Von Inflation zu höheren Steuern
In den USA und Europa steigt die Inflation. Obwohl beide Regionen unterschiedlich in die Zukunft blicken, scheinen Steuererhöhungen auf beiden Seiten des Atlantiks unvermeidbar.
Auf den Punkt gebracht
- Tendenz nach oben. In den USA und Europa hat die Inflation die Zwei-Prozent-Marke überschritten. Notenbanker sehen keinen Grund zur Beunruhigung.
- Optimismus. In den USA ist man überzeugt, dass die Inflation sinkt, wenn die Produktion nachzieht. Doch Unternehmen zögern bei der Produktion.
- Größere Geduld. Die Eurozone entwickelt sich ähnlich, aber die Inflation wird auf dieser Seite des Atlantiks längerfristig in Kauf genommen.
- Entmutigende Lösung. Die USA und Europa haben nicht die gleichen Probleme, aber den gleichen Lösungsansatz: höhere Steuern.
Nach einem Jahrzehnt munteren Gelddruckens haben die westlichen Notenbanker endlich ihr Ziel erreicht: Die Inflation hat in Europa und den Vereinigten Staaten die Zwei-Prozent-Marke überschritten. Die Preise steigen sogar schneller als erwartet. Die jüngsten Eurostat-Daten zeigen, dass die jährliche Inflation in der Eurozone bei etwa drei Prozent liegt (gegenüber 2,2 Prozent im Juli). In den USA liegt die jährliche Inflationsrate deutlich über fünf Prozent und die Verbraucher erwarten, dass sie in den nächsten zwölf Monaten weiter steigen wird.
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Aber die politischen Entscheidungsträger auf beiden Seiten des Atlantiks tun so, als sei alles unter Kontrolle und als seien die Inflationsschübe nur ein Strohfeuer. Die europäischen Behörden machen dafür den (angeblich vorübergehenden) Anstieg der Energiepreise verantwortlich, während die Amerikaner häufig auf die (ebenfalls kurzlebigen) Engpässe in den Versorgungsketten und auf dem Arbeitsmarkt verweisen.
Jedoch haben weder die Europäische Zentralbank (EZB) noch die Federal Reserve (Fed) klare Hinweise auf ihre nächsten Schritte gegeben. EZB-Präsidentin Christine Lagarde scheint aber mehr daran interessiert zu sein, den digitalen Euro einzuführen und die derzeitige Geldmenge zu nutzen, um den Bankensektor zu stützen und die öffentliche Verschuldung zu bekämpfen. Der Fed-Vorsitzende Jerome Powell kündigt immer wieder an, die Anleihekäufe, die sogenannte Quantitative Lockerung, zurückzufahren. Er bestätigt aber auch, dass die Zinssätze noch sehr lange niedrig bleiben werden.
Zahlen & Fakten
Die entspannte Reaktion der Notenbanker auf die steigende Inflation hat wichtige Konsequenzen, die zu einer Reihe von unterschiedlichen Ergebnissen führen könnten.
Geldschwemme
In den USA ist der Inflationsdruck früher entstanden und stärker ausgeprägt. Hinsichtlich der Inflation kann sich US-Notenbankchef Powell auf die Erwartungen der Amerikaner stützen. Die Amerikaner wissen zwar, dass die Inflation hoch ist und zunehmen könnte, aber sie glauben auch, dass sie bald wieder auf etwa zwei Prozent zurückgehen wird.
Das erklärt, warum die Anleger weiterhin große Mengen an Staatsanleihen kaufen (ein Ersatz für Bankeinlagen), warum der Immobilienmarkt boomt (billige Hypotheken) und warum die Wall Street nach wie vor gesund ist: Viele Menschen sind weiterhin bereit, Aktien zu kaufen. Diese Umstände zeugen von der optimistischen Grundhaltung, dass sich die Wirtschaft weiter erholen wird. Die große Frage ist, ob dieser Optimismus auf einem soliden Fundament ruht.
Die politischen Entscheidungsträger auf beiden Seiten des Atlantiks tun so, als seien die Inflationsschübe nur ein Strohfeuer.
Die Antwort auf diese Frage ist gemischt. Die gute Nachricht ist, dass sich die US-Wirtschaft sehr schnell von der Covid-19-Krise erholt hat. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert jetzt ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von sieben Prozent im Jahr 2021 und von fast fünf Prozent im Jahr 2022. Die Menschen schwimmen im Geld und fühlen sich durch den Anstieg der Aktienkurse reicher – der New Yorker Leitindex Dow Jones Industrial Average ist in den letzten drei Jahren um 32 Prozent gestiegen.
Ein Teil dieses vermeintlichen Reichtums fließt in den Immobilienmarkt, ein anderer in die Wall Street, und der rasche Aufschwung ermutigt große Teile der Bevölkerung, ihre Ausgaben für Konsumgüter und Dienstleistungen zu erhöhen. Im Gegenzug hat der Nachfrageschub die Hersteller dazu veranlasst, ihre Produktion auszuweiten, indem sie freie Kapazitäten nutzen und neue Investitionsprojekte in Angriff nehmen. Die Investitionen sind nominal um 15 Prozent gestiegen. Bei den Neuinvestitionen werden häufig modernste Technologien eingesetzt, sodass erhebliche Produktivitätssteigerungen unmittelbar bevorstehen könnten.
Die unvermeidbare Inflation
Man könnte sich also beruhigt fühlen. Inflation ist unvermeidlich, wenn die Nachfrage durch ausreichende Liquidität angeregt wird und die Produktion die Konsumbedürfnisse nicht schnell genug decken kann. Nach vorherrschender Ansicht verschwindet die Inflation, sobald die Produktion den Rückstand wieder aufholt.
Jedoch gibt es auch Gründe, die dagegen sprechen:
- Was geschieht, wenn die Aktien nicht mehr steigen und die Menschen erkennen, dass die höheren Aktienkurse die Verluste nicht mehr ausgleichen?
- Was ist, wenn die Inflation nicht schnell genug eingedämmt wird und die amerikanische Öffentlichkeit ihre Erwartungen hinsichtlich künftiger Preissteigerungen ändert?
- Was ist, wenn die geopolitischen Spannungen zu globaler Unsicherheit führen, die Investitionen stocken und die Wachstumsraten unter die Erwartungen fallen?
- Was ist, wenn die Reallöhne zu steigen beginnen? Die Durchschnittslöhne in den USA sind langsamer gestiegen als die Inflation, sodass die Löhne im vergangenen Jahr effektiv um zwei Prozent gesunken sind.
Die Antworten auf diese Fragen werden sich wahrscheinlich nicht positiv auf die Inflationsaussichten auswirken. Das Gesamtbild für die kommenden Monate wird höchstwahrscheinlich von einem geringeren Wachstum bei relativ hoher, stabiler Inflation geprägt sein. Ein BIP-Abschwung ist bereits spürbar: Einige machen die neuen Covid-Varianten dafür verantwortlich, andere verweisen auf die Knappheit an Computerchips und den Mangel an billigen, motivierten Arbeitskräften.
In all diesen Erklärungen steckt ein Körnchen Wahrheit. Die wichtigste Erkenntnis ist jedoch, dass die Produzenten zögern, ehrgeizige und langfristige Projekte in Angriff zu nehmen. Der Grund dafür ist, dass die hoch verschuldeten Unternehmen von einer Ausweitung der Produktion absehen, solange sie nicht sicher sind, dass die Zinssätze stabil bleiben.
Beschwichtigen der Wall Street
In diesem Zusammenhang zeichnen sich zwei Szenarien ab. Will die Fed die Inflation bekämpfen, so wird sie das Gelddrucken einstellen und deutlich höhere Zinsen akzeptieren. Sie würde in diesem Falle von einer Verlangsamung ihrer Käufe von Staatsanleihen (bekannt als „Tapering“) zu einem völligen Einfrieren übergehen. Das würde viele verschuldete Unternehmen und Verbraucher treffen. Außerdem würde es für die Regierung schwieriger – und damit teurer – werden, Staatsanleihen zu verkaufen. Das Ergebnis wäre eine Quasi-Stagnation, gefolgt von steigender Arbeitslosigkeit und anhaltender Inflation. Diese Bestie zu zähmen würde Zeit beanspruchen, vor allem nach zehn Jahren des Gelddruckens. Die Situation wäre für die Regierung Biden, deren Politik von umfangreichen öffentlichen Ausgaben abhängt, nur schwer zu verkraften.
Zahlen & Fakten
Das zweite Szenario würde beinhalten, dass die Fed das Problem aussitzt und auf das Beste hofft. Wie die jüngste Debatte über die mögliche Wiederernennung von Präsident Powell zeigt, ist das der wahrscheinlichere Weg. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Fraktionen im Senat besteht in der Frage, ob die Fed die Geldmenge im Jahr 2022 nur moderat erhöhen oder alles tun sollte, was nötig ist, um die Wirtschaft in Schwung zu halten. Niedrige Zinssätze bleiben eine Priorität, um die Wall Street glücklich zu machen. Die Beamten werden dann die Covid-Varianten für das langsame Wachstum und die Inflation verantwortlich machen und den Amerikanern sagen, dass ein Zusammenbruch des Aktienmarktes viel schlimmer wäre als ein paar Prozentpunkte „vorübergehender“ Inflation.
Zukunft mit hohen Steuern
Europa bewegt sich in eine ähnliche Richtung. Im Gegensatz zur vorherrschenden Stimmung in den USA sehen die Europäer die steigende Inflation aber als längerfristiges Phänomen, nicht als große Bedrohung. Sie sind besorgt über die Haushaltsdisziplin, die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung in einigen wichtigen Ländern und die Zukunft des Wohlfahrtsstaates im Allgemeinen.
Im Gegensatz zur USA wird die EZB fröhlich neue Euros drucken und so viel Staatsanleihen kaufen, wie nötig sind.
In den letzten Jahren kam die Antwort von der EZB, die riesige Mengen an Staatsanleihen aufkaufte, entweder direkt oder durch das Angebot von Garantien und Privilegien für Banken, die bereit waren, Staatsanleihen zu übertragen. Ja, die Inflation wird kommen, aber die europäischen Behörden haben ihre Antwort parat: Höhere Steuern und bescheidenere staatliche Renten werden die Staatshaushalte ausgleichen, während die Inflation die Staatsverschuldung abbauen wird.
Im Gegensatz zu den USA ist die Strategie klar: Die EZB wird fröhlich neue Euros drucken und so viele Staatsanleihen kaufen, wie nötig sind, um die Volkswirtschaften über Wasser zu halten. Der Rest spielt eine untergeordnete Rolle und wird eine Frage der Steuerpolitik sein. Der Kurs steht somit auf höhere Steuern.
Der Westen hat mehr als ein Jahrzehnt lang die Illusion eines Freifahrtscheins genossen, doch die Inflation ist dabei, die verschiedenen Missstände aufzudecken, die die politischen Entscheidungsträger bisher unter den Teppich gekehrt haben. Natürlich ist eine niedrige oder sogar moderate Inflation kein unüberwindbares Problem. Sie kann jedoch dramatische Folgen haben, wenn sie in einem Kontext verzerrter Finanzmärkte auftritt, in dem die Zentralbanken verpflichtet sind, die nominalen Zinssätze nahe bei Null zu halten – vor allem, wenn sie diese durch die Einführung ihrer eigenen digitalen Währungen möglicherweise noch weiter nach unten drücken.
Conclusio
Nach Jahren der lockeren Geldpolitik ist in den USA und Europa die Inflation auf deutlich über zwei Prozent gestiegen. Somit steigen die Preise schneller als erwartet. Sicherlich stehen die USA und Europa nicht vor den gleichen Problemen. Sie haben ein unterschiedliches Maß an Toleranz und Erwartungen in Bezug auf Wirtschaftswachstum, öffentliche Ausgaben und Arbeitslosigkeit. Sie haben auch unterschiedliche Sündenböcke und Ziele für die derzeitigen Probleme gewählt. Dennoch gibt es für diese Volkswirtschaften, wenn sie einen gesunden, aber schmerzhaften Absturz vermeiden wollen, nur eine einzige, entmutigende Option: höhere Steuern, um die staatlichen Defizite einzudämmen und die private Nachfrage zu drosseln.