Das große Krabbeln
Ein neues Projekt will herausfinden, welche und wie viele Blatthornkäfer es in Österreich gibt. Matthias Seidel gibt einen Einblick in die Welt der Käferforscher.
Man würde glauben, die Welt sei vermessen. Der Mensch ist an fast jeden Winkel der Erde gekommen, die Zeit der Entdecker scheint vorbei. Aber überall dort, wo es wuselt, ist das nicht der Fall. „Wenn jemand auf einen entlegenen Berg in Costa Rica geht und im Laub nach Käfern sucht, werden die meisten davon noch nicht beschrieben sein“, sagt Matthias Seidel, Kurator der Käfersammlung im Wiener Naturhistorischen Museum. In Österreich sei die Lage ein wenig anders, wirklich neue Arten gibt es in den Wiesen und Wäldern vermutlich kaum mehr zu entdecken. „Da sind es meistens Arten, die in Österreich noch nicht bekannt waren oder sich durch die Klimaerwärmung hier etablieren.“
Mehr Forschungsreisen
Aber auch wenn die Arten bekannt sind: Über Österreichs Käferpopulation weiß man sehr wenig. Welche Käfer ausgestorben, welche gefährdet sind – all das ist nur in Ansätzen bekannt. „Das wurde früher eher auf subjektiver Basis gemacht: ‚Diese Art habe ich selten gesehen und deshalb denke ich, sie ist gefährdet‘“, erzählt Seidel. Ein neues Projekt soll das nun ändern. Zumindest für eine bestimmte Käfergruppe, jene der Blatthornkäfer. Sie umfasst sieben Familien, unter anderem gehören die Hirsch- und die Maikäfer dazu. Am Ende des Projekts soll in zwei Jahren „ein Österreichatlas mit Nachweisen für vielleicht um die 200 Arten stehen“, so Seidel. Auch eine rote Liste für gefährdete Blatthornkäfer soll erstellt werden.
Wir müssen uns Sisyphus als Käferforscher vorstellen
Jetzt ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass so wenig über Österreichs Käferbestand bekannt ist, auf den zweiten fragt man sich eher: Wie sollte es anders sein, wie will man den Bestand herausfinden? Durchkämmen Österreichs Entomologen jetzt für die Projektdauer von zwei Jahren ganz Österreich und drehen jeden Stein um? Natürlich nicht, auch wenn die tatsächliche Vorgehensweise genauso nach einer Sisyphusarbeit klingt.
Die Arbeit eines Käferforschers findet nämlich zu weiten Teilen in Sammlungen statt. Wer Seidel nach seinem aufregendsten Käferfund fragt, erwartet vielleicht zu hören, wie er sich mit Machete und Tropenhut durch den Dschungel kämpfte. Aber nein: „Das Spannendste war die erste Art, die ich beschrieben habe. Ich war bei einem Privatsammler in Bayern, habe durch die Sammlung gestöbert und da steckte eine komplett neue Art drinnen.“
Wie viele Blatthornkäfer gibt es wirklich?
Seidels Büro ist in den Hinterzimmern des Naturhistorischen Museums in Wien mit seinen prunkvollen hohen Räumen angesiedelt, und er ist umgeben von Kisten, Schachteln und Laden voller toter Käfer. Nicht hunderte, nicht tausende. Millionen Käfer, rund sechs Millionen, grob geschätzt. Sicher lagern auch hier in irgendwelchen Kisten Arten, die noch nicht beschrieben sind. „Zwischen Herbst 2022 und Frühjahr 2023 haben wir innerhalb eines halben Jahres fast eine halbe Million Käfer geschenkt bekommen“, erzählt Seidel. Die Käfersammlung des Museums beruht zu großen Teilen auf Schenkungen privater Sammler, die ihre Schätze irgendwann dem Museum überlassen.
Manche davon sammelten in Österreich, manche in fernen Ländern, einige hatten ein Ziel – etwa alle Käfer einer bestimmten Gruppe zu finden –, andere sammelten einfach so. Manche waren sehr gut darin zu bestimmen, was sie da gefunden haben, andere waren es weniger. „Wir haben jetzt beim Blatthornkäferprojekt schon gemerkt, dass wir den Originalbestimmungen so gar nicht vertrauen können“, so Seidel.
Die vielen Boxen, die da draußen stehen – da haben wir Tausende davon und da steht nicht unbedingt drauf, was drin ist.
Matthias Seidel, Kurator der Käfersammlung
Um herauszufinden, welche und wie viele Blatthornkäfer es in Österreich gibt – oder gab –, muss das Museum also seine Sammlung aufarbeiten. „Die vielen Boxen, die da draußen stehen – da haben wir Tausende davon –; und da steht nicht unbedingt außen drauf, was drinnen steckt. Das heißt, wir müssen jede Box aufmachen und die Blatthornkäfer raussuchen“, sagt Seidel. Sie werden sortiert, bestimmt und mit Fundort digitalisiert. So entsteht Käfer für Käfer ein Überblick über die Arten und ihre Häufigkeit.
Die Gegenwart als Blick in die Vergangenheit
Es ist zwangsläufig ein Blick zurück, denn was „im vergangenen Jahr gesammelt wurde, kommt erst zu uns, wenn die Person sich entscheidet, mit der Entomologie aufzuhören oder wenn uns die Hinterbliebenen die Sammlung bringen“, erzählt er. Deshalb lagert im Museum ein ziemlich guter Überblick darüber, welche Käfer es in den 50ern bis 70ern in Österreich gab. Die vergangenen zwanzig Jahre sind eher eine Black Box.
Neue Online-Plattformen können den Forschern helfen, diese Lücke zu füllen: „Da gibt es zum Beispiel iNaturalist oder andere Plattformen, da gehen Leute mit dem Telefon herum, fotografieren einen Käfer und laden das Foto hoch. Da passiert live, was wir mit dem historischen Material machen“, erzählt Matthias Seidel.
Einmal mit dem Auto von Wien nach Salzburg zu fahren, tötet mehr Insekten als ich in einem Jahr sammeln kann.
Matthias Seidel, Kurator der Käfersammlung
Aber auch mit dem gesammelten Material „werden wir bei vielen Arten zeigen können, wie der bisherige Trend war und den kann man dann natürlich in die Zukunft extrapolieren.“ Und wenn eine Art seit den Sechzigern in keiner Sammlung mehr auftaucht, ist davon auszugehen, dass sie ausgestorben ist. „Viele Arten von Blatthornkäfern sind ausgestorben als Entwurmungsmittel für die Landwirtschaft auf den Markt gekommen sind“, erklärt Seidel.
Insektenmörder Auto
Wenn der Bestand einer Art aufgrund von aufgespießten Exemplaren geschätzt wird: Ist das dann nicht Teil des Problems? Also: Ist das Sammeln nicht auch Schuld daran, dass eine Art ausstirbt? Diese Annahme sei weit weg von der Realität, sagt Seidel: „Wenn eine Art ausstirbt, dann ist es fast immer durch Habitatverlust. Es wäre ein extremer Aufwand, eine Art zum Aussterben zu sammeln.“ Und: „Einmal mit dem Auto auf der Autobahn 300 Kilometer zu fahren, tötet mehr Insekten, als ich in einem Jahr sammeln kann.“
Aber was fasziniert ihn eigentlich an den Tieren, die für anderen Menschen einen Ekelfaktor haben? „Es ist fast wie Briefmarken sammeln, aber mit wissenschaftlichem Zweck“, sagt Seidel. „Und bei 450 000 beschriebenen Arten ist es ein unglaublich großes Sammelfeld.“ Es gibt Käfer mit verrückten Farbkombinationen – „ich finde, je größer und bunter, desto besser, aber das ist natürlich Geschmackssache.“ Selbst kleine zwei Millimeter große Käfer seien für manche spannend, erzählt er und sein Blick sagt, dass er ja auch nicht alles verstehen müsse.
Aber jetzt, wo er Kurator der gesamten Sammlung ist, muss er sich trotzdem aller Käfer annehmen. Und wenn das Projekt mit den Blatthornkäfern abgeschlossen ist, dann schiebt Sisyphus seinen Stein wieder den Berg hinauf, dann geht Matthias Seidel in den Keller und macht eine neue Kiste mit Käfern auf. Bis alle Käfer bestimmt sind. Und das wird dauern. „Wenn ich zehn Vollzeit-Mitarbeiter hätte, wäre ich eventuell in der Lage, es in meiner Lebenszeit zu schaffen, die ganze Käfersammlung des Museums aufzuarbeiten“, sagt Seidel. Er ist 34 Jahre alt.
Über diese Serie
Unter dem Titel „Forschungsreisen“ präsentieren wir spannende Forschungsprojekte aus ganz Österreich. Der Pragmaticus war bereits zu Gast beim „Austrian Space Weather Office“ in Graz, bei Markus Hengstschläger, der gerade an Embryoiden forscht und beim ISTA in Klosterneuburg, wo Francesco Locatello an kausaler KI forscht. In der nächsten Folge erzählt Elisabeth Mertl vom OFI, wie Tierversuche in Zukunft vermieden werden können.