Der Wähler, ein gefährliches Wesen
Was die Leute heute wollen, das wollen sie morgen oft nicht mehr. Volksabstimmungen sind wegen solcher Stimmungsschwankungen kein Patentrezept für mehr demokratische Teilhabe, meint der Politikwissenschaftler Herfried Münkler.
Demokratie ist die beste Staatsform, die es gibt: Darauf können sich zumindest in Europa fast alle Menschen einigen. Dennoch wächst die Unzufriedenheit mit dem politischen System, die Wahlbeteiligung sinkt, viele Bürger fühlen sich ausgeschlossen. Herfried Münkler ist dafür, die Bürger in die Pflicht zu nehmen – und plädiert für das Losverfahren, um sie in politische Entscheidungen einzubinden.
Der Pragmaticus: Die Demokratie steht nicht nur von innen unter Druck, sondern sie gerät auch global ins Hintertreffen. Ist dieses Modell nicht mehr überzeugend?
Herfried Münkler: Dieser Befund ist eindeutig, alle Indikatoren sprechen dafür. Die Zeit, in der man die Demokratie wie Francis Fukuyama als alternativlos betrachtete, ist vorbei. Das chinesische Modell ist im globalen Süden aus klar benennbaren Gründen attraktiv. Die Voraussetzungen für Demokratie sind nicht leicht zu erfüllen, eine lebendige Zivilgesellschaft etwa und die Bereitschaft, die Macht in einem System von Checks and Balances zu teilen. Das ist für Regime mit einer autoritären Tradition eine schwierige Herausforderung. Und hier machen die Chinesen ein Angebot: Wir haben die höheren Wachstumsraten, und ihr müsst keine Macht abgeben, sondern euch nur danach richten, wie wir das machen.
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Auch bei uns sind immer mehr mit dem System unzufrieden. Warum?
Wohlstand stützt die Demokratie und schafft Zufriedenheit mit dem System. Doch die Fortschrittserzählung ist fragil geworden, vor allem aus Gründen der ökologischen Frage. Die Zeit der materiellen Zuwächse bei uns ist zu Ende und soll es auch sein, weil die Ressourcen, von denen wir leben, nicht reichen, um allen diesen Wohlstand zu ermöglichen. Wir müssen uns verabschieden von der großen Verbindungslinie, die vom Erfahrungsraum zum Erwartungshorizont gezogen war – kurz: dem Begriff Fortschritt. Und das führt zu Missmut.
Noch nie haben so viele Menschen so gut gelebt wie heute. Besteht da nicht eine gewisse Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit?
Wenn man nur den Augenblick betrachtet, ist das völlig richtig. Aber in der Lebensplanung und der davon ausgehenden politischen Orientierung der Menschen spielen Zukunftsaussichten die vermutlich größere Rolle. Wenn’s einem sehr gut geht, ist die Vermutung, es könnte einem bald schlechter gehen, relativ naheliegend.
Alte Politik: Müssen Junge alles ausbaden?
Resultiert die Unzufriedenheit daraus, dass die Bürger die Politik nicht mehr nachvollziehen können?
Die Welt, in der wir leben, ist so komplex geworden, dass wir permanent vor Herausforderungen stehen, die man nur vernünftig bewältigen kann, wenn man vorher den Rat von Experten eingeholt hat – und das sinnvollerweise nach einem Verfahren, das unterschiedliche Auffassungen abbildet. Was man ja sicherstellen kann, indem man zum Beispiel berücksichtigt, dass weibliche Experten oft anders gewichten als männliche Experten, und die Gremien entsprechend zusammenstellt. In der Corona-Frage hätte man vielleicht mehr Kinderpsychologen dabeihaben sollen und nicht nur Virologen.
Dann geht die Macht von den Experten aus anstatt vom Volk?
Die Frage ist natürlich, wo ist der Kipppunkt, und wo stehen wir hier im Verhältnis zur Kommunistischen Partei – ich habe jetzt China vor Augen –, die durchaus Experten hinzuzieht, ihre Politik aber jenseits des Volkes durchzieht. Wo liegt der Unterschied der Demokratie gegenüber einem solchen autoritären, technokratischen Regime? Wo können Bürger hier noch Einfluss nehmen? Wie kann man sie motivieren, dieser Frage nachzugehen und sich in bestimmte wissenschaftliche Kontroversen – sei es die Frage der Klimaerwärmung oder der Pandemie-Bekämpfung oder was auch immer – einzulesen? Die eigentliche Herausforderung ist es, Kompetenzen auszubilden, und das ist nichts Neues. In den Zeiten, in denen Demokratie sehr viel überschaubarere Probleme zu bearbeiten hatte, taten das im Prinzip die Tages- und die Wochenzeitungen.
Demokratie lebt nicht nur vom Output, sondern auch vom Input, sprich: der Engagementbereitschaft der Bürger.
Diese Zeiten sind vorbei.
Ja. Doch aus der Zeitungslektüre resultierte zumindest eine gewisse, vielleicht auch bloß eingebildete Kompetenz, die dann in die gesellschaftliche Debatte eingeflossen ist.
Sie haben sich mit dem Losverfahren viel beschäftigt. Könnte man die Bürger besser einbinden, indem man sie in entsprechende Gremien lost?
Wir beobachten nicht nur einen Rückgang der Wahlbeteiligung, sondern auch einen Rückgang des Engagements in den politischen Parteien, also eine Tendenz zur Zuschauerdemokratie. Das hat verheerende Folgen, denn Demokratie lebt nicht nur vom Output, also von dem, was sie an Ergebnissen hervorbringt, sondern auch vom Input, sprich: von der Engagementbereitschaft der Bürger. Und da im Wahlverfahren nur der gewählt werden kann, der sich der Wahl stellt, und immer weniger bereit sind, sich ehrenamtlich zu engagieren, trocknet die Politik aus. So entstehen in den Ecken die „Rummotzer“, die alles, was passiert, für falsch halten, ohne selbst Verantwortung zu übernehmen. Die kann man mit dem Ernst der Demokratie konfrontieren, wenn es gar nicht erst die Möglichkeit gibt, das Gelostwerden abzulehnen oder zumindest nur unter erschwerten Bedingungen wie in der Geschworenenauswahl.
Die Welt der Antike war überschaubar. Könnten in der Moderne die Anforderungen dafür nicht zu hoch sein?
Gerade die Frage, wie sich die politische Urteilskraft bei den Leuten erhöhen lässt – nicht nur im Hinblick auf Wahlen, sondern auch in Ämtern oder im Parlament –, macht das Losverfahren in meinen Augen so interessant. Wenn man aus einem Stadtviertel von vielleicht 5.000 Einwohnern 50 lost, die bei einer begrenzten Geldsumme entscheiden müssen, ob da jetzt ein Kindergarten oder eine Turnhalle gebaut wird, werden die sich mit dieser Frage auseinandersetzen. Und wenn sie dann ihre Entscheidung getroffen haben, werden sie diese gegenüber dem Rest begründen müssen. So manches Großmaul vom Stammtisch würde dann von der Demut ereilt werden, weil er weiß: Da gibt es dieses Los, und ich muss möglicherweise auch einmal dafür einstehen.
Nun geht es in der Demokratie ja nicht nur um die Qualität von Entscheidungen, sondern auch um deren Kommunikation. Würde eine zweite Kammer aus gelosten Bürgern den gegenseitigen Austausch verbessern?
Ja, da würde ich einen Haken daruntersetzen, allerdings wird das Zeit kosten, und die Bereitschaft der Parteien dürfte auch nicht besonders groß sein. Aber es ließe sich vielleicht durch entsprechende Bewegungen von unten erzwingen und durchsetzen. Das ist ja unser Vorteil gegenüber einem Regime wie der Kommunistischen Partei Chinas. Bei uns, wo die Parteien auch immer um den Zugang zur Macht kämpfen müssen, spielt die Zustimmung der Bevölkerung eine zentrale Rolle.
Darum wird sie von den Regierungen ja auch regelmäßig abgefragt.
Aber die demoskopischen Verfahren beschreiben nur den Prozess von aufsteigenden Meinungen von unten nach oben, es kommt auch darauf an, umgekehrte Prozesse zu organisieren. Demokratie ist ein Verfahren der wechselseitigen Kommunikation. Es gibt Politiker, die das sehr gut können, und andere können es überhaupt nicht. Ich würde das nicht nur von den Qualitäten des Einzelnen abhängig machen, sondern versuchen – da sind wir wieder beim Losverfahren –, Formen zu entwickeln, die die Politiker dazu zwingen, die Gründe ihrer Entscheidungen offenzulegen, sie zu verteidigen.
Ihr Vorschlag wäre also, den Austausch zwischen Politikern und Bürgern zu institutionalisieren?
Ja. Normalerweise wäre das die Aufgabe von politischen Parteien, aber wenn die Leute sich immer weniger in Parteien engagieren, funktioniert das nicht. Jetzt werden die Illners und Wills sagen, genau das machen wir doch in den Talkshows. Das stimmt aber nicht. Die Talkshow ist eine plakative Showinszenierung, mehr ein inszeniertes Spektakel als ein Prozess des seriösen Begründens und gründlichen Nachdenkens.
Talkshows sind ein inszeniertes Spektakel und kein Prozess des gründlichen Nachdenkens.
Die Schweizer Mischung aus Eigenverantwortung und Gemeinsinn trifft man andernorts nicht an. Dann lieber das Losverfahren anstelle von Plebisziten?
Plebiszite sind häufig ein Verfahren der Begründung von Diktaturen. Auch die Nazis haben Volksbefragungen durchgeführt; die dienten aber nicht der Beratschlagung, sondern der Akklamation. Der Wähler ist ein ausgesprochen gefährliches Wesen, weil er häufig das, was er jetzt will, morgen gar nicht mehr will, weil sich vielleicht die Umstände verändert haben. Eine Kultur der Bildung von politischer Urteilskraft im Wege von Plebisziten braucht sehr viel Zeit und eine darin eingeübte Bevölkerung. In Deutschland ist das eher ein Unfug, in dem die Bestimmtheit des Augenblicks den Ausschlag gibt, und ein paar Tage später kann man es schon bereuen. Das spricht gegen die Lösung Plebiszit und eher für die Lösung, die Bürger per Losentscheid in Beratungsgremien zu zwingen, in denen sie nicht einfach aus dem Bauch heraus Entscheidungen treffen können, weil die Stimmung gerade eben so ist.
Ist unsere heutige Demokratie überhaupt noch reformierbar, ohne Pleite oder Krieg?
Ich glaube schon. Die Athener haben das geschafft. Auch die westlichen Demokratien haben solche Veränderungen durchgeführt – ob die immer glücklich waren, ist eine andere Frage. Frankreich hat nach 1945 einige tiefgreifende Verfassungsänderungen durchgeführt. Der Schlüssel ist die Engagementbereitschaft der Bürger und welche Urteilskraft sie besitzen. Darüber muss man ständig nachdenken. Das A und O der Demokratie ist, dass die Leute das Ganze nicht als Spiel ansehen, aus dem man sich beliebig ausklinken kann, sondern realisieren, dass das eine politische Ordnung ist, die relativ aufwendig ist und viel Kraft und Zeit kostet.
Über Herfried Münkler
Herfried Münkler ist Professor emeritus für Theorie der Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Der vielfach ausgezeichnete Autor mehrerer Standardwerke der politischen Wissenschaften publiziert vorwiegend zur politischen Ideengeschichte und zur Theorie des Krieges.