„Unser Wehrwille ist besonders schwach“
Während die Europäer ihre Arsenale massiv aufstocken, bleibt unklar, woher die Soldaten kommen sollen, die man für den Waffeneinsatz benötigt. Sicherheitsexperte Franz Eder erklärt, warum Länder wie Finnland den Weg weisen und was in Österreich schiefläuft.

Die jungen Leute heutzutage wären nicht mehr bereit, ihr Heimatland mit der Waffe zu verteidigen, lauten ein gängiges Vorurteil. Stimmt das überhaupt? Und wovon hängt der Wehrwille in einem Land eigentlich ab? Der Innsbrucker Politologe Franz Eder erforscht, wie die Europäer über Krieg und Frieden sowie ihren persönlichen Beitrag nachdenken. Dabei kehrte er einige überraschende Zusammenhänge hervor. Österreich attestiert er ein falsches Verständnis von der eigenen Neutralität. Ein Gespräch über den Ernst der Lage, die Rolle von Abschreckung, die großen Unterschiede bei der Wehrfähigkeit und vor allem, was dahinter steckt.
Der Pragmaticus: Die Europäer rüsten massiv auf. Eine Schwachstelle ist die Truppenstärke. Die europäischen NATO-Länder haben knapp zwei Millionen an Militärpersonal. Reicht das nicht?
Franz Eder: Nur auf dem Papier. Davon sind zehn Prozent einsatzfähig. Rund 50.000 sind in der Lage, Operationen durchzuführen, wie wir sie von den Amerikanern gewohnt sind. Weil Truppen rotiert werden müssen, bleiben 20.000, die man ins Feld führen kann. Auch in Österreich haben wir einen hohen Anteil an Schreibtischsoldaten. Andere Länder sind besser aufgestellt. Die Finnen haben fünf Millionen Einwohner, können dank ihrer Form der Wehrpflicht aber in kürzester Zeit eine Million Mann und Frau mobilisieren.
Wenn Donald Trump US-Soldaten abzieht, geht es um hochprofessionelle Einheiten, vom Kampfpiloten bis zum Cyberexperten. Würde eine Wehrpflicht in Ländern wie Deutschland oder Polen da überhaupt nutzen?
Es gibt in Europa sehr professionelle und den Amerikanern ebenbürtige Truppenteile. Auch in Österreich, beispielsweise das Jagdkommando. Man müsste natürlich die Spezialisten der USA ersetzen, aber das geht leichter, wenn der Berufsanteil der Heere diese Aufgaben übernimmt und eine Miliz und Wehrdiener verstärkt in anderen Bereichen zum Einsatz kommen. Es geht darum, einen Staat insgesamt resilienter zu machen.
Ein erheblicher Teil der Bevölkerung sollte im Ernstfall den Willen und die Fähigkeit haben, einen Beitrag zur Verteidigung zu leisten. So funktioniert Abschreckung.
Jeder muss kampfbereit sein?
Nicht im wörtlichen Sinne, auch in Finnland sind nicht eine Million Leute vorbereitet, sofort ins Feld zu gehen. Es geht vielmehr um einen breiter gedachten Einsatz zum Schutz des Landes. Es muss immer eine Alternative zum Dienst an der Waffe geben, aber ein erheblicher Teil der Bevölkerung sollte im Ernstfall den Willen und die Fähigkeit haben, einen Beitrag zur Verteidigung zu leisten. So funktioniert Abschreckung.
In Deutschland hat man den Wehrdienst ausgesetzt, in Österreich wurde er verkürzt. Sollten wir umdenken?
Ja, in beiden Ländern wurde der Wehrdienst immer weiter herunterdividiert. In Österreich dauert er nur mehr sechs Monate, und danach sehen wir die Leute nie wieder. Das reicht nicht aus, um jemanden auf den Ernstfall vorzubereiten. In Deutschland fehlt es natürlich komplett an breiter Ausbildung.
Verständlicherweise packen die Militärs jetzt die Gelegenheit beim Schopf und bestellen auf Teufel komm raus, aber was man mit diesem Gerät dann macht, wo man es abstellt oder ob es die Infrastruktur schon gibt, darüber wird momentan nicht großartig geredet. Vor allem müsste man sich fragen, wer die neuen Waffensysteme bedienen soll. Es ist illusorisch, zu glauben, dass Rekruten zehn Jahre später noch wissen, wie die ganze Ausrüstung funktioniert. Wir brauchen daher eine Strategie, um die Gesellschaft wehrhafter zu machen, aber diese Debatte wird zumindest in Österreich von der Politik tunlichst vermieden, weil sie unpopulär ist.
Spitzenverdiener haben im Kriegsfall auch mehr zu verlieren, damit sinkt die Bereitschaft, sich in Gefahr zu begeben.
Apropos unpopulär: In einer jüngst vom Pragmaticus gemachten Umfrage gaben 62 Prozent der Österreicher an, das Land im Ernstfall nicht mit der Waffe verteidigen zu wollen. Ist der geringe Wehrwille ein gesamteuropäisches Phänomen?
Nein, Österreich sticht hier heraus, wie auch unsere Untersuchungen zeigen. Tendenziell sehen wir in Europa ein Ost-West- und ein Nord-Süd-Gefälle. Das liegt wohl an der geografischen Bedrohungslage: Je weiter man von Moskau weg ist, desto geringer ist die Wehrbereitschaft. Aber es hängt auch stark damit zusammen, wie das Thema öffentlich behandelt wird. In Finnland ist es das Natürlichste der Welt, über die nationale Sicherheit zu sprechen und wie man kollektiv Verantwortung verteilen soll. Entsprechend entscheidet sich die Mehrheit der jungen Männer für den Dienst an der Waffe, und sogar eine steigende Anzahl von Frauen meldet sich freiwillig.
Neutralität für Österreicher ausgehöhlt
Sie haben auch den Wehrwillen innerhalb von Gesellschaften analysiert. Simmt das Klischee vom linken Verweigerer und dem rechten Patrioten?
Nicht ganz. Es stimmt, dass jene, die sich politisch rechts der Mitte einordnen, eher bereit sind, das Land mit der Waffe zu verteidigen, als jene, die sich als links bezeichnen. Das korreliert mit dem Vertrauen in staatliche Institutionen. Allerdings beobachten wir am ganz rechten Rand nicht nur eine skeptische Einstellung gegenüber dem Staat, sondern auch eine geringere Tendenz, Österreich mit der Waffe zu verteidigen. Jedoch muss man bei solchen Interpretationen bedenken, dass sich sehr wenige Menschen als rechts außen positionieren. Umfrageergebnisse können somit verzerrt sein.
Sie haben auch festgestellt, dass mit steigendem Einkommen der Wehrwille zunimmt. Allerdings sinkt er wieder ab einem Einkommen von 4.500 Euro. Warum ist das so?
Spitzenverdiener haben im Kriegsfall auch mehr zu verlieren, damit sinkt die Bereitschaft, sich in Gefahr zu begeben. Außerdem hat diese Gruppe eher die Perspektive, ihren Lebensmittelpunkt ins Ausland zu verlagern. Das hat man auch in der Ukraine gesehen. Wir haben auch festgestellt, dass der Wehrwille in Gesellschaften mit geringerer Ungleichheit stärker ist, das passt zum skandinavischen Befund.
Die Ungleichheit ist auch in Österreich ziemlich niedrig. Demnach wäre der Wehrwille noch geringer, würde die Ungleichheit steigen?
Genau, das wäre die Erwartung aus der Forschung. Wir sprechen hier von vielen Einflussfaktoren. Auch das Geschlecht und Alter spielen bei den Befragten eine Rolle: Ältere Menschen und Frauen sind weniger bereit, in den Kampf zu ziehen.
Die Ältesten haben die geringste Wehrbereitschaft, und das, obwohl es sie gar nicht mehr betrifft.
Das Bild von einer Jugend, die weniger bereit wäre, einen Beitrag zur Verteidigung zu leisten, ist falsch?
Ja, das ist so nicht haltbar. Die Ältesten haben die geringste Wehrbereitschaft, und das, obwohl es sie gar nicht mehr betrifft. Wer über sechzig ist, wird nicht eingezogen und könnte in einer Umfrage entspannt sagen, er wäre bereit zur Landesverteidigung. Das zeigt einfach, dass da eine Generation aufgewachsen ist, in der es vollkommen klar war, dass Österreich keine Kriege mehr führt. Die Jüngsten haben dagegen die geringsten Ablehnungsraten.
Welche Rolle spielt die Neutralität für die hiesige Debatte? Immerhin haben neutrale Staaten wie die Schweiz oder Schweden und Finnland vor dem NATO-Beitritt eine sehr hohe Wehrbereitschaft.
Das beginnt schon mit der öffentlichen Debatte, die in diesen Ländern ganz anders als in Österreich abläuft: Die Finnen sahen sich seit dem EU-Beitritt 1995 gar nicht mehr als neutral, sondern lediglich als bündnisfrei. Der Artikel 42 des EU-Vertrags sieht gegenseitige Unterstützung im Angriffsfall vor. In Österreich hat man still und leise das Neutralitätsgesetz dahingehend angepasst. Die irische Klausel im EU-Vertrag gibt neutralen Ländern Interpretationsspielraum, wie diese Unterstützung aussieht, also ob man Waffen oder gar Truppen schickt oder andere Formen der Unterstützung bietet. Österreich kann also auch in Vereinbarung mit der Neutralität EU-Territorium aktiv verteidigen. Aber das wird totgeschwiegen.
Um so viel stärker ist die Schweizer Armee
Somit wissen unsere EU-Partner auch nicht, inwiefern sie mit Österreich im Ernstfall rechnen können.
Auch das, aber es hemmt vor allem unsere strategische Planung. Wir müssen uns zuerst überlegen, wofür wir unser Heer brauchen, und dann müssen wir überlegen, was dazu nötig ist. Nicht nur welche Waffensysteme, sondern vor allem, wie viele Leute wir wie lange und wie oft trainieren müssen. Da geht es nicht nur um den Dienst an der Waffe, sondern auch um Zivil- und Katastrophenschutz, Vorkehrungen für einen Blackout oder Cyberangriffe et cetera.
Es war ein Luxus, dass wir uns leisten konnten, nicht über Außen- und Sicherheitspolitik nachzudenken.
Warum fehlt die Debatte bei uns?
Es war ein Luxus, dass wir uns leisten konnten, nicht über Außen- und Sicherheitspolitik nachzudenken. Leider ist die Möglichkeit eines Krieges wieder da. Wenn wir uns rüsten, verringern wir das Risiko.
Über Franz Eder
Der Politikwissenschaftler ist Dekan der Fakultät für Soziale und Politische Wissenschaften an der Universität Innsbruck sowie Direktor des Foreign Policy Labs. Zu seinen Schwerpunkten gehört u. a. Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Mit dem Austrian Foreign Policy Panel Project (AFP3) untersucht Eder mit Kollegen regelmäßig die Einstellung der Europäer zu außenpolitischen Fragen.
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