Was mehr Druck auf Arbeitslose bringt

Programmierer, Techniker, Handwerker und Co. sind gefragt wie selten. Doch auch in Mangelberufen sind viele arbeitslos gemeldet. Die Politik erwägt, das Arbeitslosengeld über die Bezugsdauer zu senken, um Druck zu machen. Das hat Vor-, aber vor allem Nachteile.

Foto eines Mannes der telefonierend an einem Tisch mit Laptop sitzt.
Die Arbeitslosenversicherung soll den Druck der Arbeitssuche mindern. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Stellenrekord. In einigen Berufen gibt es mehr offene Stellen als Arbeitslose, manche Betriebe berichten von mangelnder Motivation der Bewerber.
  • Druckmittel. Die Politik erwägt, das Arbeitslosengeld zunächst anzuheben und über die Zeit stärker abzusenken, um Arbeitsanreize zu setzen.
  • Reformtücken. Viele der Arbeitslosen sind Saisonkräfte – höhere Leistungen kosten viel und bringen Betroffene nicht schneller in den Job.
  • Balanceakt. Ein sinkendes Arbeitslosengeld hat laut Studien positive wie negative Effekte, auf das Timing kommt es an.

Wer in den vergangenen Monaten versucht hat, einen Tischler oder Architekten anzuheuern, vielleicht eine neue Pflegekraft sucht, ein neues Fahrrad bestellt hat oder sich über die lange Wartezeit im Kaffeehaus wundert, spürt den Fachkräftemangel am eigenen Leib. Viele Firmen haben volle Auftragsbücher, doch nicht genügend Personal, um sie abzuarbeiten. Ein Blick auf den Arbeitsmarkt verdeutlicht das Problem.

Mehr im Dossier Fachkräfte

Ein Beispiel: Zuletzt waren im Oktober in Österreich über 4.800 Stellen für den Mangelberuf Elektriker beim Arbeitsmarktservice (AMS) erfasst. Demgegenüber standen 3.700 suchende Elektriker. Die Frage stellt sich, warum die beiden Seiten nicht schneller zusammenfinden und der Fachkräftemangel akuter wird.

Eine Vermutung lautet, dass sich Arbeitslose zu lange Zeit lassen, um Bewerbungen auszuschicken und eine Stelle anzunehmen. Anekdotische Evidenz von vermeintlich vorsätzlich schlechten Bewerbungsversuchen geistert durch die Medien. Forderungen nach einer Reform des Arbeitslosengelds nehmen an Fahrt auf.

Unterschiedliche Ansätze

In Österreich erhalten Arbeitslose 55 Prozent ihres letzten Einkommens ersetzt – mehr sind es in der Schweiz mit gut 70 Prozent, in Deutschland sind es knapp 60 Prozent. Läuft das Arbeitslosengeld in Österreich aus, kann Notstandshilfe in Höhe von 51 Prozent des früheren Einkommens gewährt werden, theoretisch auf unbegrenzte Dauer. Dadurch fällt auf den ersten Blick die finanzielle Unterstützung in Österreich kaum ab, während Arbeitslose in Deutschland und der Schweiz nach fünf Jahren nur mehr ein Viertel ihres ursprünglichen Einkommens ersetzt bekommen. Letztere Systeme bezeichnet man als degressiv.

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Zahlen & Fakten

Österreichs Regierung erwägt, den degressiven Ansatz beim Arbeitslosengeld nachzuahmen, nach dem Motto: anfangs großzügiger, dafür später knausriger als bisher. Damit soll der Druck auf Arbeitslose über die Zeit zunehmen, einen Job anzunehmen.

Jedes der Modelle hat Vor- und Nachteile. Letztlich ist es eine Frage des politischen Willens, was man bevorzugt. Die Arbeitsmarktforschung bietet viel empirische Evidenz. Diese wird leider nicht immer beachtet und Maßnahmen werden beschlossen, die sich nicht auf Erkenntnisse aus der Forschung stützen. Bei einer Reform des Arbeitslosengeldes gibt es einiges zu beachten.

Ausnahmesituation Coronakrise

Zunächst muss man bedenken, dass die Pandemie eine Ausnahmesituation ist. Über ein Jahr lang gab es wiederholt Lockdowns, Millionen Menschen waren in Kurzarbeit und eine Generation von Absolventen plante ihren nächsten Karriereschritt in diesem chaotischen Umfeld. Relativ schnell fährt die Wirtschaft heuer wieder hoch. Dass es dabei zu Verwerfungen am Arbeitsmarkt kommt, ist wenig verwunderlich.

Ein degressives Arbeitslosengeld birgt auch Kosten. 

Derzeit können Betriebe nicht auf dieselben Arbeitnehmer zurückgreifen, wie sie es gewohnt waren. Mag sein, dass sich unsere gesamte Wirtschaft gewandelt hat und noch mehr fachspezifische Stellen mit höheren Anforderungen entstanden sind. Das wahre Ausmaß des Fachkräftemangels bleibt in der jetzigen Situation schwer abzuschätzen. Für eine einschneidende Reform wäre eine weniger verzerrte Phase am Arbeitsmarkt günstiger.

Verzerrtes Bild

Die Ausgangslage ist nicht so klar abgesteckt, wie es die öffentliche Debatte bisweilen vermuten lässt: Das Arbeitslosengeld wird in Österreich nicht automatisch in die Notstandshilfe umgewandelt, sobald die Bezugsdauer verstrichen ist. Wer Notstandshilfe beantragt, muss einen Notstand vorweisen. Andere Einkünfte werden davon abgezogen, die Leistung muss aufwändig beantragt werden und das regelmäßig aufs Neue.

Wir sehen in den Daten folglich eine Lücke: nachdem das Arbeitslosengeld ausläuft, nehmen bei weitem nicht alle Betroffenen automatisch die Notstandshilfe in Anspruch. Von den Personen, die nach mindestens 20-wöchiger Arbeitslosigkeit noch keinen Job haben, beziehen nur etwas mehr als die Hälfe Notstandshilfe.

Mehrere Studien haben gezeigt, dass Arbeitslose auf die potenzielle Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes reagieren, anstatt auf die unbefristete Bezugsdauer von Arbeitslosengeld plus Notstandshilfe – dazu später noch.

Förderung von Saisonarbeit

Ein degressives Arbeitslosengeld birgt auch Kosten. In Österreich gibt es einen großen Anteil an Kurzzeitarbeitslosen, die innerhalb von wenigen Monaten wieder in Beschäftigung sind und von denen die meisten wieder zum gleichen Arbeitgeber zurückgehen, der sie freigesetzt hat. Von den Neueintritten in Arbeitslosigkeit in den Jahren 2015 bis 2017 waren mehr als die Hälfte nach drei Monaten wieder in Beschäftigung, davon zwei Drittel beim früheren Arbeitgeber. Für Saisonkräfte am Bau und im Tourismus ist dieses Hin und Her ganz normal.

Putzkraft vor Hotelzimmer mit Houskeeping-Wagen
In der Hotellerie leben viele Mitarbeiter zwischen den Saisonen vom Arbeitslosengeld. © Getty Images

Erhielten all diese Saisonniers deutlich mehr Arbeitslosengeld, würde es ihr Suchverhalten nicht ändern. Für Unternehmen wäre es ein Anreiz, verstärkt auf Saisonarbeit zu setzen. Diesen negativen Effekt muss man mit jenen Ersparnissen gegenrechnen, wenn Arbeitskräfte wegen der zeitlich abfallenden Unterstützung schneller eine Stelle annehmen. Unterm Strich dürften die Kosten den Nutzen nicht übersteigen.

Balanceakt

Schneller ist außerdem nicht immer besser bei der Jobsuche. Wer nicht unter Hochdruck steht, findet eher eine Position, die besser zur eigenen Qualifikation passt, besser bezahlt ist und zufriedener macht. Das würde die Produktivität erhöhen und mehr Steuereinnahmen generieren.

Jobsuche ist zeitaufwändig. Da die arbeitslose Person nicht alle Angebote auf einmal sieht und sich darunter die beste Stelle aussuchen kann, muss sie sich eine gewisse Zeit nehmen und bei jedem Angebot abwägen, ob es eventuell vorteilhaft wäre, auf eine bessere Stelle zu warten. Allerdings nimmt mit längerer Suchdauer die Qualität der Angebote ab – sei es, weil die Suchenden bereits ihre präferierten Jobs nicht bekommen haben oder weil mit der Dauer der Arbeitslosigkeit das Stigma wächst. Langzeitarbeitslose geraten leicht in eine Abwärtsspirale, unabhängig davon, wie lange und wie großzügig Unterstützung geleistet wird.

Langzeitarbeitslose geraten leicht in eine Abwärtsspirale, unabhängig davon, wie lange und wie großzügig Unterstützung geleistet wird.

Wenn zum Beispiel eine talentierte und erfahrene Köchin nicht die erstbeste Stelle in einem Fastfood Restaurant annehmen will, ist das nachvollziehbar. Wenn sie in ein paar Wochen eine besser bezahlte Stelle in einem hippen Gasthaus annimmt, wo sie sich entfalten kann, ist das vorteilhaft für sie, ihren Arbeitgeber und die Gesellschaft.

Was aber, wenn die Köchin trotz längerer Suche keinen Job findet, der ihren Vorstellungen entspricht? Nach Monaten der Arbeitslosigkeit hinterfragen potenzielle Arbeitgeber womöglich, warum diese Kandidatin noch verfügbar ist. Letztlich muss die Köchin vielleicht eine Stelle annehmen, die schlechter bezahlt ist als die erste, die sie abgelehnt hatte.

Lenkungseffekte

Höhe und Ausgestaltung des Arbeitslosengeldes haben gewiss Einfluss darauf, wie Arbeitslose an die Jobsuche herangehen. Mein Kollege Arash Nekoei und ich konnten diesen Effekt in einer Vergleichsstudie berechnen. In Österreich erhalten jüngere Arbeitslose, die eine gewisse Zahl an Beitragsmonaten gesammelt haben, 30 Wochen lang Arbeitslosengeld. Ab einem Alter von 40 erhöht sich die Bezugsdauer auf 39 Wochen.

Wir können daher zwei sehr ähnliche Gruppen beobachten, die unterschiedlich lange Arbeitslosenhilfe beziehen dürfen – zum Beispiel einen Bäcker, der am 31. Dezember geboren wurde, mit einem Kollegen, der einen Tag später am 1. Jänner auf die Welt kam und daher neun Wochen länger Arbeitslosengeld beziehen darf. Wir stellten fest, dass die länger Anspruchsberechtigten im Schnitt zwar zwei Tage länger einen Job suchten, dafür aber besser bezahlte Stellen fanden mit einem höheren Lohn von durchschnittlich einem halben Prozentpunkt.

Ein längerer Anspruch auf Unterstützung führt wie erwartet dazu, dass Menschen länger arbeitslos bleiben. Der Effekt ist jedoch nicht beunruhigend: Wenn Arbeitslose, die ganze zwei Monate länger Arbeitslosengeld beziehen dürfen, sich durchschnittlich zwei Tage länger Zeit lassen, um eine Stelle anzunehmen, besteht kaum Gefahr, dass die Betroffenen stigmatisiert in eine Abwärtsspirale der Langzeitarbeitslosigkeit geraten oder gar zum Fachkräftemangel beitragen.

Balance notwendig

Studien aus Deutschland zeigen, dass sich auf längere Sicht der Effekt umkehrt: Demnach fanden Arbeitslose mit 18-monatigem Anspruch auf Unterstützung, schlechter bezahlte Stellen als jene mit zwölfmonatigem Anspruch. Die Ergebnisse zeigen, dass zusätzlicher Druck, wie das Auslaufen des Arbeitslosengeldes nach einem Jahr, einen positiven Effekt auf die Beschäftigung haben kann. Die Kunst liegt darin, das System auszubalancieren.

Mit Blick auf den Fachkräftemangel sind mittelfristig Schulungen sinnvoller, langfristig ist es eine Frage des Bildungssystems sowie der Migrationspolitik, qualifizierte Mitarbeiter für die heimische Wirtschaft hervorzubringen. Mehr Druck auf Arbeitslose auszuüben, bringt hier wenig. Ein degressives System kann sogar die Kosten erhöhen, wenn das System der temporären Freisetzung von Mitarbeitern von der Allgemeinheit teuer gefördert wird.

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Conclusio

Der Arbeitsmarkt erholt sich schneller als viele erwartet hatten. In zahlreichen Mangelberufen gibt es mehr offene Stellen als Arbeitssuchende. Ein mit der Zeit sinkendes Arbeitslosengeld könnte Arbeitssuchende dazu motivieren, rascher eine Stelle anzunehmen. Eine derartige Reform birgt jedoch einige Tücken: Die aktuelle Ausnahmesituation eignet sich schlecht, um ein lange etabliertes System umzustellen. Generell legt die Forschung nahe, dass früh ansetzender finanzieller Druck auf Arbeitslose dazu führt, dass Betroffene zwar schneller eine neue Stelle annehmen, diese sind aber tendenziell schlechter. Bei Langzeitarbeitslosen führt vermutlich Stigmatisierung dazu, dass ihnen angebotene Stellen mit der Zeit immer schlechter werden. In so einer Situation kann finanzieller Druck positiv wirken.