Kleines Wehwehchen, große Folgen
Eine Studie des Complexity Science Hub in Wien konnte den Verlauf von Krankheiten bei Menschen über ihr ganzes Leben nachzeichnen – das bietet neue Möglichkeiten für die Präventionsmedizin.
Auf den Punkt gebracht
- Wiege zur Bahre. 45 Millionen Krankenhausaufenthalte aus allen Spitälern konnten für eine Studie analysiert werden.
- Langes Leben. Weil wir immer älter werden, wird es immer bedeutender, so lange wie möglich gesund zu leben.
- Neue Korrelationen. Die Studie konnte bislang unbekannte Korrelationen zwischen Krankheiten früh und spät im Leben nachweisen.
- Ein Alarmsignal. Über diese Korrelationen Bescheid zu wissen, hilft Ärzten und Patienten, frühzeitig reagieren zu können.
Laut einer Studie der Universität Salzburg leidet jeder dritte Österreicher an einer Schlafstörung. Wir alle wissen, wie sehr Schlafmangel unsere Stimmung, unsere Leistungsfähigkeit und unser allgemeines Wohlbefinden beeinträchtigen kann. Leider ist es sogar noch schlimmer – zumindest für Männer, die in ihren 20ern unter Schlafstörungen leiden. Im Zuge unserer Studie haben wir festgestellt, dass sie auch dazu neigen, später in ihrem Leben andere Krankheiten zu entwickeln. Diese Männer haben ein viel höheres Risiko, an einer Nieren- oder Stoffwechselkrankheit zu erkranken.
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Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Anhand der österreichischen Gesundheitsdaten konnten wir Hunderte von Krankheitsverläufen aufzeigen – von der Wiege bis zur Bahre. Die langfristigen Auswirkungen von Krankheiten, die wir in unserem frühen Leben haben, werden immer wichtiger – aus dem ganz einfachen Grund, dass wir immer älter werden. Im Jahr 1960 lag die Lebenserwartung eines durchschnittlichen Österreichers bei 68,6 Jahren, heute liegt sie bei 81,2 Jahren. Wenn wir wissen, wie sich bestimmte Krankheiten in jungen Jahren auf unser späteres Leben auswirken, können wir versuchen, sie zu verhindern und damit nicht nur die Lebensspanne, sondern auch die Gesundheitsspanne zu verlängern – also die Zeit unseres Lebens, die wir ohne schwere Erkrankungen verbringen.
45 Millionen Krankenhausaufenthalte und Diagnosen
Für unsere Forschung konnten wir mit einem riesigen Datensatz arbeiten: Er erstreckt sich über 17 Jahre – 1997 bis 2014 – und umfasst 45 Millionen Krankenhausaufenthalte von 9 Millionen Personen in allen österreichischen Krankenhäusern sowie deren Diagnosen. Es handelt sich natürlich um pseudonymisierte Daten, wir haben also keine Namen oder Geburtsorte.
Aber wir können mit Alter, Geschlecht und Region der Patienten arbeiten. Wir haben auch Informationen über die Sterblichkeit – also ob jemand im Krankenhaus gestorben ist. 55 Prozent aller Österreicherinnen und Österreicher sterben im Krankenhaus, deshalb haben wir kein vollständiges Bild der Sterbefälle, aber doch einen recht guten Einblick. Wir wissen auch, wie die Patienten entlassen wurden, also ob sie in ein anderes Krankenhaus verlegt wurden oder ob sie entlassen wurden.
Zahlen & Fakten
17 Jahre sind eine lange Zeit, aber wenn wir uns mit langfristigen Gesundheitsverläufen befassen, wollen wir idealerweise die gesamte Lebensspanne von der Geburt bis zum Tod betrachten. Also haben wir eine neue Methode entwickelt: Da wir diese 17 Jahre an Daten haben, teilen wir sie in zwei Zeiträume auf und verfolgen dann Patienten, die von einer Altersgruppe in die andere wechseln. Wenn jemand 2005 im Alter von 28 Jahren im Krankenhaus war, prüfen wir, ob er in seinen 30ern noch einmal kam – und wir konnten viele dieser wiederkehrenden Patienten finden.
Krankheiten und ihre Korrelationen
Wir haben nicht nur einzelne Patienten oder Altersgruppen untersucht, sondern auch Korrelationen von Krankheiten zwischen Altersgruppen. So hatten wir plötzlich ein riesiges, vielschichtiges Netz von Millionen von Patienten und Krankenhausaufenthalten, das alle Altersgruppen abdeckte – von 0 bis 80 Jahren. Und so konnten wir lebenslange Gesundheitsverläufe betrachten und die häufigsten finden. Am Ende unserer Forschung standen 618 Pfade für Frauen und 642 für Männer. Wir fanden Verläufe, die in den 20er Jahren sehr unterschiedlich beginnen, aber in den 50er und 60er Jahren fast gleich enden. Wir können auch bestimmte Krankheiten wie psychische Probleme, Fettleibigkeit oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen untersuchen und sehen, wie sie sich auf die Patienten in der Zukunft auswirken könnten.
Unsere Forschung hat viele Dinge bestätigt, die wir bereits wussten oder die offensichtlich sind: Je älter man wird, desto mehr Krankheiten wird man haben. Wenn man an Krebs erkrankt, besteht leider eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er sich ausbreitet. Wenn man in seinen 20ern eine chronische Krankheit hat, wird man sie für den Rest seines Lebens haben. Aber wir haben auch sehr interessante und unbekannte Verläufe gefunden, wie den oben erwähnten über Schlafstörungen bei jungen Männern.
Es gibt auch Verläufe, die zeigen, dass diese Entwicklung nicht in Stein gemeißelt ist.
Wir haben herausgefunden, dass diese Krankheit ein kritischer Moment ist, weil sie das Potenzial hat, viele Jahre später zu schwereren und ganz anderen Krankheiten zu führen. Das Gleiche gilt für Frauen zwischen 10 und 19 Jahren, die an Bluthochdruck leiden und auch dazu neigen, bereits in ihren 20ern eine chronische Nierenerkrankung zu entwickeln. Aber: Es gibt auch Verläufe, die zeigen, dass diese Entwicklung nicht in Stein gemeißelt ist.
Das Leben ändern
Dies ist eine sehr wichtige Erkenntnis, denn Männer mit Schlafstörungen oder Frauen mit hohem Blutdruck sind sich der Gefahr einer Nierenerkrankung höchstwahrscheinlich nicht bewusst. Und die Verläufe zeigen, dass es möglich ist, sie zu vermeiden. Dieses Wissen kann als Alarmzeichen für eine Änderung des Lebensstils dienen, weil man nun klar erkennen kann, welche Risiken man eingeht, wenn man auf diesem Weg bleibt. Sie kann auch Ärzten helfen, Patienten vor diesen Risiken zu warnen.
Wenn man in den Daten einen Verlauf sieht, der überraschend erscheint, fragt man sich als Forscherin natürlich: Ist das relevant? Ist es ein unsinniges Ergebnis, das der Algorithmus ausspuckt? Deshalb haben wir alle unsere paarweisen Krankheitsassoziationen mit medizinischen Artikeln und Daten abgeglichen und konnten für 99 Prozent aller Krankheitsverläufe bestätigen, dass es zu diesen Assoziationen relevante Literatur gibt. Unsere Ergebnisse werfen ein Licht auf bisher unbekannte Kombinationen bekannter Krankheitskorrelationen. Außerdem verknüpfen wir spezifische Altersgruppen mit jeder Krankheit und ermöglichen so ein Verständnis der zeitlichen Dimension von Krankheitsverläufen.
Für uns sind diese Forschung und ihre Ergebnisse ein Ausgangspunkt, der zu vielen weiteren Erkenntnissen führen kann und hoffentlich zu einer besseren Ausrichtung der Präventivmaßnahmen im Gesundheitssystem führen wird.
Conclusio
618 Krankheitspfade für Frauen und 642 für Männer konnten im Zuge einer Studie gefunden werden, der 45 Millionen Krankheitsverläufe zugrunde liegen. Schlafstörungen bei jungen Männern oder hoher Blutdruck bei Frauen können etwa Jahrzehnte später zu Nierenleiden führen. Dieses Wissen wird im Idealfall zu besseren Präventivmaßnahmen führen und Patienten helfen, rechtzeitig ihren Lebensstil zu ändern.