Keine Arbeit, kein Selbstwert?

Politiker wollen, dass wir mehr arbeiten. Doch KI-Assistenten werden uns viele Jobs – und dazu noch die Freizeitplanung – abnehmen. Was bleibt übrig für ein erfülltes Leben?

Das Bild zeigt Roboter, Maschinen und KI-Assistenten sowie einen Mann und eine Frau, die gelangweilt auf einem Holzboden sitzen, während die Roboter im Hintergrund arbeiten.
Maschinen verändern unser Wissen über das Leben und das Arbeiten. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Wandel. Die Einstellung zur Arbeit hat sich gewandelt: Viele identifizieren sich weniger mit ihrer Arbeit und suchen Selbstverwirklichung zunehmend in der Freizeit.
  • Entlastung. Die Automatisierung – jetzt auch durch KI – nimmt dem Menschen immer mehr Aufgaben ab, was zugleich als Befreiung und als Verlust von Fähigkeiten wahrgenommen wird.
  • Proletarisierung. Die fortschreitende Technologisierung hat viele Menschen von der Arbeit entfremdet, wodurch sie an Sinn und Bedeutung verliert.
  • Herausforderung. Wenn KI zunehmend nicht nur Arbeit, sondern auch Lebensentscheidungen übernimmt, stellt sich die Frage, wie Selbstbestimmung und Sinn erhalten bleiben können.

Der deutsche Kanzler ermahnte die Bevölkerung, wieder mehr zu arbeiten: „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können.“ In Österreich läuft eine ähnliche Debatte.

Was ist da los? Haben selbst die Deutschen die Lust an der Arbeit verloren? Haben sie etwas gefunden, über das sie sich besser definieren können als über schlecht bezahlte McJobs? Ist ihnen das Sein wichtiger als das Haben, um einen Buchtitel von Erich Fromm ins Treffen zu führen? Und welche Rolle spielt die KI dabei?

Lob des Müßiggangs

Was ihre Position zur Arbeit betraf, tickten die frühen Romantiker wie die Gen Z. Man sprach damals noch nicht entschuldigend von der „Work-Life-Balance“, sondern sang ein Loblied auf den Müßiggang, wozu Friedrich Schlegels Experimentalroman Lucinde aus dem Jahr 1799 ein eigenes Kapitel enthält.

Die Idee aber war die gleiche: Der Mensch braucht Zeit für sich, um sich nicht abhandenzukommen, um sich überhaupt erst einmal zu finden. In diesem Sinne beklagte auch Schlegels Freund Novalis in einem seiner Blüthenstaub-Fragmente, dass uns der Kreislauf der täglichen Arbeit „an einer höhern Entwicklung unserer Natur“ hindere. Zugleich entlarvt Novalis in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen den bürgerlichen Fleiß des alten Ofterdingen als Flucht vor sich selbst.

Niemand muss heute mehr in die Arbeit fliehen. Und die meiste Arbeit eignet sich dafür auch gar nicht mehr.

Arbeit war somit nicht nur eine Sache, die der Selbstfindung im Weg stand. Sie erschien auch als Zufluchtsort vor der Zumutung der Selbstfindung, als Rettungsanker vor dem Horror Vacui. Das wiederum ist das Gegenteil zur Position der Gen Z, was gewiss daran liegt, dass die Zerstreuungskultur inzwischen viel weiter entwickelt ist – aber auch daran, dass seit der Romantik so viel auf dem Arbeitsmarkt geschehen ist. Niemand muss heute mehr in die Arbeit fliehen. Und die meiste Arbeit eignet sich dafür auch gar nicht mehr.

Die Proletarisierung der Arbeit

Es gibt viele Gründe, warum sich Menschen heute weniger mit ihrer Arbeit identifizieren. Schon die Hedonismus-Wende der 1960er- und 1970er-Jahre schwächte die Pflichtenethik der Leistungsgesellschaft erheblich. Und seit Ausrufung der „Erlebnisgesellschaft“ in den frühen 1990er-Jahren herrscht die Erwartung, dass man ein interessantes Leben führt – eine Erwartung, die sich in den sozialen Medien mit einer entsprechenden Berichtspflicht paart.

Die Selbstverwirklichung wird nun zunehmend in der Freizeit statt in der Arbeit gesucht. Das hat seinen Grund freilich auch darin, dass sich die Arbeit verändert hat. Immer mehr wurde automatisiert, bis der Mensch seine Tätigkeit nicht mehr als Berufung empfand, sondern als das, was Karl Marx Entfremdung nannte: eine monotone, fremdbestimmte und konkurrenzorientierte Tätigkeit. Der Mensch als Rädchen im Getriebe, anonym und austauschbar.

Der französische Philosoph Bernard Stiegler beschrieb die Moderne als fortschreitende Proletarisierung des Menschen. Er meinte damit weniger die Verelendung des Menschen als dessen Verlust an Wissen, wie man die Dinge tut (savoir-faire) und wie man lebt (savoir-vivre). Denn das ist das Wesen des Proletariers: Die Kenntnisse und Fertigkeiten des Handwerkers werden an die Maschine externalisiert, zu deren Anhängsel der Proletarier degradiert ist.

Im Zuge der Digitalisierung, so Bernard Stiegler 2010 in seinem Buch For a New Critique of Political Economy, durchlaufen wir einen gewaltigen Prozess der kognitiven und affektiven Proletarisierung, der all unsere Aktivitäten bedeutungslos und oberflächlich macht und unseren Raum für Erfindungen, Selbstorganisation und Begehren einschränkt. Stiegler denkt an die Herrschaft der Algorithmen und das unentrinnbare System des Konsumkapitalismus. Er hatte keine Ahnung, dass 15 Jahre später mit dem Siegeszug der KI ein weiterer Schritt der Degradierung einsetzen würde: die Automatisierung und Externalisierung auch noch des Denkens.

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Die KI sagt, was wir wollen sollen

Was Stiegler als Proletarisierung beklagt, lässt sich auch als Entlastung beschreiben. Entlastung erst von körperlicher Arbeit, dann von geistiger. Während der Hammer zur Vervielfachung der Kraft des Menschen noch dessen schwungvollen Arm brauchte, kam die Maschine ohne diesen aus. Mit der Automatisierung war schließlich auch der geistige Aufwand entbehrlich: Die Technik erfüllte autonom die ihr gesetzten Zwecke.

So gut das Navi mich von A nach B dirigiert, so gut wird mein KI-Assistent mich durchs Leben führen.

Die KI kümmert sich nun nicht nur um die Zweckerfüllung, sie übernimmt auch die Zwecksetzung: Sie ist es schließlich, die dem Menschen sagt, was er wollen soll. Ich spreche von KI-Assistenten, die uns bald rund um die Uhr zu Diensten stehen werden. Der Prozess ist schon in vollem Gange. Die KI führt Protokoll in Meetings, sie nimmt uns das Lesen schwieriger Texte ab, und sie schreibt uns auch einen neuen Text, wenn wir das wollen. Die KI ist eine riesengroße Entlastung, sagen die, die uns eine verkaufen wollen, und meinen, dass die KI uns von den monotonen geistigen Arbeiten für die wirklich kreativen befreit – was nur halb stimmt.

Andere warnen vor dem Verlust kognitiver Fähigkeiten durch deren Automatisierung – wie etwa der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme zu den „Herausforderungen durch die KI“ im Jahr 2023. Der Fachbegriff lautet „Deskilling“, und er betrifft nicht nur den Arbeitsprozess, er betrifft generell savoir-faire und auch savoir-vivre. Versuchen Sie mal, wie in alten Zeiten mit einem Stadtplan von A nach B zu kommen, dann wissen Sie, was ich meine.

So gut das Navi mich von A nach B dirigiert, so gut wird mein KI-Assistent mich durchs Leben führen. Immerhin kennt er mich besser als ich selbst, weil er nichts vergisst und sich nicht von Stimmungen leiten lässt. Also werde ich ihm nicht nur das Buchen der Tickets und Hotelzimmer überlassen, sondern die Planung des ganzen Urlaubs: wann, wo, mit wem. Die KI weiß, was ich studieren soll. Und wen ich heiraten soll.

Herr der Dinge ist der Knecht

Was würde Hegel zu alldem sagen? In seiner Phänomenologie des Geistes hob er einst die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft hervor. Demzufolge sei das, was der Knecht tut, „eigentlich Tun des Herrn“, denn der hat es befohlen. Aber Hegel sagt auch, dass dem Herrn das dingliche Sein, mit dem der Knecht zu tun hat, verborgen bleibt oder fremd wird. Denn darum kümmert sich nun der Knecht. Deshalb sei die Macht des Herrn letztlich eine „negative“: eine Macht, „der das Ding nichts ist“. So wie uns die Orientierung im Raum fremd wird, wenn das Navi übernimmt.

Wer aber ist dann eigentlich der Herr, wenn der eine die Dinge anfasst und durchschaut und der andere nur befiehlt? Der Knecht – so Hegel – verwirklicht sich in seiner Arbeit als handelndes Subjekt und erfährt sich so als souveränes Selbst. Der Herr aber ist von der Arbeit seines Knechts umso abhängiger, je weniger er sich noch selbst um sein Dasein kümmert. Ihm geht der direkte Bezug zur Welt verloren. Die dialektische Pointe von Hegels Herr-Knecht-Betrachtung liegt daher darin, dass das Wesen der Herrschaft „das Verkehrte dessen ist, was sie sein will“.

Worum es Hegel geht: Selbstbewusstsein entsteht im Selberkümmern und in der Anerkennung, die das Ergebnis dieses Kümmerns mit sich bringt – Anerkennung durch jene, mit denen wir zu tun haben, aber auch durch uns selbst, wenn wir aus der Begegnung mit der gegenständlichen Welt heimkommen und sehen, was uns gelungen ist. Wo bleibt diese Anerkennung, wo bleibt dieses Selbstbewusstsein, wenn der KI-Assistent alles übernimmt? Was geschieht, wenn nicht nur die Arbeit, sondern auch das Leben immer mehr von der KI übernommen wird?

Man darf also gespannt sein, wie sich das mit der Work-Life-Balance in den nächsten Jahren entwickeln wird. Sehr wahrscheinlich, dass wir bald alle weniger arbeiten müssen oder gar nicht mehr. Dann werden wir genau zwei Probleme haben: Wie und wovon leben wir? Und wo können wir noch Herr der Dinge werden, wenn unser KI-Knecht unser Leben übernimmt?

Buchcover Sprachmaschinen von Roberto Simanowski.
Sprachmaschinen von Roberto Simanowski. © C.H.Beck

Neuerscheinung: Mehr zur Herr-Knecht-Dialektik im Kontext der KI lesen Sie in Roberto Simanowskis neuem Buch „Sprachmaschinen. Eine Philosophie der künstlichen Intelligenz“ – es erscheint am 13. Oktober bei C. H. Beck.

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Conclusio

Automatisierung. KI übernimmt zunehmend körperliche und geistige Tätigkeiten, wodurch der Mensch von vielen Arbeitsprozessen entlastet wird. Doch dies führt auch zu einer Entfremdung und einem Verlust an Fähigkeiten.

Fremdbestimmung. KI entscheidet zunehmend für uns, von der Urlaubsplanung bis zur individuellen Lebensführung. Dies könnte das menschliche Selbstbewusstsein und die persönliche Autonomie beeinträchtigen.

Selbstwert. Die Frage wird sein, wie der Mensch in einer Welt ohne Arbeit und mit automatisierter Lebensführung noch Selbstwert und Bedeutung finden kann. Die Balance zwischen Entlastung und Entfremdung wird ein zentrales Thema sein.

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