Das Comeback der Mullahs

Der Iran wird auch nach dem Tod von Präsident Ebrahim Raisi nach der Vorherrschaft in der Region greifen. Und wohl bald eine Atommacht sein. Wie konnte es so weit kommen?

Das Bild zeigt Ajatollah Ali Chamenei, der Qasem Soleimani, Kommandeur der Al-Quds- Brigaden, auf die Stirn küsst. Das Bild illustriert einen Artikel über den Iran und das Comeback der Mullahs.
Ajatollah Ali Chamenei ist der geistliche und politische Führer des Iran und Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Hier mit Qasem Soleimani, Kommandeur der Al-Quds- Brigaden, der am 3. Jänner 2020 bei einem US- Luftangriff getötet wurde. © ZUMA Press, Inc. / Alamy Stock Photo
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Auf den Punkt gebracht

  • Legitimationskrise. Massenproteste, Schließung von Moscheen mangels Besucher, niedrige Wahlbeteiligung: Irans Bevölkerung wehrt sich gegen das Regime.
  • Allianzen. Russland und China helfen dem Teheran, auf die geopolitische Bühne zurückzukehren und seinen Einfluss im Nahen Osten weiter zu stärken.
  • Atommacht. Die USA könnten den nuklearen Fortschritt des Teheran stoppen, haben aber nicht den Willen dazu. Israel hat den Willen, aber nicht über die nötigen Mittel.
  • Rücksichtnahme. Der Mangel an Entschlossenheit der USA gibt dem Teheran mehr Spielraum eine Nuklearmacht zu werden, was für die ganze Welt bedrohlich ist.

Seit Jahrzehnten tobt ein Schattenkrieg zwischen Israel und dem Iran. Am 13. April brach der Konflikt offen aus: Das klerikale Regime des Iran feuerte über 300 Drohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen auf israelisches Territorium ab – als Vergeltung dafür, dass Israel Tage zuvor in Syrien hochrangige iranische Generäle ins Visier genommen hatte. Der massive iranische Angriff und Israels begrenzte Reaktion darauf haben ein neues „Gleichgewicht des Schreckens“ im Nahen Osten eingeläutet.

Die Eskalation durch Teheran war umso überraschender, als das Regime mit äußerst widrigen innenpolitischen und internationalen Umständen zu kämpfen hat, die seine Legitimität und seinen Fortbestand ernsthaft in Frage stellen. Eigentlich müssten die Mullahs strategisch auf dem Rückzug sein. Doch die Islamische Republik ist im Nahen Osten wieder auf dem Vormarsch. Daran wird auch der Tod von Präsident Ebrahim Raisi nichts ändern.

Niedergang im eigenen Land

Der Tod der kurdisch-iranischen Aktivistin Mahsa Amini in Gewahrsam des Regimes im September 2022 löste eine Welle des Widerstands aus. Die junge Frau war festgenommen worden, weil sie den Hidschab, das islamische Kopftuch, nicht ordnungsgemäß getragen hatte. Die Proteste erstreckten sich im vergangenen Jahr über das ganze Land. Die Regimegegner schlossen sich zu „Frau, Leben, Freiheit“-Demonstrationen zusammen und hielten die Islamische Republik in Atem.

Demonstranten auf der Solidaritätskundgebung in London anlässlich des ersten Todestags von Mahsa Amini am 16. September 2023.
Solidaritätskundgebung in London anlässlich des ersten Todestags von Mahsa Amini am 16. September 2023. © Getty Images

Die Proteste waren jedoch nur der jüngste Ausdruck einer viel tiefer gehenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Ruinöse Finanzpraktiken, verschwenderische Ausgaben für Prestigeprojekte und eine aggressive Außenpolitik, die zu Sanktionen des Westens geführt hatte, verwandelten die iranische Wirtschaft in einen Scherbenhaufen. Pro Kopf der Bevölkerung sind die Menschen heute um ein Drittel ärmer als im Jahr 1979, während die Inflation steigt und in die Höhe schnellende Lebensmittelpreise die Armut zusätzlich anschieben.

Misstrauensvotum bei Wahlen

Politisch führten die jahrzehntelange Indoktrination durch den Klerus und dessen zügellose Herrschaft dazu, dass die Iraner zunehmend desinteressiert und desillusioniert sind. Das zeigt sich auch an den Wahlurnen: Bei den Parlamentswahlen im März 2024 war die Wahlbeteiligung so niedrig wie nie zuvor. Offiziell lag sie bei 41 Prozent, inoffiziellen Schätzungen zufolge war sie noch deutlich niedriger, was einem entschiedenen Misstrauensvotum gegen die Regierung gleichkommt. Ideologisch haben die Iraner immer weniger Interesse an der islamischen Revolution und der Religion, die sie untermauert. Etwa zwei Drittel der 75.000 Moscheen im Land mussten in den letzten Jahren schließen, weil sie kaum noch von Gläubigen besucht wurden. 

Für das Regime bedeutet das eine beispiellose Legitimationskrise. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage gaben fast drei Viertel der Befragten an, dass sie eine säkulare Herrschaft anstelle der iranischen Theokratie wünschen. Mit anderen Worten: Die Bevölkerung hat der Regierung klargemacht, dass deren Zeit abgelaufen ist. 

Etwa zwei Drittel der 75.000 Moscheen mussten in den letzten Jahren schließen.

Auch außenpolitisch lief es lange nicht nach Wunsch der Machthaber. Im September 2020 normalisierten die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und der Sudan ihre politischen Beziehungen zu Israel im Zuge der „Abraham-Abkommen“, Marokko folgte kurz darauf. Diese Entwicklungen wurden von vielen als der Beginn einer neuen Ära gefeiert. Für den Iran war dieser Prozess aber ein Nachteil. Jahrelang hatte die Islamische Republik darauf gebaut, dass der arabisch-israelische Konflikt und das begrenzte Potenzial regionaler Sicherheitsblöcke ihr freie Hand geben würden, den Lauf der Dinge in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft und darüber hinaus zu gestalten. 

Das iranische Regime reagierte, indem es Chinas Hilfe in Anspruch nahm, um sein Verhältnis zum regionalen Rivalen Saudi-Arabien zu normalisieren. Dieses unerwartete Abkommen vom März 2023 wurde von vielen Beobachtern als Beginn eines erweiterten chinesischen Engagements im Nahen Osten gesehen. Für den Iran war es jedoch eine Möglichkeit, das Abdriften Saudi-Arabiens in die Sphäre der Abraham-Abkommen zu verhindern – oder zumindest zu verzögern. 

Auch der kürzlich gemeinsam mit Raisi bei einem Helikopter-Absturz tödlich verunglückte iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian bemühte sich beharrlich um eine Verbesserung des Ansehens von Teheran unter den bestehenden und potenziellen Mitgliedsstaaten der Abraham-Abkommen. Der Subtext war klar: Jeder kann sich aussuchen, ob er lieber eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel möchte oder weniger Spannungen mit der Islamischen Republik. Dennoch zeigten diese fieberhaften Annäherungsversuche, wie sehr sich der Iran geopolitisch ins Abseits gedrängt fühlte. 

Nukleare Bedrohung

Doch das Land hat noch einen Trumpf im Ärmel. Mehr als zwei Jahrzehnte nach Bekanntwerden erster Details im Herbst 2002 ist das iranische Atomprojekt praktisch ausgereift. In ihrem jüngsten Bericht an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kam die Internationale Atomenergie-Organisation zu dem Schluss, dass der Iran inzwischen über das Know-how verfügt, in einem Monat genug waffenfähiges Uran für sieben Atomwaffen herzustellen, in zwei Monaten für neun und in fünf Monaten für dreizehn Bomben. Die Islamische Republik steht also unmittelbar davor, eine Atommacht zu werden. Mit den fehlgeschlagenen Bemühungen des Westens, das iranische Atomprogramm einzudämmen, gewann die weltweite Debatte über die Notwendigkeit direkter militärischer Gewalt an Schärfe. In diesem Zusammenhang sind jedoch nur zwei Nationen wirklich wichtig: die USA und Israel. 

Iranische Revolutionsgarden im September 2023 bei Teheran vor dem Schrein von Ajatollah Chomeini.
Iranische Revolutionsgarden im September 2023 bei Teheran vor dem Schrein von Ajatollah Chomeini. © Vahid Salemi / AP / picturedesk.com

Die Vereinigten Staaten verfügen über die notwendigen militärischen Fähigkeiten, um die nukleare Bewaffnung der Islamischen Republik zu stoppen. Doch die verschiedenen Regierungen in Washington haben es verabsäumt, entschlossen und notfalls mit Gewalt gegen die iranischen Atomprojekte vorzugehen. Stattdessen suchten die Regierungen von Clinton, Obama und jetzt Biden eine Art der Verständigung mit dem Iran, um dessen nukleare Ambitionen zu bremsen. Die Regierungen Bush II und Trump setzten stattdessen auf eine Politik des Drucks und der Isolierung. Letzten Endes haben sich jedoch alle US-Präsidenten dafür entschieden, das iranische Streben nach Atomwaffen nicht militärisch zu beenden. 

Zwischen Können und Wollen

Israel betrachtet einen nuklear bewaffneten Iran als existenzielle Bedrohung, hat sich aber lange Zeit darauf verlassen, dass die Vereinigten Staaten gegebenenfalls die Führung übernehmen würden. Man setzte nur auf verdeckte Aktionen und asymmetrische Mittel, um die nuklearen Fortschritte des Rivalen taktisch zu verhindern. Erst im Jahr 2022, während der Amtszeit von Premier Naftali Bennett, begann Israel mit einer groß angelegten militärischen Aufrüstung, um im Falle des Falles unabhängig agieren zu können.

Die USA wären zwar in der Lage, dem nuklearen Fortschritt des Iran einen entschlossenen Schlag zu versetzen, doch bisher fehlte ihnen der Wille dazu.

Zusammengefasst lässt sich also sagen: Die USA wären zwar in der Lage, dem nuklearen Fortschritt des Iran einen entschlossenen Schlag zu versetzen, doch bisher fehlte ihnen der Wille dazu. Israel hat den politischen Willen, gegen die Islamische Republik vorzugehen, verfügt aber nicht über die erforderlichen Mittel. Dennoch hat sich zuletzt in Israel die Meinung durchgesetzt, dass ein selbständiges Vorgehen gegen das iranische Atomprogramm unumgänglich ist. Für Teheran könnte das noch zum Problem werden. 

Strategische Allianzen des Mullah-Regimes

Ein wesentlicher Faktor für die Rückkehr des Iran auf die geopolitische Bühne sind die aufkeimenden strategischen Allianzen mit zwei Nationen, die den USA und der westlichen Ordnung im weiteren Sinne feindlich gegenüberstehen: China und Russland.

Die Volksrepublik China hat in den letzten zehn Jahren unter der Führung von Xi Jinping eine zunehmend konfrontative und ehrgeizige Außenpolitik verfolgt. Im Nahen Osten und in Afrika manifestiert sich das vor allem in der „Neuen Seidenstraße“, einem schnell wachsenden, milliardenschweren Netz von Wirtschaftspartnerschaften, das China Einfluss auf eine Reihe von Staaten in der Region verschafft hat. Von diesem Engagement profitiert auch der Iran. Um die Auswirkungen des Drucks durch die Trump-Regierung abzumildern, schlossen die Ajatollahs 2021 ein Rahmenabkommen mit der chinesischen Regierung, das sich über ein Vierteljahrhundert erstreckt und 400 Milliarden Dollar schwer ist. 

Dieses Abkommen verschaffte der Volksrepublik China einen strategischen Vorteil beim Zugang zu iranischen Häfen, beim Ausbau des iranischen Telekommunikationssektors und bei einer Reihe weiterer Infrastruktur- und Verkehrsprojekte. Auch wenn diese Vereinbarung drei Jahre später immer noch kaum in die Praxis umgesetzt ist, verstärkte sie die politische und ideologische Affinität zwischen den beiden Ländern. Zudem wurde damit der Grundstein für eine engere Zusammenarbeit zwischen den russischen und chinesischen Streitkräften gelegt.

Ebenfalls vertieft hat der Iran seine Beziehungen zu Russland. Nach dem Einmarsch in die Ukraine wurden Wladimir Putin und sein Regime vom Westen isoliert. Worauf sich Russland an potenzielle internationale Partner gewandt hat, allen voran an den Iran. Und auf die Mullahs ist Verlass: In den letzten eineinhalb Jahren hat sich die Islamische Republik zu einem wichtigen Lieferanten von Kriegsmaterial – wie zum Beispiel Drohnen – für die russischen Streitkräfte entwickelt und ihre sonstigen wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland vertieft. Außerdem kann sich Moskau von Teheran abschauen, wie man globale Sanktionen am besten umgeht oder zumindest in ihrer Wirkung abschwächt.

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Zahlen & Fakten

Die Achse des Widerstands

Der Teheran hat ein antiwestliches Netzwerk mit zahlreichen Außenstellen und Verbündeten aufgebaut. Ein Überblick über die wichtigsten Verbündeten und militärischen Fähigkeiten des Mullah-Regimes.

Operationsgebiet Naher Osten

Diese Partnerschaften mit China und Russland sind mehr als nur bilaterale Vereinbarungen. Die Achse Moskau–Teheran–Peking ist bestrebt, vom Westen geschlossene Vereinbarungen auf mehreren globalen Schauplätzen zu untergraben. Wichtigstes Operationsgebiet der neuen Allianz ist der Nahe Osten, wo Russland, China und der Iran gemeinsam ihre militärischen Muskeln durch Marineübungen und andere Machtdemonstrationen spielen lassen. Auch die Untätigkeit der gegenwärtigen amerikanischen Außenpolitik hat den Iran gestärkt. Der Amtsantritt von Joe Biden im Jahr 2021 brachte eine dramatische Abkehr vom „maximalen Druck“ der Trump-Ära mit sich. Stattdessen versuchte die neue Regierung, den Iran wieder in das Atomabkommen von 2015 (JCPOA) einzubinden und eine Art diplomatischen Kompromiss zu finden. 

Maximale Rücksichtnahme 

Das Ergebnis bezeichnen einige Kommentatoren als eine Politik der „maximalen Rücksichtnahme“, unterstützt durch eine laxe Handhabung der Sanktionen und wiederholte diplomatische Annäherungsversuche. Zudem versäumten es die Vereinigten Staaten, Teheran für sein regionales Unruhestiften oder die ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Folgen dieser Politik sind aus westlicher Sicht unerfreulich: Die Islamische Republik konnte ihre Staatskasse wieder auffüllen. Das Land steht nun auf einer wirtschaftlich solideren Basis und kann weiter Unruhe stiften. Zugleich hat die militärische Glaubwürdigkeit der USA in der Region massiv gelitten. In ihrem Bemühen, eine Art Modus Vivendi mit den Ajatollahs auszuhandeln, ließ die Regierung Biden eine katastrophale Erosion der amerikanischen Abschreckungspolitik zu. 

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen ist für Teheran ein wahrer Segen.

Selbst wenn die USA gegen Verbündete des Iran wie die Huthi-Rebellen im Jemen und die schiitischen Milizen im Irak vorgingen, signalisierten sie bereits im Vorfeld, dass sie wichtige iranische Interessen nicht antasten würden. Washington gab Teheran klar zu verstehen, dass die USA trotz ihrer enormen strategischen Fähigkeiten derzeit nicht vorhaben, den Aufstieg des Iran in der Region ernsthaft anzufechten. 

Der 7. Oktober

Der zweite Grund für den Aufschwung des Iran hängt mit den Ereignissen des 7. Oktober 2023 zusammen. Die von der Hamas verübten Gräueltaten wurden letztlich von den Mullahs ermöglicht. „Der Iran hat die Hamas jahrzehntelang finanziert, bewaffnet, ausgebildet und mit nachrichtendienstlichen Informationen versorgt“, erklärt Matthew Levitt, Experte für Terrorismusbekämpfung am Washington Institute. Das versetzte die Hamas überhaupt erst in die Lage, Anschläge auf Israel zu verüben. Ohne den Rückhalt im Iran hätte die Hamas weder die Fähigkeit noch die Vorstellungskraft gehabt, diesen verheerenden Anschlag auszuführen. 

Der jetzt im Gazastreifen tobende Krieg zwischen Israel und der Hamas ist für Teheran ein wahrer Segen. Er hat dazu beigetragen, die internationale Aufmerksamkeit von den innenpolitischen Unruhen im Iran abzulenken, und dem Regime einen weitaus größeren Spielraum zur Unterdrückung der Opposition verschafft. Der Normalisierungsprozess zwischen Israel und den Staaten der „Abraham-Abkommen“ sowie anderen potenziellen Partnern wie Saudi-Arabien und Indonesien kam zumindest vorübergehend zum Stillstand. 

Und obwohl israelische Offizielle weiterhin betonen, dass im Umgang mit dem iranischen Atomprogramm „alle Optionen auf dem Tisch liegen“, sorgt der Konflikt in Gaza für reale Beschränkungen der militärischen Möglichkeiten des Landes. Das Fazit ist für die ganze Welt bedrohlich: Der Iran hat jetzt viel mehr Spielraum, um eine Nuklearmacht zu werden.

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Conclusio

Wer immer nach der Wahl im November im Weißen Haus sitzt, wird die Abschreckung gegenüber einem Mullah-Regime wiederherstellen müssen, das mit neuen Ressourcen ausgestattet ist, durch strategische Allianzen mit Moskau und Peking gestärkt wird und erneut versucht, den Nahen Osten zu dominieren. Eine Atommacht Iran würde das strategische Gleichgewicht in der Region grundlegend stören und die wichtigsten westlichen Verbündeten und Interessen dort gefährden. Die USA müssen verhindern, dass es dazu kommt. Und sie werden entscheiden müssen, ob sie bereit sind, die unterdrückte iranische Bevölkerung zu stärken. Ohne entschlossenes Handeln könnte die Region bald von einer radikalen, atomar bewaffneten Theokratie beherrscht werden, die sich selbst als moderner Hegemon des  Nahen Ostens betrachtet. 

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