täte sich schwer damit, einem nuklearen Aggressor den Rücken zu decken. Das beste Schild, das die Ukraine derzeit vor Putins Atombomben hat, sind nicht NATO-Raketen oder Sanktionsdrohungen, sondern die Meinung der Weltöffentlichkeit und was sich Wladimir Putin und Xi Jinping daraus machen.

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Conclusio

Russlands Führung hat im Zuge des ­Ukraine-Konflikts mehrfach auf seine ­atomare Schlagkraft verwiesen. Allerdings sind damit keine militärischen ­Vorbereitungen einhergegangen, die westliche Geheimdienste als ernstes Alarmsignal deuten würden. Denn das Gleichgewicht des Schreckens durch das Potenzial der gegenseitigen nuklearen Auslöschung wirkt heute genauso wie im Kalten Krieg: Ein Erstschlag mit stra­tegischen Atomwaffen hätte die eigene Ver­nichtung zur Folge. Anders ist das Drohpotenzial von taktischen Kernwaffen zu beurteilen, die auf dem Schlachtfeld gegen die Ukraine eingesetzt werden könnten. Allerdings ist das aus strate­gischer Sicht nicht sinnvoll. Und mit dem Bruch des nuklearen Tabus könnte Moskau auch Verbündete wie China und bislang ­neutrale Staaten vergraulen.