Ist Armut dem Menschen zumutbar?

Den Menschen ein schlechtes Gewissen einzureden, wenn sie ein gutes Leben mit warmen Wohnungen und kühlen Schwimmbädern führen wollen, ist eine arrogante Zumutung eines abgehobenen Milieus.

Illustration eines leeren Geldbeutels
Der Verzicht auf Konsum könnte schon bald keine freie Wahl mehr sein. © Getty Images

Sich zu schämen, scheint aus irgendwelchen Gründen zu den Grundbedürfnissen des deutschsprechenden Teils der Menschheit zu gehören, ähnlich dem Bedürfnis nach Wasser, Nahrungsmitteln und zwischenmenschlicher Nähe. Denn anders ist nicht zu erklären, dass die Deutschen ununterbrochen neue Gründe finden, sich zu schämen.

War im letzten Sommer etwa noch die „Flugscham“ angesagt, also das angeblich notwendige schlechte Gewissen, wenn man sich per Flugzeug fortbewegt, so predigt uns die Süddeutsche Zeitung heuer eine brandneue Variante dieser Schamlust: die „Poolscham“. Und die entsteht so: „In der Pandemie ließen viele Einfamilienhausbesitzer ihren Traum vom Pool zur gekachelten Wirklichkeit werden. Könnte aber sein, dass sich das große Badeglück in Zeiten der Trinkwasserknappheit ganz schnell verflüchtigt. Über das neue Gefühl der Poolscham.“

Klimaschonender Exitus?

Wir lernen: wegfliegen sollen wir im Urlaub nicht, weil wir uns sonst schämen müssen, aber wenn wir deshalb brav daheim am eigenen Pool bleiben, müssen wir uns erst recht schämen. Vermutlich wird man uns von wohlmeinender Seite als nächstes nahelegen, unsere klimaschädliche Existenz am besten freiwillig zu terminieren, um dem Planeten nicht weiter zur Last zu fallen (wobei darauf zu achten sein wird, dass der Suizid klimaneutral zu erfolgen hat, also nicht etwa mit Hilfe CO2-emittierender Schusswaffen; Seile aus nachhaltig und ohne Kinderarbeit produziertem Hanf sind eindeutig vorzuziehen).

Diese seltsame Lust an der Selbst-Flagellation schließt nahtlos an jene vor allem im grün-linken Milieu verbreitete Lust am materiellen Verzicht an, die unter dem Schlagwort „Degrowth“ – also die erzwungene Schrumpfung von Produktion und Konsum – seit geraumer Zeit durch Medien und Politik geistert.

Vielleicht ist es an der Zeit, Schämscham anzudenken.

Wie weit die absurde – dazu gleich mehr – Idee, durch Askese den Planeten zu retten, bereits Allgemeingut in diesen Milieus geworden ist, zeigte sich etwa Ende Juli in der Hauptnachrichtensendung des ORF, der ZIB 1. Nicht etwa in einem Kommentar, sondern einem dem Objektivitätsgebot unterliegenden Bericht erfuhren die Zwangsgebühren-Zahler da zur Prime Time von „unserem übertriebenen Konsum“, der problematisch sei.

Das schließt nahtlos an meine Lieblings-Spitzenmeldung der ZIB 1 vom letzten Sommer an („Die Welt brennt“), eröffnet aber gleichzeitig auch ein paar interessante Fragen.

Und jetzt einen „Konsum-Rat“, bitte!

Wie etwa die, wer eigentlich mit welcher demokratischen Legitimation bestimmt, welcher Konsum „übertrieben“ ist und daher verboten gehört, und welcher gerade noch zulässig ist. Die ORF-Redakteure? Ein noch zu installierender „Konsum-Rat“ ähnlich dem „Klima-Rat“, der da künftig reguliert? Oder gleich eine staatliche Planungsbehörde, der jedem Bürger Konsum-Karten zuweist, damit er nicht dem „übertriebenen Konsum“ frönt?

Die allfällige Rationierung von Gas im kommenden Winter könnte da so eine Art Generalprobe für das zur Rettung der Welt notwendige „Degrowth“ werden – auch Autos, Glühbirnen und Kühlschränke bieten sich als zu rationierende Konsumgüter an, genau wie Käse aus Frankreich, Rotwein aus dem Piemont oder Tweed-Stoffe aus Schottland.

Wenn wir „unseren Überkonsum“ loswerden wollen, wird es natürlich da und dort kleinere Kollateralschaden geben, aber da müssen wir wohl durch. Denn wenn weniger produziert wird, gibt es weniger Jobs, weniger Steueraufkommen, weniger Einkommen und damit auch weniger Möglichkeiten, Sozialleistungen, Schulen, Krankenhäuser oder Pensionen zu finanzieren.

Weniger Produktion bedeutet deshalb zwingend mehr Armut, aber Armut ist den Menschen offenbar zumutbar, jedenfalls in der Welt der wohlmeinenden Retter der Welt. Die schämen sich übrigens nicht im geringsten, von Inflation, Energiekrise und der Aussicht auf einen eher kühlen Winter bedrängten Menschen, die nicht in der Komfortzone öffentlich-rechtlicher Institute leben, ein schlechtes Gewissen einzureden, wenn sie ihrem vermeintlichen „Überkonsum“ huldigen. Vielleicht ist es an der Zeit, Schämscham anzudenken.