Ist die Arbeitswoche zu kurz?
Die Beschäftigtenquoten sind hoch, viele Unternehmen finden nicht die Mitarbeiter, die sie brauchen. Würde es helfen, die Wochenarbeitszeit zu erhöhen? Eine Analyse.
Auf den Punkt gebracht
- Hohe Beschäftigung. Immer mehr Menschen in Deutschland und Österreich arbeiten. Trotzdem suchen viele Betriebe dringend Mitarbeiter.
- Laufende Alterung. Demographisch bedingt schrumpft der Anteil der Erwerbstätigen in Deutschland und Österreich zu Gunsten von Rentnern.
- Stagnation. Das schleppende Wachstum kann den Wegfall von Arbeitskräften nicht kompensieren – vor allem bei immer mehr Teilzeitbeschäftigten.
- Länger arbeiten. Zwei Stunden Mehrarbeit pro Woche würden den demographischen Ausfall abfedern. Sie sollten aber nicht auf Kosten der Work-Life-Balance gehen.
Zu den beachtlichsten Befunden nach der Pandemie in Deutschland gehört, dass sich der Fachkräfteengpass zu einem umfassenden Mangel an Arbeitskräften ausgeweitet hat. Dabei hat sich die berufliche Mobilität der Beschäftigten unerwartet in unteren und mittleren Qualifikationssegmenten erhöht, für die das nicht erwartet worden war.
So hat sich die Rekrutierung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in nahezu allen Berufen und Branchen zu einer zentralen Herausforderung entwickelt, unkonventionelle Wege der Personalsuche sind keine Ausnahme mehr. Bedenkt man, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion noch unterhalb des Vor-Pandemie-Niveaus im Jahr 2019 liegt, dann ist der Befund umso bemerkenswerter.
Warum die Fachkräfte fehlen
Unternehmen halten Beschäftigte selbst in Zeiten krisenhafter Verunsicherung. Dafür sind sie bereit, klassische Vergütungsinstrumente durch Qualitätsverbesserungen der Arbeit, flexible Zeitstrukturen und vielfältige Angebote für eine angemessene Work-Life-Balance zu ergänzen. Diese Verfassung des Arbeitsmarktes, bei der die relative Knappheit des Angebots prägend ist, reflektiert den Beschäftigungsaufbau der letzten 15 Jahre und die damit verbundene Erhöhung der Erwerbsquote der 20 bis 64-Jährigen von rund 67 Prozent (2004) auf über 80 Prozent (2019).
Potenzial ausgeschöpft
Deutschland hat damit nach der Schweiz (knapp 83 Prozent) und Schweden (gut 82 Prozent) die höchste Erwerbsbeteiligung in Europa erreicht – in Österreich lag sie mit rund 78 Prozent ebenfalls über dem EU-Schnitt. Dabei weist Schweden eine geringere, die Schweiz eine höhere Teilzeitquote auf als Deutschland, das demnach in diesem Zusammenhang nicht auffällig ist – trotz der besonderen Bedeutung der Teilzeit bei Frauen.
Der kräftige Beschäftigungsaufbau der vergangenen Jahre hat wesentlich die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte in der Bundesrepublik getragen, schließlich sind rund 75 Prozent der Steuer- und Beitragseinnahmen des Staates direkt oder indirekt an die Beschäftigungsverhältnisse und deren Einkommen gebunden.
Die Produktivitätsentwicklung ist ein politisch gerne adressierter, aber tatsächlich unrealistischer Hoffnungswert.
Nun aber ist – wie der europäische Vergleich zeigt – das Potenzial, noch mehr Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen, weitestgehend ausgeschöpft. Und ab 2025 wird aufgrund des demographischen Wandels das Potenzial an Erwerbspersonen schrumpfen – selbst unter der Annahme der amtlichen Bevölkerungsprognose, dass jährlich 200.000 Menschen mehr nach Deutschland einwandern als auswandern. Für Österreich wird ein ähnlich positiver Wanderungssaldo erwartet. Der Pillenknick hatte in der Bundesrepublik ab Mitte der 1960er Jahre bis Mitte der 1970er Jahre die Geburtenrate von 2,1 auf 1,4 reduziert, dessen Echoeffekt erleben wir nun.
Alterung frisst Produktivität
Die Alterung mit ihrer Wirkung auf die Altersstruktur und Größe des Potenzials an Erwerbspersonen hat unweigerlich Folgen auf das Wachstum einer Volkswirtschaft. Denn wenn – wie tatsächlich seit Jahrzehnten und international zu beobachten – die Produktivitätszuwächse im langfristigen Trend rückläufig sind oder im besten Fall konstant bleiben, dann definiert das gesamtwirtschaftliche Arbeitszeitvolumen die volkswirtschaftlichen Wachstumsmöglichkeiten.
Zahlen & Fakten
Die Produktivitätsentwicklung ist ein politisch gerne adressierter, aber tatsächlich unrealistischer Hoffnungswert. Tatsächlich dreht sich der entsprechende ökonomische Diskurs seit langem um das Rätsel der Produktivitätsschwäche trotz der digitalen Transformation. Daraus folgt natürlich nicht, dass eine Steigerung der trendmäßigen Produktivität ausgeschlossen ist, sie ist aber außerordentlich optimistisch und jedenfalls kurzfristig nicht leicht zu haben.
Erforderlich wäre eine höhere Kapitalintensität, daher eine bessere Ausstattung der Arbeitsplätze mit Anlagegütern und in Zeiten der digitalen Transformation mit so genannten immateriellen Anlagegütern wie Lizenzen, Patenten oder Software. Deregulierung und angemessene Infrastrukturen können ebenfalls dazu beitragen. Doch kurz- bis mittelfristig kann man darauf kaum setzen, zudem gilt: Alterung frisst Produktivität.
Geleistete Stunden entscheidend
Dann aber ist der Blick auf das Arbeitsvolumen zu richten. Dahinter steht zum einen die Beteiligung der potenziellen Erwerbspersonen in regulärer Arbeit, zum anderen die tarifvertraglich im Rahmen der Arbeitszeitordnung geregelte Jahresarbeitszeit (bei Vollzeit) sowie die Teilzeitquote.
Das Erwerbspersonenpotenzial lässt sich mit höherer Nettozuwanderung steigern und damit bei gegebener Struktur der individuellen Arbeitszeit auch das Arbeitsvolumen. Allerdings ist die Steuerbarkeit der Arbeitsmigration trotz aller gesetzlichen Öffnungen, die in Deutschland bereits gemacht wurden und weiterhin angekündigt sind, dadurch erschwert, dass viele äußere Faktoren – zum Beispiel ökonomische und politische Bedingungen in den Herkunftsländern – eine Rolle spielen.
Bleibt die Inflation, weil wir alt sind?
Zu beachten ist zudem die gesellschaftliche Aufnahmefähigkeit zuhause, die in einer alternden Gesellschaft eher abnehmen dürfte. Die in der aktuellen koordinierten Bevölkerungsvorausschau für die Bundesrepublik unterstellte Nettozuwanderung von 200.000 Menschen pro Jahr geht in der Regel mit einer Bruttozuwanderung von 800.000 Personen und einer Abwanderung von 600.000 Menschen einher. Das zeigt die tatsächliche Integrationsaufgabe und macht deutlich, wie sinnvoll es deshalb ist, nach den Motiven der Abwanderung zu fragen und politisch – soweit möglich – ebenfalls dort anzusetzen.
Jahresarbeitszeit neu regeln
So richtet sich das Interesse auf die Jahresarbeitszeit als in der Volkswirtschaft politisch gestaltbaren Faktor. Da das Rentenzugangsalter bis zum Jahr 2030 auf 67 Jahre angehoben wird, bietet sich bis dahin die Regelung der Jahresarbeitszeit an. Auch hier hilft zur Orientierung der Blick in die erfolgreichsten Länder in Europa, die Schweiz und Schweden. In beiden Ländern wird im Durchschnitt über alle Erwerbstätigen wöchentlich mehr gearbeitet als in Deutschland, und zwar zwei Stunden in der Schweiz und eine Stunde in Schweden.
Zahlen & Fakten
Würde man über eine Kombination von veränderter Urlaubsregelung und höherer Wochenstundenzahl das Jahresarbeitsvolumen pro Erwerbstätigen um 100 Stunden erhöhen, dann würde damit bis zum Jahr 2030 der demografisch bedingte Verlust von über 3 Millionen Erwerbstätigen respektive 4,2 Milliarden Arbeitsstunden ausgeglichen.
Arbeit flexibler gestalten
Dieser Vorschlag hat vielfältige Reaktionen ausgelöst. Manche Erwerbstätige sehen darin eine akzeptable Möglichkeit, wenn diese mit erhöhter Arbeitszeitsouveränität verbunden wird – sprich, dass Mitarbeiter selbst freier entscheiden können, wann sie wieviel arbeiten. Andere verweisen darauf, dass wir tatsächlich nicht weniger arbeiten können, wenn die demographischen Bedingungen nun einmal so sind.
Wieder andere befürchten eine Überforderung der Beschäftigten und eine Verkürzung der Lebenserwartung. Dagegen spricht aber, dass in den beiden Vergleichsländern die Lebenserwartung bei Männern um zwei (Schweden) beziehungsweise drei (Schweiz) Jahre, bei Frauen um ein halbes beziehungsweise zwei Jahre höher liegt als in Deutschland.
Strategien gegen den Personalmangel
Es kommt sicher sehr auf die zeitliche und organisatorische Gestaltung der Arbeit an. Gerade die Pandemieerfahrung mit politisch verordnetem Homeoffice stellt nun alle Unternehmen vor die Frage, wie sie damit dauerhaft umgehen wollen. Die erlebte Flexibilität schafft nicht nur bei den Erwerbstätigen Erwartungen für die Arbeitswelt der Zukunft, sondern eröffnet auch neue Möglichkeiten der Arbeitsorganisation.
Irrweg Arbeitszeitverkürzung
Eine immer wieder gebrachte Forderung lautet, dass statt einer Arbeitszeitverlängerung eine radikale Arbeitszeitverkürzung der richtige Weg sei. So wie schon in den 1980er Jahren die Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche mit dem Argument dann steigender Produktivität begründet wurde, so wird dies heute mit Blick auf den Fünf-Stunden-Tag oder die 25-Stunden-Woche gemacht.
Man wird nicht daran vorbeikommen, über flexiblere Regelungen für die Jahresarbeitszeit nachzudenken.
Gleicher Lohn bei massiv verringerter Arbeitszeit erfordert eine ebenso massive Erhöhung der Produktivität. Es mag unternehmerische Realitäten und Geschäftsmodelle geben, wo das geht. Volkswirtschaftlich ergibt sich daraus aber kein Lösungsbeitrag für das demographische bedingte Problem, weil die erbrachte Leistung verglichen mit dem vorherigen Zeitregime unverändert bleibt. Es verschieben sich in der Kombination von Arbeitszeit und Arbeitsproduktivität nur die Gewichte der Wachstumsbeiträge.
Zwei Stunden mehr
Wie man es auch dreht und wendet: Man wird angesichts der demographischen Alterung nicht daran vorbeikommen, über flexiblere Regelungen für die Jahresarbeitszeit nachzudenken, um damit das volkswirtschaftliche Leistungsniveau zu sichern. Die Hoffnung auf eine massive Produktivitätssteigerung durch technischen Fortschritt erweist sich aus Erfahrung als wenig realistisch.
Produktivitätssteigerung durch Arbeitszeitreduktion bedeutet – abgesehen von der ungelösten volkswirtschaftlichen Problematik – eine beachtliche Arbeitsverdichtung. Das steht im Widerspruch zu den vielfach vorgetragenen Klagen über Burnout und Stress in der Arbeitswelt. Es dürfte ebenso zur Folge haben, dass die gewonnenen Stunden kaum für andere Tätigkeiten genutzt werden.
Die Ausweitung der Wochenarbeitszeit um zwei Stunden ist eine hierzulande gestaltbare Option, die auch dazu genutzt werden kann, die Arbeitszeitgestaltung durch die Beschäftigten zu verbessern. Eine Absage an eine angemessene Balance zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Arbeitswelt und Privatheit ist es definitiv nicht.
Conclusio
Langfristig bedroht die Alterung der Gesellschaft den Wohlstand. Das Potenzial an Arbeitskräften ist in Ländern wie Deutschland ziemlich ausgeschöpft. Steigt die Produktivität nicht, müsste sich die Arbeitszeit erhöhen, um den demographischen Ausfall zu kompensieren. In Deutschland ließe sich die Lücke schließen, indem jeder zwei Stunden pro Woche mehr arbeitet.