Arbeitest du noch oder lebst du schon?
Work-Life-Balance ist in, der Zeitgeist verlangt eine klare Trennung von Job und Vergnügen. Dabei wird unterschlagen, wie viel Freude und Sinn Arbeit schaffen kann.

Auf den Punkt gebracht
- Zeitgeist. Die Wahrnehmung von Arbeit hat sich verändert: Sie wird oft als Belastung dargestellt, während Freizeit zur Hauptquelle von Lebensfreude erklärt wird.
- Trennung. Das Konzept der Work-Life-Balance suggeriert eine klare Abgrenzung zwischen Arbeit und Leben, obwohl sich beide Bereiche gegenseitig beeinflussen.
- Wertschätzung. Historische und religiöse Perspektiven zeigen, dass Arbeit nicht nur Mühsal ist, sondern auch Erfüllung, Sinn und Resonanz schaffen kann.
- Illusion. Der Traum von einer Welt mit minimaler Arbeit hat sich nicht durchgesetzt, da Arbeit sowohl wirtschaftliche als auch persönliche Werte schafft.
Kürzlich bei einem Empfang hätte ich mein Gegenüber gerne gefragt, was es denn beruflich mache. Doch dann erinnerte ich mich an ein Gespräch mit Freunden, die mir zu verstehen gegeben hatten, dass heutzutage nicht nur die Frage nach der Herkunft, sondern auch jene nach dem Beruf als übergriffig gelte. Durch meine Frage könnte sich das Gegenüber verletzt fühlen, weil es sich auf den Beruf reduziert sehe; wer in seinem Job unglücklich oder gar arbeitslos ist, werde brüskiert. Mit meinem Einwand, dass die berufliche Tätigkeit eines Menschen doch zu einem großen Teil mitbestimme, wer er sei, stieß ich auf taube Ohren.
Mehr zum Sinn der Arbeit
Während also die Frage nach dem Beruf zu einem Tabu zu werden scheint, gewinnt man bei der derzeitigen politischen Debatte um die Sicherung der Renten den Eindruck, bei der Arbeit handle es sich hauptsächlich um ein notwendiges Übel: Arbeit erscheint vorwiegend als Mühsal und Beschwer, als Zwang und Last. Von der Nichtarbeit wird dagegen in den höchsten Tönen gesprochen, sie wird als reiner Genuss und pure Entspannung dargestellt. Hier die Plackerei, die uns hienieden auferlegt ist. Dort das Chillen, das uns erst richtig leben lässt.
Entsprechend kommt derzeit keine Debatte um Teilzeitarbeit und Fachkräftemangel ohne den Begriff Work-Life-Balance aus. Auf der einen Seite der Waage die Arbeit, auf der anderen das Leben. Überschneidungen sind per definitionem keine vorgesehen. Work-Life-Balance scheint das Gebot der Stunde: Es gilt, ständig ausgeglichen zu sein. Wer acht Stunden im Büro verbringt, sollte ebenso viele Stunden auf dem Vita-Parcours und in der Sauna, im Kochstudio und im Konzert anzutreffen sein. „Arbeitest du noch, oder lebst du schon?“, fragt uns der Zeitgeist.
Der schlechte Leumund, den Arbeit hat, ist indessen genauso wenig neu wie der Traum von einer Welt, in der möglichst wenig gearbeitet wird. Ausgerechnet der Schwiegersohn von Karl Marx, Paul Lafargue, entwarf 1883 das Zukunftsmodell einer Gesellschaft, in der pro Tag nur noch drei Stunden gearbeitet werden soll und der Rest des Tages für andere Tätigkeiten zur Verfügung steht. Schließlich habe auch Gott nur „kümmerliche sechs Tage“ gearbeitet, als er die Welt schuf, und verbringe seither die Zeit mit „Sonntagen und blauen Montagen“, so Lafargue.
Der schlechte Leumund, den Arbeit hat, ist indessen genauso wenig neu wie der Traum von einer Welt, in der möglichst wenig gearbeitet wird.
Der Ökonom John Maynard Keynes träumte in den 1930er-Jahren von einer Welt, in der sich menschliche Arbeit dank des technologischen Fortschritts mehr und mehr erübrigt. Er prognostizierte, dass bis 2030 die Arbeitswoche nur noch 15 Stunden dauern werde und man sich schöneren Dingen zuwenden könne. Allerdings räumte Keynes ein, dass die Herausforderung dann darin liegen würde, die freie Zeit sinnvoll zu gestalten. Weder das Modell von Keynes noch jenes von Lafargue konnten sich durchsetzen. Dies dürfte wesentlich damit zusammenhängen, dass Arbeit eben weit mehr ist als nur Broterwerb und Mittel zum Zweck.
„Von Arbeit stirbt kein Mensch“
Dass Arbeit viel mit Hingabe, Erfüllung und Sinn zu tun hat, erkannte schon die christliche Tradition: In den mittelalterlichen Klöstern entwickelte sich eine ausgeprägte Arbeitsmoral mit einem durch Gebet/Erholung und Arbeit durchgetakteten Tag. Leben und Arbeit waren keine Gegensätze, sondern flossen ineinander. Entsprechend hat das In-den-Tag-hinein-Leben in der christlichen Tradition einen schlechten Ruf: Für den Gründer des Benediktinerordens, Benedikt von Nursia, ist Müßiggang der „Feind der Seele“, denn Nichtstun kann in Langeweile und depressive Verstimmung umschlagen. Auch der wortgewaltige Martin Luther war überzeugt: „Von Arbeit stirbt kein Mensch, aber vom Müßiggehen kommen die Leute um.“
Bei den Reformatoren setzte sich denn auch die Einsicht durch, dass Arbeit als Dienst am Nächsten eine Art Gottesdienst sei. Für sie galt es als ausgemacht, dass der Mensch zur Arbeit geboren sei wie der Vogel zum Fliegen. In ihrem Kampf gegen den katholischen Klerus stellten sie kurzerhand alle Arbeit und alle Arbeitenden vor Gott gleich. Der Genfer Reformator Johannes Calvin sah im wirtschaftlichen Erfolg gar ein Zeichen der göttlichen Gnade und einen Beweis innerweltlicher Bewährung.
Einige der Einsichten aus der christlichen Tradition dürften auch heute noch ihre Gültigkeit haben: etwa jene, dass Arbeit und Leben keine streng voneinander getrennten Sphären, sondern wechselseitig miteinander verknüpft sind. Wenn ich abends den Laptop zuklappe, nehme ich das, was ich tagsüber gearbeitet und geschaffen, erlebt und erlernt, errungen und ab und an auch erlitten habe, mit mir in den Feierabend. Ich gebe es nicht an der Garderobe ab wie meinen Mantel, sondern trage es auch dann noch mit mir herum, wenn ich längst beim Abendbrot sitze oder mich nach der Arbeit auf dem Tennisplatz bewege.
Arbeit gehört zum Leben …
Umgekehrt wird niemand, der in seiner Beziehung unglücklich ist, sich am Morgen voller Elan an den Schreibtisch setzen, sondern die trüben Gedanken werden ihn auch dann nicht ganz loslassen, wenn er in einem Meeting ist. Zu Recht kritisiert der Autor Thomas Vašek denn auch, dass hinter dem Begriff „Work-Life-Balance“ die Annahme stecke, dass „Arbeit“ und „Leben“ getrennt voneinander ablaufen würden. Wie Vašek in seinem Buch Work-Life-Bullshit schreibt, ziele dies aber gänzlich an der Realität vorbei, denn Arbeit gehöre zum Leben, und ohne zu leben, könnten wir nicht arbeiten.
Dem Konzept der Work-Life-Balance liegt ein Gegensatzdenken zugrunde, bei dem die Arbeit als notwendiges Übel betrachtet wird und Freizeit zum Fetisch gerät: Man leidet an der Arbeit, sie entfremdet den Menschen von sich selbst und macht unfrei. Die von der Arbeit befreite Zeit hingegen wird als reine Freude, Genuss und Erfüllung glorifiziert. Dabei wird gänzlich ausgeblendet, dass es oftmals gerade die Freizeit selbst ist, die Stress verursacht: Noch kurz ins Fitnessstudio oder doch lieber nur auf den Hometrainer, damit man vor der Party noch schnell die Reise buchen und den Friseurbesuch wahrnehmen kann? Es geht deshalb ins Leere, die Arbeit gegen die Nichtarbeit auszuspielen.
Dem Konzept der Work-Life-Balance liegt ein Gegensatzdenken zugrunde, bei dem die Arbeit als notwendiges Übel betrachtet wird und Freizeit zum Fetisch gerät.
Von der christlichen Tradition zu lernen bedeutet aber auch, den Wert der Arbeit zu schätzen. Sie schafft Hingabe und Erfüllung; es tut gut, die eigenen Fähigkeiten und Talente einzubringen und der Gesellschaft einen Dienst zu leisten. Man erlebt es als sinnstiftend, dass man gebraucht wird und einen Beitrag zum Großen und Ganzen beisteuern kann und dafür sogar noch entlohnt wird.
… und stiftet Sinn
Dass Arbeit eine Sinnressource sein kann, betont neuerdings nicht nur die sogenannte Glücksforschung, auch der Soziologe Hartmut Rosa spricht von „Resonanzerfahrungen“, die wir in der Arbeit machen. Etwa dann, wenn eine Lehrerin sieht, wie ihre Schüler „Feuer fangen“. Oder wenn ein Maler mit Genugtuung feststellt, dass der von ihm frisch gestrichene Raum an Qualität gewonnen hat. Auch der Friseur, der der Kundin einen peppigen Haarschnitt verleiht, erfährt Tag für Tag, was er bewirken kann und wie sehr er gebraucht wird. Wer Arbeit nur als Mühsal betrachtet, bringt sich selbst um solche Erfahrungen.
Conclusio
Alte Rezepte. Schon der Sozialist und Arzt Paul Lafargue postulierte ein Maximum von drei Stunden Arbeit am Tag. Der bekannte Ökonom John Maynard Keynes prognostizierte 15 Wochenstunden in Erwerbstätigkeit.
Neuer Zeitgeist. Mit der Work-Life-Balance wird eine Trennung von Arbeit und Leben vorgenommen. Hier das notwendige Übel, dort die Erfüllung. Dabei wird übersehen, dass sich beide Funktionen gegenseitig beeinflussen.
Echte Werte. In der aktuellen Diskussion werden die sinnstiftenden Elemente der Arbeit ausgeblendet. Einen Beitrag für andere oder die ganze Gesellschaft zu leisten oder einfach nur eine Leistung zu erbringen, kann erfüllend wirken.