Braucht Europa eigene Atomwaffen?

Die Bedrohung durch Russland wirft nach Jahrzehnten wieder die Frage auf, ob Europa eigene Atomwaffen zum Schutz aller Mitglieder bauen sollen. Doch so ein Projekt ist nicht umsonst bereits in der Vergangenheit gescheitert.

Illustration der ikonischen US-Soldaten, die eine Flagge auf der Pazifikinsel Iwo Jima aufstellen, nur ist es statt der US-Fahne ein Schirm mit Atomsymbolen und im Hintergrund sind Wahrzeichen aus Europa wie der Eiffelturm zu sehen. Das Bild illustriert einen Beitrag darüber, ob Europa eigene Atomwaffen braucht.
Wie verlässlich ist der nukleare Schutzschirm der USA? © Jens Bonnke
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Auf den Punkt gebracht

  • Versicherung. Angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine, denkt man in Europa wieder über eigene Atomwaffen nach.
  • Autonomie. Dahinter steckt der Gedanke, dass die USA mit ihren Atomwaffen vielleicht keine glaubhafte Abschreckung darstellen.
  • Alter Hut. Solche Erwägungen gab es bereits im Kalten Krieg, scheiterten jedoch am Widerstand Washingtons, Moskaus und innereuropäischer Uneinigkeit.
  • Alternativen. In der Praxis gibt es zu viele offene Fragen für eine „EU-Bombe“, konventionelle Abschreckung wäre realistischer.

Lange hat Europa die Rolle von Atomwaffen für seine Sicherheit ignoriert. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine ist deren Bedeutung aber wieder unumstritten. Russland droht mit seinem massiven Atomwaffenarsenal, das tausende Sprengköpfe umfasst und selbst fernab der Frontlinie Angst verbreitet.

Auch wenn keine Atomraketen abgefeuert werden, setzen Russland und die USA Atomwaffen ein, um ihre Ziele zu erreichen: Präsident Putin variiert die Intensität seiner Drohungen, um die militärische Unterstützung des Westens für die Ukraine zu hemmen. Zugleich hat die erweiterte nukleare Abschreckung der USA dazu beigetragen, russische Truppen aus dem Gebiet der NATO fernzuhalten. Zwar ist das strategische Nukleararsenal der Vereinigten Staaten – bestehend aus Raketen, Bombern und U-Booten – weit weg vom Kontinent stationiert. Doch die USA unterhalten auch eine kleine taktische Nuklearmacht auf Stützpunkten in Europa. Taktische Atomwaffen sind für den Einsatz auf dem Schlachtfeld gedacht.

Kann man überhaupt noch davon ausgehen, dass die Vereinigten Staaten in einen Atomkrieg eintreten würden, um Europa zu schützen? Vor allem der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Verlässlichkeit der erweiterten Abschreckung durch die USA implizit in Frage gestellt: Er behauptete, dass nur jene Länder, die über eigene Atomwaffen verfügen – Großbritannien und Frankreich – bei ihrer Unterstützung für die Ukraine voranpreschen könnten. Folgt man dieser Sichtweise, müssten Länder wie Deutschland, die auf den Schutz der USA angewiesen sind, Moskau gegenüber vorsichtiger auftreten.

Angst vor Abhängigkeit von den USA

Die mögliche Wiederwahl von Donald Trump verstärkt solche Ängste. Doch die europäische Vertrauenskrise in Bezug auf die USA ist nicht neu. Schon seit den Anfängen des Kalten Krieges, als die USA versprachen, Westeuropa vor der sowjetischen Vorherrschaft zu schützen, schwanken die Europäer zwischen der Angst, von einem unzuverlässigen Beschützer im Stich gelassen zu werden, und der Sorge, als Partner der USA in eine gefährliche Lage zu geraten.

Die nukleare Abschreckung der USA hat dazu beigetragen, russische Truppen aus dem Gebiet der NATO fernzuhalten.

In den späten 1950er-Jahren versuchte Westeuropa erstmals, unabhängig von den USA nukleare Ressourcen aufzubauen. Die Franzosen bemühten sich mit vagen Versprechungen, die Deutschen und Italiener zur Mitfinanzierung ihrer Aktivitäten zu bewegen. Diese Initiative war jedoch nur von kurzer Dauer, da Präsident Charles de Gaulle sie ablehnte und stattdessen auf einer unabhängigen französischen Atomstreitmacht bestand.

Anfang der 1960er-Jahre kam in der NATO die Idee einer multilateralen Streitmacht auf, die mit Personal aus allen Bündnismitgliedern besetzt sein sollte. Damit ließe sich das Problem einseitiger nationaler Kontrolle lösen, hoffte man. Die Initiative zielte darauf ab, eine gemeinsame nukleare Abschreckung zu schaffen, bei der die Europäer den Finger auf dem Knopf gehabt hätten. Das Projekt stand jedoch vor erheblichen politischen und technischen Herausforderungen: Sowohl die USA als auch die Sowjetunion wollten verhindern, dass weitere Länder zu Atommächten werden, insbesondere galt das für China und Westdeutschland. Diplomatische Bemühungen führten schließlich zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV). Dieser Pakt beendete die Idee einer multilateralen Streitkraft der Europäer.

Gefühlte Mitsprache

Ein weiterer Schritt war die Einrichtung der Nuklearen Planungsgruppe der NATO im Jahr 1966. Sie bot den Europäern einen formellen Mechanismus, beim Einsatz von Atomwaffen mitzuentscheiden. Doch sonderlich groß waren die Kompetenzen der Europäer nicht, wie der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Strauß bemerkte: „Da lässt man den kleinen Kasperl mit der Kindertrompete neben der Militärmusik herlaufen und ihn glauben, er sei der Tambourmajor.“

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Zahlen & Fakten

Später kam es zu Bemühungen, das Aufrüsten zu beenden. Im Jahr 1987 wurde etwa der INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty) abgeschlossen, der die nuklearen Kurz- und Mittelstreckenraketen komplett verbannte. Dieses Abkommen lief jedoch 2018 aus. Anfang der 1990er-Jahre wurden die taktischen US-Nuklearwaffen in Europa drastisch auf ihre bis heute geringe Anzahl reduziert. 

Sollte eine künftige US-Regierung beschließen, ihren nuklearen Schutzschirm zu schließen, würden diese Waffen wahrscheinlich von Stützpunkten in den Niederlanden, Belgien, Deutschland, Italien und der Türkei abgezogen, wodurch Europa russischen Drohungen noch stärker ausgesetzt wäre.

Die Grenzen der Nuklearmacht

Ohne den nuklearen Schutzschirm der USA blieben Europa hauptsächlich die Atomarsenale von Großbritannien und Frankreich. Deren Bestand ist jedoch wesentlich kleiner und weniger leistungsfähig als jener der USA. Großbritannien unterhält eine Flotte von U-Booten der Vanguard-Klasse, die mit ballistischen Trident-II-Raketen bewaffnet sind. Diese U-Boote können für eine permanente Abschreckung auf See sorgen, sind jedoch auf Technologie und Unterstützung der USA angewiesen.

Frankreich hat eine ähnliche, aber etwas autonomere Nuklearstreitmacht, die luft- und seegestützte Komponenten umfasst. Das französische Arsenal reicht von Rafale-Kampfflugzeugen, die mit luftgestützten Atomraketen ausgerüstet sind, bis zu einer Flotte von Atom-U-Booten. Wie die Briten verfügen auch die Franzosen jedoch nur über begrenzte Fähigkeiten; absolute Sicherheit vor einem Erstschlag bieten die Kapazitäten nicht, weil Russland über ein viel größeres und diversifizierteres Arsenal verfügt.

Ohne den Schutzschirm der USA müsste Europa den Aufbau einer eigenen nuklearen Abschreckung ins Auge fassen. Diese Bemühungen wären mit erheblichen Herausforderungen verbunden. Wie erwähnt könnten Großbritannien und Frankreich zu einer kurzfristigen, unbefriedigenden Lösung beitragen, doch der Aufbau einer echten europäischen Nuklearstreitmacht würde erhebliche finanzielle Investitionen und ein noch nie dagewesenes Ausmaß an Zusammenarbeit erfordern.

Kann Europa eigene Atomwaffen einsetzen?

Die Probleme beginnen schon damit, dass die meisten europäischen Länder im Rahmen ihrer Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag unter internationaler Überwachung stehen, was ihre Möglichkeiten zur Entwicklung von Atomwaffen einschränkt. Großbritannien und Frankreich könnten Technologien gemeinsam nutzen, insgesamt herrscht in Europa aber ein eklatanter Mangel an technischem Fachwissen. Die deutsche Nuklearkompetenz schwindet seit der Schließung der letzten Kernkraftwerke noch schneller.

Ohne technologische und materielle Unterstützung von außen würde es wahrscheinlich weit über ein Jahrzehnt dauern, bis das Land über einen nuklearen Sprengkopf verfügen würde. Potenzielle europäische Atomwaffen erfordern spaltbares Material, das aus französischen Beständen oder europäischen Anreicherungsanlagen in den Niederlanden stammen könnte. Als Trägersysteme kämen unter anderem nuklearfähige Flugzeuge in Frage, die derzeit in NATO-Ländern stationiert sind. Doch müssten sie auch in der Lage sein, die hoch entwickelte russische Luftabwehr zu durchdringen. Mittelstreckenraketen könnten deshalb eine praktikablere Lösung darstellen.

Die Führungsstruktur einer europäischen Nuklearstreitmacht müsste sorgfältig überlegt werden. Wie Kontroversen im Kalten Krieg über die Multilaterale Truppe, die deutsch-französisch-italienische Initiative und die Nukleare Planungsgruppe gezeigt haben, wären die Entscheidungsbefugnisse komplex und umstritten. Beschlüsse würden wahrscheinlich die Zustimmung des Europäischen Parlaments oder einer Exekutivbehörde erfordern, wenn es sich um ein EU-Projekt handelt.

Investitionen in konventionelle Streitkräfte hätten mehr praktischen Nutzen als der Aufbau europäischer Atomwaffen.

Alternativ könnte auch die NATO oder eine Koalition der teilnehmenden Länder das Programm überwachen. Es wäre jedoch schwierig, einen Entscheidungsapparat zu schaffen, der gleichzeitig schnell handlungsfähig, für potenzielle Gegner glaubwürdig und demokratisch legitimiert wäre. 

Russland würde sich wahrscheinlich jeder europäischen Nuklearinitiative widersetzen und versuchen, sie zu sabotieren – ähnlich wie Israel das iranische Atomprogramm mit Attentaten und Bombendrohungen störte. 

Konventionelle Abschreckung gegen Russland

Ohne den Schutz der USA könnte Europa Schwierigkeiten haben, sich in dieser verwundbaren Lage zurechtzufinden. Der Aufbau einer europäischen Atomstreitmacht würde wohl auch dem Nichtverbreitungsvertrag schaden und zu einem massenhaften Ausstieg von Ländern führen beziehungsweise andere Staaten dazu veranlassen, eigene Arsenale zu entwickeln. 

Mehr praktischen Nutzen als der Aufbau europäischer Atomwaffen hätten deshalb Investitionen in konventionelle Streitkräfte. Verbessert sich Europa in diesem Bereich, würde das russische Aggressionen abschrecken und zugleich die Wahrscheinlichkeit verringern, dass die USA ihren nuklearen Schutzschirm zurückziehen. Auf diese Art ließe sich die europäische Sicherheit stärken, ohne die Risiken und Kosten eines eigenen Atomwaffenarsenals auf sich zu nehmen.

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Conclusio

Schutz. Die USA boten im Kalten Krieg mit ihren Atomwaffen eine Abschreckung gegen eine zahlenmäßig überlegene Rote Armee. Ob Washington im Ernstfall für seine Verbündeten einen Atomkrieg riskiert hätte, war stets umstritten. 
Autonomie. Bisher scheiterten alle Bemühungen, eine von den europäischen NATO-Partnern kontrollierte Atomstreitkraft zu etablieren. Nationale Uneinigkeit sowie Widerstand aus den USA und Russland sind bis heute große Hürden.
Alternativen. Sollten die USA ihre atomare Schutzgarantie aufgeben, hätte Europa kaum Zeit, eine Alternative aufzustellen. Höhere Investitionen in konventionelle Verteidigung würden mehr Schutz bieten als ein chaotisches Atomprogramm.

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