Österreichs verlorene Fachkräfte

Österreichs Arbeitsmarkt bietet Migranten und Geflüchteten vor allem eines: bürokratische Schikane. Qualifizierte Zuwanderung kann aber nur dann gefordert werden, wenn auch die Rahmenbedingungen stimmen.

Asylbewerber bei einem TIschlerlehrgang in Berlin, 2015
Berlin, 2015: Asylbewerber aus dem Libanon, Gambia und dem Kosovo bei einem Handwerkskurs im Arrivo-Zentrum. Das Arrivo-Programm bietet auch Deutschunterricht und Unterstützung bei der Suche nach Lehrstellen und Berufsausbildungen – eine Unterstützung, die in Österreich vielerorts fehlt. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Migration. Österreich ist schon lange ein Einwanderungsland. Die vehemente Weigerung, das einzusehen, ist zum Schaden aller – Einheimischer und Zuwanderer.
  • Mangel. Fakt ist auch: Der österreichische Arbeitsmarkt würde vor düsteren Zeiten stehen, sollte die Zuwanderung aus dem Ausland radikal abnehmen.
  • Makel. Attraktiv ist Österreich als Einwanderungsland für qualifizierte Fachkräfte schon lange nicht mehr. Es herrscht zu viel Bürokratie, Skepsis und Ausgrenzung.
  • Handlungsbedarf. Es müssen nicht nur Reglementierungen, sondern auch die systemische Benachteiligung von Migranten auf dem Arbeitsmarkt abgebaut werden.

Lassen Sie uns mit einem Gedankenexperiment beginnen. Ein Arzt flieht aus einem Bürgerkriegsland, sagen wir Syrien, nach Österreich. Mangels legaler Fluchtwege ist er den gefährlichen und teuren Weg über die Balkanroute angetreten, hat hierzulande das monatelange Asylverfahren durchgestanden und es vielleicht auch schon geschafft, seine Frau und Kinder über Familienzusammenführung nachzuholen. Nun geht es an die Integration (durch Leistung!) und damit die Jobsuche.

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Man sollte meinen, dass die für einen gelernten Chirurgen bei dem aktuell stark ausgeprägten Fachkräftebedarf im österreichischen Gesundheitswesen ein Leichtes sein sollte. Klar, ein Mindestmaß an Deutsch wird nötig sein, um sich mit Kollegen und Patienten verständigen zu können, und wohl wird man den medizinischen Abschluss der Universität Damaskus zuerst mal in Österreich anerkennen lassen müssen, aber wie schwierig kann das schon sein? Nun, die Erfahrung und die verfügbaren Zahlen zu Nostrifikationsverfahren in Österreich zeigen: sehr.

Im Schnitt dauern Anerkennungsverfahren zwei Jahre, in reglementierten Branchen wie dem Gesundheitsweisen bis zu fünf. Während der ersten Corona-Welle wurden zwar Erleichterungen geschaffen, um etwaige Personalengpässe in Krankenhäusern abzufedern, etwa, dass Personen auch ohne abgeschlossenes Nostrifikationsverfahren bereits ihren Dienst versehen dürfen. Diese Ausnahmeregelung besteht bis heute, profitiert haben aber bisher nur wenige Fachkräfte davon. Aufgrund fehlender Bekanntheit, administrativen Unklarheiten, begrenzten Onboarding-Ressourcen in Spitälern, aber auch mangels Vertrauen in ausländische Abschlüsse.

Afghanischer Flüchtling in einer Rotkreuz-Unterkunft in Wien, 2016
Wien, 2016: Ein afghanischer Flüchtling, der sechs Jahre lang in den Spezialeinheiten der afghanischen Armee und als Übersetzer für die amerikanische Armee in Afghanistan gedient hat, in einer Notunterkunft des Roten Kreuzes. Er wartete auf den Ausgang seines Asylverfahrens. © Getty Images

In den Jahren 2015 und 2016, als tausende Geflüchtete aus Syrien, Irak, und Afghanistan kamen, hat dieses behäbige System dazu geführt, dass die Bestausgebildeten unter ihnen nicht in Österreich geblieben sind, sondern nach Deutschland weiterwanderten. Auch dort ist die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen alles andere als unbürokratisch, aber bei Weitem nicht so mühsam, langwierig und zermürbend wie hierzulande.

Österreichs Arbeitsmarkt

Dabei ist seit Jahren evident, dass der österreichische Arbeitsmarkt qualifizierte Zuwanderung braucht. Seit spätestens der 1960er-Jahre, als die ersten Gastarbeiterabkommen mit der Türkei und Jugoslawien geschlossen wurden, ist Österreich ein Einwanderungsland, was sich nicht zuletzt auch ökonomisch zeigt. Schon allein demographisch war es in den letzten Jahrzehnten fast ausschließlich der Zuwanderung aus dem Ausland, sowohl aus der EU als auch aus Drittstaaten, zu verdanken, dass ein massiver Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter verhindert werden konnte.

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Zahlen & Fakten

Noch vor der eigentlichen Anerkennung stellt derzeit aber schon die legale Einreise für Personen aus EU-Drittstaaten eine Herausforderung dar. Darauf wurde zuletzt mittels Reform der Rot-Weiß-Rot Karte reagiert, etwa indem das Bewilligungsverfahren beschleunigt und ein dauerhafter Arbeitsmarktzugang für Stamm-Saisonniers geschaffen wurden. Gesetzliche Hürden bei der Arbeitsvermittlung von Drittstaatsangehörigen sind vollends gestrichen, dafür werden nun mehr Sprachen als bisher im Punktesystem der Karte berücksichtigt, darunter Kroatisch, Serbisch und Bosnisch.

Bei all dem Reformeifer, den der rapide voranschreitende demographische Wandel anheizt, steht aber fest: Nur die formalen Hürden für den Zuzug zu senken, wird nicht reichen, um der Alterung der österreichischen Erwerbsbevölkerung zu begegnen, setzen sich doch die Barrieren, denen migrantische Arbeitskräfte in Österreich begegnen, auch nach Ankunft und Arbeitsaufnahme fort – und das vor allem im qualifizierten Bereich.

Das Qualifikationsparadox

Denn dort lässt sich eine wahrlich paradoxe Situation beobachten: Zwar wird seitens der Politik betont, bevorzugt qualifizierte Fachkräfte anwerben zu wollen, diese können ihre mitgebrachten Qualifikationen am österreichischen Arbeitsmarkt aber nicht immer einsetzen. Denn kaum eine andere Gruppe ist so massiv von Dequalifikation betroffen wie Migranten, arbeitet also (drastisch) unter ihren formalen Qualifikationen. Laut dem Wiener Diversitäts- und Integrationsmonitor sind allein in der Bundeshauptstadt 40 Prozent der Drittstaatangehörigen mit Maturaabschluss oder höher für ihren Job überqualifiziert.

Was bringt die qualifizierteste Zuwanderung, wenn sie nicht genutzt werden kann?

Rufe nach „qualifizierter Zuwanderung“ klingen in Anbetracht dieses Umstands schal, denn was bringt die qualifizierteste Zuwanderung, wenn sie nicht genutzt werden kann? In letzter Konsequenz schadet das der österreichischen Volkswirtschaft und dem Steuerzahler, sind schlechter bezahlte Jobs oder gar Hilfsarbeitertätigkeiten doch selten nachhaltig, anfälliger für schlechte konjunkturelle Lage und bringen weniger Steuereinahmen als qualifizierte Tätigkeiten.

Für die betroffenen Arbeits- und Fachkräfte bedeuten sie durchschnittlich höhere Gesundheitsbelastung, Befristung und unregelmäßige Arbeitszeiten. Zwar sind Migranten in den systemerhaltenden Branchen wie der Erntehilfe, der Pflege, dem Lebensmittelhandel und der Gebäudereinigung überrepräsentiert, halten also sprichwörtlich das Land am Laufen, doch finden sie durch ihr Einkommen seltener ein Auskommen als einheimische Angestellte: Eine neue Studie von SORA zeigt, dass 13 Prozent der Migranten in Österreich von ihren Jobs nicht leben kann. Sie zählen zu den sogenannten „working poor“.

Zwei Frauen aus Jordanien und Syrien bei einer Jobmesse für Migranten und Geflüchtete, Berlin 2017
Berlin, 2017: Zwei Frauen aus Jordanien und Syrien informieren sich auf der zweiten jährlichen Jobmesse für Flüchtlinge und Migranten im Estrel Hotel und Konferenzzentrum über Jobmöglichkeiten. Die Initiative bringt Unternehmen aus dem Einzelhandel, der Dienstleistungsbranche, dem produzierenden Gewerbe, Arbeitsagenturen und anderen Branchen zusammen, die Migranten und Flüchtlinge einstellen wollen. © Getty Images

Besonders betroffen sind migrierte Frauen. Sie weisen eine noch höhere Teilzeitquote auf als einheimische Frauen, arbeiten häufig in prekären Verhältnissen und haushaltnahen Tätigkeiten. Der Mismatch zwischen mitgebrachten Qualifikationen und ausgeübter Tätigkeit ist unter ihnen besonders eklatant: Das Klischee der promovierten iranischen Biochemikerin, die als Reinigungskraft in Österreich arbeitet, mag zwar nicht den Regelfall darstellen, kommt aber öfter vor, als man meinen mag.

Informelle Hürden

Formale Hürden, allen voran langwierige Anerkennungsverfahren, können aber nur einen Teil dieses Mismatch erklären. Denn es gibt zahlreiche Berufsfelder, die, anders als der Gesundheits- oder Bildungsbereich, nicht reglementiert sind, das heißt, Arbeitskräfte einsetzen können, ohne dass vorab deren Abschlüsse aus dem Ausland formell anerkannt werden müssen. Dazu zählen der IT-Sektor, technische Berufe oder Jobs, für die ein betriebswirtschaftlicher Abschluss verlangt wird – also allesamt Branchen, die einen zunehmenden Mangel an Arbeitskräften aufweisen. Dennoch gelingt es vielen Migranten auch dort nicht, Fuß zu fassen.

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Zahlen & Fakten

Neben fehlenden Deutschkenntnissen und der diesbezüglich starren Haltung vieler Arbeitgeber ist dieser Umstand auch auf Diskriminierung am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft zurückzuführen. Studien, wonach Bewerber mit österreichisch klingenden Namen bis zu dreimal häufiger zu Vorstellungsgesprächen geladen werden als Menschen mit einem „ausländischen“ Namen, belegen das immer wieder. Auch die Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Statistik Austria für das Jahr 2021 zeigt: Etwa 25 Prozent der im Ausland geborenen Erwerbssuchenden im arbeitsfähigen Alter waren bei ihrer Suche mit Barrieren konfrontiert.

Acht Prozent aller ausländischen Arbeitskräfte hat in der Arbeitsstelle Diskriminierung erlebt. Dazu zählt Mobbing, Ausgrenzung und üble Nachrede, wodurch der Job auf Dauer zur Belastung wird. Dies ist gerade in Branchen mit mittlerer bis hoher Qualifikation, die einen steigenden Arbeitskräftebedarf bei gleichzeitig hoher Drop-Out-Quote verzeichnen – allen voran der Pflege – ein fataler Umstand. Hier fehlt es an politischem Bewusstsein genauso wie an gesellschaftlicher Diversitätskompetenz in einem Einwanderungsland, das sich in konstanter Selbstverleugnung befindet, wie der der Migrationsforscher Rainer Bauböck kürzlich feststellte.

Verpasste europäische Chance

Ähnlich unverständlich ist vor diesem Hintergrund, dass auch beim letzten Migrationsgipfel in Brüssel das Thema Arbeitskräftebedarf und Zuwanderung fast gänzlich ausgespart wurde. Weder die Anpassung der Kriterien für die europäische Blue Card noch Rezepte gegen eine schrumpfende Bevölkerung, wie Ausbildungspartnerschaften oder Abbau formaler Hürden für qualifizierte Fachkräfte, wurden diskutiert.

Es fehlt an politischem Bewusstsein genauso wie an gesellschaftlicher Diversitätskompetenz.

Wenn aber laut Schätzungen im Jahr 2070 die EU-Bevölkerung im Erwerbsalter bei gerade noch 55 Prozent liegen wird, dann ist das die eigentliche Krise, über die die Staats- und Regierungschefs sprechen sollten. Neben dem Prinzip der Einstimmigkeit, das die Union in punkto Migration von jeher behindert, bleibt ein Grundübel die Ressortzuständigkeit: Migration fällt in den Verantwortungsbereich der EU-Innenminister, betrifft aber längst die Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktagenden der Mitgliedsstaaten.

Solange Migration auf europäischer Ebene, aber auch innerhalb Österreichs nicht dort diskutiert und ganzheitlich gesteuert wird, werden qualifizierte Zuwanderer noch lange hinter ihrem Potenzial zurückbleiben – oder vielleicht gar nicht erst kommen.

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Conclusio

Österreich ist ein Einwanderungsland, aber kein sonderlich attraktives – insbesondere für jene hochqualifizierten Zuwanderer, die man vorgibt, ins Land holen zu wollen. Der zweifelsohne zeitgemäße Ruf nach qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland muss geradezu verhallen, wenn die notwendigen Gegebenheiten für deren barrierefreien Berufsstart in Österreich nicht gegeben sind. Formale wie informelle Hürden müssen abgebaut werden, etwa in Form schnellerer Zulassungsverfahren, aber auch durch eine aktive Thematisierung von Ausländerfeindlichkeit und systemischer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Es wird Zeit, dass Österreich einsieht, ein Einwanderungsland zu sein – und anfängt, sich auch entsprechend zu verhalten.

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