Losen statt Wählen

Im antiken Athen hielt man nichts vom Wählen: nur Losen galt als wahrhaft demokratisch. Mit komplexen Maschinen wurde die enorme Zahl an Losentscheiden abgewickelt. Wie das funktionierte, erklärt Althistorikerin Kaja Harter-Uibopuu im Video.

Blick auf die Akropolis vom Pnyx-Hügel, Gemälde von Rudolf Müller (1863)
Blick auf die Akropolis vom Pnyx-Hügel, Gemälde von Rudolf Müller (1863). Ab 507 v. Chr. versammelten sich die Athener auf dem Hügel, um ihre Volksversammlungen abzuhalten, was den Pnyx zu einem der frühesten und wichtigsten Orte für die Entstehung der Demokratie macht. © Getty Images

Aristoteles hielte unseren Staat wohl kaum für demokratisch. Dafür wählen wir zu viel. Im Athen der Antike und in den italienischen Stadtrepubliken wurden viele Ämter gelost, das Wahlverfahren galt als oligarchisch, weil es etablierte Familien begünstigte. Jean-Jacques Rousseau prägte für die repräsentative Demokratie den Begriff „Wahlaristokratie“. Heute findet sich das Losverfahren nur noch bei der Wahl von Geschworenen. Dabei könnte es gewählte Parlamente um geloste Kammern ergänzen oder eine Alternative zu Plebisziten darstellen: 1.000 aus allen Wählern geloste, umfassend informierte Bürger wären nicht weniger demokratisch legitimiert als Teilnehmer an einer Volksabstimmung. Und würden wohl kaum eine sachlich „schlechtere“ Entscheidung treffen.

In Athen wurde die enorme Zahl an Losentscheiden mit komplexen Maschinen abgewickelt.
Die Althistorikerin Prof. Dr. Kaja Harter-Uibopuu hat mit ihrem Team an der Universität Hamburg ein solches Kleroterion für die Auswahl von Richtern nachgebaut.

Die Althistorikerin Kaja Harter-Uibopuu hat mit ihrem Team an der Universität Hamburg ein Kleroterion für die Auswahl von Richtern nachgebaut – und erklärt hier, wie es funktioniert.

„Gewählte Vertreter und Amtsträger galten als anfällig für Korruption, und die wollte man unbedingt vermeiden. Außerdem hätten die Reichsten bessere Chancen als Ärmere. Die attische Demokratie wollte hingegen die ganze wahlberechtigte Bevölkerung möglichst repräsentativ abbilden. Und dafür war das Los das Mittel der Wahl.“

So erklärt Kaja Harter-Uibopuu die Motive für das Losverfahren. Die Spezialistin für antike Rechtsgeschichte hat mit ihren Studenten eine Losmaschine für die Wahl von Richtern nachgebaut. „In Aristoteles’ Athenaion politeia (‚Der Staat der Athener‘; Anm.) finden sich eine exakte Beschreibung des Kleroterion und eine detaillierte Anleitung des Verfahrens, so konnten wir das nachbilden“, berichtet sie.

Fast alle Ämter wurden damals gelost, mit Ausnahme der militärisch-strategischen Führung und der Verwaltung der Finanzen, wo man die Notwendigkeit hoher fachlicher Expertise sah. Frauen, Fremde und Sklaven waren bekanntlich vom Wahlrecht ausgeschlossen.

Weiße Kugel ja, schwarze nein

Am Morgen jedes Prozesstages versammelten sich die Richterkandidaten beim Gerichtsgebäude am Eingang ihres Verwaltungsbezirks, der Phyle. Jeder trug ein Täfelchen, auf dem sein Name sowie der Buchstabe einer Gruppe stand. Jeder Kandidat warf sein Täfelchen in eine von zehn Kisten – eine für jede Gruppe.

1.000 aus allen Wählern geloste, umfassend informierte Bürger wären nicht weniger demokratisch legitimiert als Teilnehmer an einer Volksabstimmung.

Das Kleroterion ist ein Marmorblock mit Reihen von Schlitzen in fünf Spalten. An der Seite des Blocks war eine Röhre eingelassen, mit einem Trichter am oberen Ende. Fünf zuvor ausgeloste Personen steckten die Täfelchen aus jeweils einer Kiste in zufälliger Reihenfolge in die der entsprechenden Gruppe zugeordnete Spalte des Kleroterions. Für jede Phyle brauchte man also zwei Kleroteria, insgesamt zwanzig für das Gerichtsgebäude.

War das Gerät mit allen Täfelchen bestückt, warf man eine entsprechende Menge schwarzer und weißer Kugeln in den Trichter. Dann wurde nacheinander für jede Reihe ausgelost, ob die Kandidaten in dieser Reihe das Richteramt antreten durften: weiße Kugel ja, schwarze Kugel nein. An jedem Prozesstag wurden 2.001 Richter gelost, wofür zehn Eingänge genutzt wurden, in ein- bis eineinhalb Stunden war die Auswahl abgewickelt. Jede Verhandlung musste innerhalb eines Tages abgeschlossen sein.

Das Klassensprecher-Dilemma

Anfangs hätten ihre Studenten Einwände gegen die attische Demokratie vorgebracht, erzählt Harter-Uibopuu. Dass Frauen nicht wählen durften, komme jedes Mal als Erstes. Wenn man die jungen Leute anhalte, das Verfahren von den historischen Umständen zu trennen, verstünden sie aber schnell den Sinn des Losverfahrens: „Zu Klassensprechern werden ja auch stets die Beliebtesten gewählt, und das sind nicht immer die Geeignetsten.“

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