Den Killer-Zellen auf der Spur
Metastasen sind die gefährlichste Komplikation einer Krebserkrankung, sie verursachen neun von zehn Todesfällen. Wie lässt sich das verhindern?
Auf den Punkt gebracht
- Böse Wanderer. Um Metastasten zu bilden, müssen Krebszellen durch den Körper wandern.
- Durchs Dickicht. Lange war die einhellige Meinung der Krebsforscher, dass sie sich durch das Gewebe fressen und kämpfen.
- Großer Irrtum. Allerdings hat sich diese Vorstellung als falsch erwiesen – und damit auch viele Therapieansätze.
- Neue Hoffnung. Mittlerweile wissen wir: Sie bewegen sich durch erst vor wenigen Jahren entdeckte Kanäle, die Interstitium genannt werden.
Dies ist die Geschichte eines folgenschweren Irrtums. Er kostete hunderte Millionen Euro und Jahre an wertvoller Zeit. Diese Geschichte beschäftigt sich mit einer der essenziellsten Fragen der Krebsforschung: Wie entstehen Metastasen? Wenn bei einem Patienten ein Tumor entdeckt wird, ist das natürlich eine schwerwiegende Diagnose. Aber wirklich kritisch wird es meist dann, wenn der Krebs sich im Körper ausbreitet und weiterwuchert; wenn er dabei auch andere Organe befällt. Neunzig Prozent der Krebstoten gehen auf Metastasen zurück.
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Um die Frage zu beantworten, wie Tumore metastasieren, muss man zunächst einmal verstehen, wie Zellen funktionieren. Denn letztlich sind auch Krebszellen ganz normale Zellen; das ist der Grund, warum sie vom Körper in der Regel nicht angegriffen werden. Sie verhalten sich allerdings anders als andere Zellen, man könnte sagen: Sie benehmen sich weniger gut.
Das Wesen der Zellen
Nehmen wir als Beispiel eine Milchdrüse: Sie besteht aus einem Verband von Zellen, die alle eine bestimmte Funktion haben. Die Milchdrüse hat einen klar definierten Zweck – immer wieder mal Milch zu produzieren und in der Zwischenzeit abzuwarten. Eine Krebszelle hingegen bricht den Kontakt zu ihren Nachbarn ab und fängt an, sich umzuschauen. Sie beginnt zu wandern – und sich zu vermehren. Das ist etwas, was Zellen normalerweise nur zu bestimmten Zeitpunkten tun.
Wenn sich aus einem Embryo ein Baby entwickelt, gibt es – um bei unserem Beispiel zu bleiben – noch keine Milchdrüse. Zellen müssen wandern, sie müssen sich vermehren und spezialisieren, damit am Ende eine Milchdrüse entsteht. Diese Entwicklung wird Morphogenese genannt. Wenn sie abgeschlossen ist, wird die Fähigkeit des Wanderns und Vermehrens stummgeschaltet. Sie kann aber wieder reaktiviert werden. Wenn es im Körper etwa eine Wunde gibt, wandern Hautzellen dorthin, sie vermehren sich und schließen so die Wunde. Ist sie geschlossen, hört der Vorgang auf. Krebszellen hören nicht auf: Sie wandern und wuchern unkontrolliert.
Krebszellen: Rambos mit Macheten
Bloß: Wie wandern sie durch den Körper? Wie kommt eine Krebszelle von A nach B, um eine Metastase zu bilden? Wir wissen, dass Krebszellen die Fähigkeit haben, Gewebe zu zerstören. Und lange Zeit, bis in die frühen 2000er-Jahre, gab es die Annahme, dass sie sich „aggressiv“ durch das Gewebe kämpfen, um sich fortzubewegen. Krebszellen wurden als Rambos gesehen, die sich mit Macheten ihren Weg durch den Dschungel des Körpers schlagen. Die Waffen der Krebszellen sind Enzyme, sogenannte Matrix-Metalloproteasen. Deshalb wurden Hemmstoffe entwickelt, die diese Enzyme unschädlich machen sollten – in der Hoffnung, die Metastasierung des Tumors zu stoppen.
Eine wichtige Therapiehoffnung war dahin, die Krebsforschung desillusioniert und frustriert. Ihre Ideen waren falsch. Die Frage lautet also: Was ist da passiert?
Ein großer Bereich der Krebsforschung konzentrierte sich also darauf, den Krebszellen ihre Macheten wegzunehmen. Das gelang auch, allerdings gab es einen wesentlichen Schönheitsfehler: Die Hemmstoffe brachten den Patienten keine Besserung, teilweise machten sie die Situation noch schlimmer. Und niemand verstand, warum. Die Krebszellen hatten ihre Waffen verloren, trotzdem wanderten sie durch den Körper und metastasierten. Eine wichtige Therapiehoffnung war dahin, die Krebsforschung desillusioniert und frustriert. Ihre Ideen waren falsch. Die Frage lautet also: Was ist da passiert?
Ein Fenster in das Innere der Maus
Das ist der Punkt, an dem unsere Forschung ins Spiel kommt – und ein wichtiger Bestandteil des Körpers, der Interstitium genannt wird und den wir erst jetzt richtig zu verstehen lernen. Wir arbeiten mit Mikroskopie in einem sehr spezialisierten Labor: Unser Mikroskop hat mehrere Millionen Euro gekostet, füllt nahezu einen gesamten Raum und ist technisch fordernd. Aber was wir damit tun können, ist In-vivo-Mikroskopie. Wir können also lebende Objekte – zumeist Mäuse – unter die Linse bringen und damit sehen, wie sich Zellen bewegen oder wie sich Gewebe verändert. Das kann man mit der Arbeit von Biologen vergleichen, die sich in einem Busch verstecken und wilde Tiere beobachten – nur eben auf einer mikroskopischen Ebene.
Die Mäuse werden sediert, dann bringen wir an der Haut oder einem anderen Organ ein kleines Fenster an, durch das wir in den lebenden Körper blicken können. Das Mikroskop erlaubt es uns, die Interstitium-Infrastruktur des Gewebes zu sehen. Dazu gehört auch die extrazelluläre Matrix; so nennt sich jener Gewebeanteil, der zwischen den Zellen liegt, das meiste davon ist Kollagen. Wir sehen aber auch Muskelgewebe, Blutgefäße, Nervenstränge oder Fettzellen.
Wir haben auch Tumore in Mäuse eingebracht, um zu verstehen, wie sich diese Tumore verhalten – und eben auch, wie sie Metastasen bilden. Wir haben alle Enzyme deaktiviert, die durch Gewebe schneiden können. Und wir konnten letztendlich zeigen, wie Krebszellen auch ohne Macheten durch den Körper wandern: Durch den ganzen Körper von Mäusen, aber auch von Menschen, führen kleine Kanäle, die hauptsächlich mit Wasser und Hyaluronsäure gefüllt sind und von denen wir bis vor kurzem kaum eine Ahnung hatten. Diese Kanäle durchziehen das gesamte Interstitium. Vor zehn Jahren, als wir mit unserer Forschung begannen, gab es über diesen Teil des Körpers so gut wie kein konzeptuelles Wissen.
Wie Metastasen entstehen
Aber wir konnten sehen, dass die Tumorzellen diese Kanäle als eine Art Autobahn nutzen, um sich im Körper fortzubewegen, ganz ohne Gewebe zu zerstören. Diese Kanäle gibt es auch im gesunden Körper, sie dienen zum Transport von Flüssigkeit. Sie können sehr unterschiedlich groß sein und haben einen Durchmesser zwischen einem und 50 Mikrometern. Zum Vergleich: Eine Zelle ist etwa 10 bis 15 Mikrometer groß. Durch manche dieser Kanäle können sich die Zellen also bequem bewegen, durch andere müssen sie sich durchzwängen oder sie sogar erweitern.
Wenn man keine Machete hat, muss man sich eben nach einem Pfad durch den Dschungel umschauen.
Ob es das Gehirn ist oder die Leber: Alle Organe, die wir betrachtet haben, sind von solchen Kanälen durchzogen. Das Interstitium verläuft durch unseren gesamten Körper. Statt eines molekularen Prozesses – mithilfe von Enzymen – haben wir es also mit einem rein physikalischen Prozess zu tun. Anders ausgedrückt: Wenn man keine Machete hat, muss man sich eben nach einem Pfad durch den Dschungel umschauen und sich gegebenenfalls durch Engstellen hindurchschlängeln. Nur dass wir eben lange nicht wussten, dass es diese Pfade überhaupt gibt.
Marathonläufer verursachen Metastasen
Unsere Forschung ist einerseits ernüchternd: Wir konnten zeigen, dass sich Zellen – und damit auch Krebszellen – mehr oder weniger frei im Körper bewegen können. Weshalb es eine Illusion ist, das mit irgendwelchen Hemmstoffen verhindern zu wollen. Ich würde sogar behaupten, dass Zellmigration gar nicht aufzuhalten ist. Aber selbst diese Erkenntnis ist nützlich: Weil sie Therapiemöglichkeiten ausschließt und hoffentlich dazu führt, dass weniger Geld in Forschung gesteckt wird, die auf idealisierten Annahmen beruht. Wir schaffen mit unserer Forschung konzeptuelles Wissen, mit dem die Prioritäten neu gesetzt werden können.
Es gab viele Versuche, die Migration von Krebszellen therapeutisch zu stoppen, und bisher sind alle gescheitert. Unsere Forschung muss meines Erachtens zu einem neuen Ansatz führen: Wir müssen erst einmal herausfinden, warum eine Krebszelle zu wandern beginnt. Denn nicht alle tun das. Manche gehen allein auf Wanderschaft, einige im Verbund mit anderen Zellen. Und wenn wir diese wandernden Krebszellen nicht stoppen können, müssen wir herausfinden, wie sie mit sonstigen Mitteln beseitigt werden können. Wandernde Zellen sind in gewisser Weise in einem speziellen physischen und psychischen Zustand. Wenn wir wissen, was sie auf dieser Reise besonders und damit auch verwundbar macht, können wir sie angreifen und töten.
Man muss sich das so vorstellen, als würde man einem Bergsteiger auf dem Weg zum Mount Everest sein Sauerstoffgerät wegnehmen.
Ich nenne diese Zellen Marathonläufer, und wir versuchen, Medikamente zu entwickeln, die speziell solche Marathonläufer angreifen. In unserer Forschung hat sich herausgestellt, dass die wandernden Zellen robuster sind als andere. Sie müssen sich durch die Kanäle des Interstitiums drängen können und die gesamte Reise unbeschadet überstehen. Wir sollten also versuchen, diese Zellen softer und verletzlicher zu machen, damit sie die Reise nicht überleben. Man muss sich das so vorstellen, als würde man einem Bergsteiger auf dem Weg zum Mount Everest sein Sauerstoffgerät wegnehmen. Damit ließe sich die Chance massiv reduzieren, dass diese Person auf dem Gipfel ankommt.
Die Moral aus der Geschichte ist lehrreich: Hätten wir zehn Jahre früher gewusst, dass Krebszellen Highways durch den Körper nutzen, hätten wir vielleicht nicht die These aufgestellt, dass die Matrix-Metalloproteasen für Metastasen verantwortlich sind.
Die Wissenschaft hätte einen anderen Pfad eingeschlagen, einen besseren. Ich glaube deshalb, dass die Wissenschaft die Verantwortung hat, zurückzublicken und Fehler zu erklären. Wir müssen verstehen, warum etwas nicht funktioniert, obwohl wir prophezeit hatten, dass es funktionieren wird, und eine Menge Geld und Energie darin investiert haben. Wir sollten auch lernen, wie wir alternative Konzepte, sogenannte negative Daten, von vornherein miteinbeziehen.
Diese Strategie wird wichtig, wenn es gilt, neue Kombinationen von Medikamenten für die Tumortherapie zu entwickeln. Hier könnten dann auch Inhibitoren der Metalloproteasen einen neuen Frühling erleben und zur Bekämpfung metastatischer Krebszellen beitragen.
Conclusio
Ein Tumor bleibt oft nicht allein, Krebs hat die schlechte Angewohnheit, Metastasen zu bilden – und diese sind viel gefährlicher als die ursprüngliche Erkrankung. Eine große Frage ist deshalb seit jeher: Wieso wandern Krebszellen, und wie kann man es verhindern? Über viele Jahre war die These vorherrschend, dass sich Krebszellen quasi durch das Gewebe fressen. Es wurde versucht, ihnen diese Fähigkeit zu nehmen. Doch selbst als das gelang, wanderten sie weiter. Warum? Die Antwort liefert das Interstitium, ein Netz von Kanälen, die durch den gesamten Körper führen und erst in den vergangenen Jahren in den Fokus der Forschung gerückt sind. Auch Krebszellen nützen das Interstitium, um sich durch den Körper zu bewegen und Metastasen zu bilden.