Dann ist der Mensch ein Mensch

Nach den Frauen fordern immer mehr und immer kleinere Minderheiten Rücksicht auf ihre Be- und Empfindlichkeiten. Doch die Bedachtnahme auf möglichst alle Gruppen stößt an ihre Grenzen. Dabei könnte das Problem mit ein paar Prinzipien gelöst werden. 

Bogota, 2021: Eine Transgender-Frau während des internationalen Pride Day in Kolumbien
Bogota, 2021: Eine Transgender-Frau beim International Pride Day in Kolumbien. Transgender-Personen sind seit Jahrzehnten schwerer Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt, da sie als psychisch krank und/oder Sexualstraftäter dargestellt werden. Vielen wird die medizinische Grundversorgung verweigert, und sie sind weitaus häufiger von Gewalt betroffen als der Durchschnitt der Bevölkerung. © Getty Images

Allein die Leistung zählt. Mit dieser Begründung wehrten sich Männer in unseren Breitengraden jahrelang erfolgreich gegen Frauenquoten. Zwischenzeitlich wurden solche Quoten hier und dort eingeführt, und wo nicht, ging zumindest von der Diskussion über sie ein klares Signal aus: Frauen gehören überall hin, auch nach ganz oben. Sie sind heute, darüber schrieb ich vor einem Monat an dieser Stelle, selbstverständlicher Bestandteil der obersten Führungsebenen in Wirtschaft und Politik. Und sie sind zum ersten Mal so zahlreich, dass sie den jungen, ambitionierten Mädchen als unmissverständliches Zeichen dafür gelten, dass auch sie es so weit bringen können.

Mehr Ungleichheitsthemen

Längst aber geht es bei der Frage, wer in welchen Gremien und auf welcher Ebene angemessen vertreten sein muss, nicht mehr allein um Frauen. Alle „nichtweißen“ Menschen – im Diskriminierungsdiskurs kurz „PoC“ (People of Color) genannt –, Vertreterinnen und Vertreter jeglichen Geschlechts und sämtlicher möglichen sexuellen Orientierungen fordern ebenfalls ihren Platz. Das ist im Kern ebenso richtig wie problematisch – weist aber in seiner radikalen Auslegung vielleicht auch den Weg zu einer dauerhaften Lösung.

Richtig ist der Ruf nach Beachtung und Berücksichtigung ganz einfach deshalb, weil zu lange nur Männer, und global gesehen weiße Männer, die Machtpositionen unter sich ausmachten. Das war nicht nur ungerecht, sondern allein schon aus statistischer Sicht falsch, kann doch ein kleiner Ausschnitt einer Teilgruppe nie das gesamte Spektrum möglicher Talente und Kompetenzen einfangen und zur Entfaltung bringen.

Navajo-Mural in Arizona, das Probleme der Navajo-Minderheit benennt
Arizona, 2022: Gegen Indigene wird in den USA insbesondere in den Bereichen Gesundheitsversorgung und Gerichtsbarkeit diskriminiert. Dieses Graffiti auf einem verlassenen Gebäude im Navajo Reservat benennt vor allem die Probleme, die durch den jahrzehntelangen Uran- und Kohleabbau auf Navajo-Land entstanden sind. © Getty Images

Dass nun auch andere Gruppen, die sich benachteiligt sehen, nachziehen und auf ihre Rechte pochen, ist so gesehen folgerichtig. Sie verweisen überdies auf den prekären Umstand, dass es unseren noch so egalitär aufgestellten Bildungsinstitutionen immer noch nicht gelingt, schulischen Erfolg weitgehend herkunftsunabhängig zu ermöglichen – eine Schieflage, die sich mit fortschreitender Karriere verstärkt. Über die Frustration jener, die sich trotz großer Anstrengungen ihrer Ambitionen ohne nachvollziehbare Gründe beraubt sehen, darf man sich deshalb nicht wundern.

Allzu strikter Repräsentationszwang

Dennoch ist diese Entwicklung problematisch, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen verstehen sich immer mehr und vor allem kleinere Gruppen als Minderheit. Die möglichen Vertretungen, die damit bedacht werden müssten, sind schier nicht mehr zu leisten. In den meisten Gremien stößt man nun schon numerisch an Grenzen – es gibt gar nicht so viele Plätze wie Gruppen, die zu berücksichtigen wären. Und ein allzu strikter Repräsentationszwang kann am Ende tatsächlich auf Kosten der Qualität gehen: Hauptsache, die Vertreter stimmen.

Die zweite Problematik liegt darin, dass immer mehr „Minderheiten“ ihre spezifische Eigenheit nicht mehr nur durch objektive und unabänderliche Eigenschaften wie ethnische Abstammung, familiäre Herkunft oder sexuelle Orientierung begründen, sondern zunehmend auf spezifische Be- und Empfindlichkeiten zurückführen. Die Gefahr fehlenden Verständnisses oder falschen Umgangs ist damit allgegenwärtig. Wer kann schon wissen, wann und weshalb sich ein Gegenüber durch dieses oder jenes Verhalten missachtet oder verletzt fühlt? Nur „woke“ Menschen nehmen für sich in Anspruch, das jederzeit und überall zu erkennen.

Als Frau, nota bene eine, die verschiedenste Formen der subtilen Ausgrenzung erlebt hat, fällt mir der kritische Blick auf diese Entwicklung besonders schwer. Ich weiß zu gut, wie groß die Kluft zwischen subjektivem Empfinden und objektivem Verhalten sein kann und wie schmal der Grat zwischen schweigender Hinnahme und offener Rebellion. Die sich stets wiederholende Erfahrung ungerechter Beurteilung und mangelnder Fairness erfordert zuweilen übermenschliche Kräfte, wenn man nicht einfach aufgeben will. 

Empfindlichkeit erschwert den Umgang

Genau deshalb aber hoffe ich, dass die immer diffizilere Unterscheidung zwischen diesen und jenen Gruppen und Identitäten allmählich ihren Kulminationspunkt erreicht. Sie führt nicht nur an kein Ziel, denn Menschen werden sich immer unterscheiden, auf ebenso offensichtliche wie verborgene Weise. Auch verunmöglicht das Pochen auf immer spezifischere und gleichzeitig weniger offensichtliche Differenzen einen unbeschwerten Umgang miteinander, weil jedes Wort und jede Handlung als „Mikroaggression“ (miss-)verstanden werden kann.

Konsequent weitergedacht – und darin liegt für mich die mögliche Lösung, ja Auflösung – führt diese Entwicklung an den Punkt, an dem nicht nur potenziell, sondern ganz grundsätzlich jedes Individuum eine Minderheit für sich darstellt, die besonderen Umgang verlangt und rechtfertigt.

Wenn alle Menschen auf ihre spezifische Weise anerkannt und berücksichtigt werden, dann können wir auch einfach wieder Individuen vor uns sehen.

Spätestens an diesem Punkt wäre die Grenze der immer problematischeren Einbindung oder Ausgrenzung erreicht: Wenn alle Menschen auf ihre spezifische Weise anerkannt und berücksichtigt werden, dann können wir auch einfach wieder Individuen vor uns sehen, die sich in unendlich vielen Aspekten unterscheiden, aber allesamt das Recht haben, als solche respektiert zu werden. Dann wäre ein Mensch wieder ein Mensch – unabhängig von seiner Herkunft, Hautfarbe, Religion, seinem Geschlecht. Und dieser Mensch würde respektiert als das, was er ist. 

Umgekehrt aber – und das wäre die ebenso logische wie wünschbare Konsequenz – müssten alle das Ihrige dazu beitragen, eine Gruppe, eine Organisation, eine Institution zum Erfolg und den Planeten in eine bessere Zukunft zu führen. Sie müssten ihr Bestmögliches tun, und zwar unabhängig davon, woher sie kommen oder was sie gerade fühlen. 

Im Grunde genommen müssten wir uns dafür nur auf ein paar basale Werte und Verhaltensweisen verständigen, die da wären: Höflichkeit und Respekt, Offenheit und Ehrlichkeit sowie Fairness und Anerkennung. Sämtliche Menschen dieser Erde verdienen den Platz, der ihnen gebührt – und zwar ganz ohne Quote. 

Gleichzeitig dürfen wir nicht naiv sein: Dass autoritäre Regime diese Entwicklung der Gleichberechtigung zurückschrauben wollen, muss auch uns zu denken geben.

Aber dazu das nächste Mal.

Mehr von Katja Gentinetta

Newsletter abonnieren