Ausländer raus? Nein, Ausländer rein!

Für zigtausende Stellen fehlt das  Personal. Unser Wohlstand lässt sich nur mit  qualifizierter Zuwanderung verteidigen. Doch arbeitswillige Migranten stehen vor teilweise unüberwindbaren Hürden.

Illustration einer qualifizierten Migrantin, die eine riesige Hürde für den Empfang in Österreich überwinden muss
Warum so schwer, wenn es auch viel einfacher geht? © Stephan Rürup
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Auf den Punkt gebracht

  • Krise. Der Mangel an Fachkräften wird immer offensichtlicher: Es fehlt an Kellnern, Dachdeckern, Krankenpflegern, Lehrern und Programmierern.
  • Leerstelle. Die Babyboomer gehen in Pension, auf dem Arbeitsmarkt herrscht Ebbe. Das Problem wird sich nur mit Hilfe von auswärts lösen lassen.
  • Eigenschuld. Doch für viele qualifizierte Ausländer ist Österreich keine Option. Der Ruf der Fremdenfeindlichkeit hat sich herumgesprochen.
  • Lösungswege. Die unzähligen und in der Mehrzahl unnötigen bürokratischen Hürden tun ihr übriges – und müssen schleunigst abgebaut werden.

Gasthöfe haben nur noch ein paar Tage in der Woche geöffnet oder geben den Betrieb überhaupt auf. In manchen Pflege­heimen und Spitälern sind ganze Abteilungen gesperrt. Wer das Dach seines Hauses neu decken oder die Wohnung ausmalen lassen möchte, wartet monatelang auf die Handwerker: Österreich gehen die Arbeitskräfte aus. So gut wie jeder hat das Problem in seinem privaten oder beruflichen Umfeld schon bemerkt. Für Teile der Wirtschaft ist der Mangel längst geschäftsschädigend; viele Unternehmer geben an, dass sie Aufträge ablehnen oder die Produktion drosseln müssen, weil sie offene Stellen nicht besetzen können.

Mehr zum Thema Fachkräftemangel

Noch vor ein paar Jahren stöhnten Österreich und die meisten anderen Länder Europas unter steigenden Arbeitslosenzahlen. Experten prognostizierten, dass es bald noch schlimmer kommen könnte, weil die Digitalisierung immer mehr menschliche Arbeitsplätze ersetzen werde. Eingetreten ist genau das Gegenteil.

Daraus zu schließen, dass sich der Personalmangel – wie die Arbeitslosigkeit – von selbst auflösen wird, wäre aber ein fataler Irrtum. Allein die demografische Entwicklung werde dafür sorgen, dass es bis 2030 etwa 100.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter weniger geben wird als heute, sagt der Ökonom Martin Halla von der Johannes Kepler Universität in Linz.

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Zahlen & Fakten

Das verschärft den bereits vorhandenen Arbeitskräftemangel: Laut Wirtschaftskammer ist die Zahl der offenen Stellen im Vorjahr um gut 41 Prozent auf 206.500 angestiegen. Mit dem österreichischen Arbeitskräfte­angebot allein wird sich die Lücke nicht füllen lassen.

Wir brauchen also Hilfe von auswärts. Ohne qualifizierte Zuwanderung lässt sich weder der heimische Wohlstand verteidigen noch das Pensionssystem finanzieren. Darin sind sich die meisten Fachleute einig. Das Problem ist nur, dass ganz Europa dringend Arbeitskräfte sucht. Österreich muss reisewilligen Talenten etwas bieten, um gegen die internationale Konkurrenz zu punkten. Daran hapert es leider.

Die 2011 eingeführte Rot-Weiß-Rot-Karte etwa, mit der Fachkräfte von außerhalb der EU nach Österreich geholt werden sollen, war bisher ein Flop. Nur 7.080 Personen hatten Anfang 2023 eine solche Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung. Das genügt bei weitem nicht, um den enormen Bedarf zu decken. Gefragt ist nicht weniger als eine neue Willkommenskultur.

Stecken wir in der Krise?

Die Wirtschaft leidet unter hoher In­flation, steigenden Zinsen, den Folgen des Ukraine-Kriegs und einem Mangel an Arbeitskräften.

Im Winterquartal 2022 schrumpfte Österreichs Wirtschaft leicht und stagniert seither. Die unmittelbaren Ursachen sind bekannt: Russlands Angriff auf die Ukraine, hohe Inflation und die Rosskur der Notenbanken mit steigenden Zinsen würgen die eben noch muntere Konjunktur ab.

Doch in einer Sache unterscheidet sich die aktuelle Flaute von früheren Wirtschaftseinbrüchen: Die Arbeitslosigkeit lag mit 7 Prozent (Februar 2023) tiefer als kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie (Februar 2020), als 8 Prozent der Erwerbsfähigen in Österreicher keinen Job hatten. Seither ist die Arbeitslosigkeit weiter zurückgegangen.

Wer derzeit eine Stelle sucht, hat Glück: Fast in jeder Branche kann man mit etwas Geschick mehr Geld oder andere Goodies aushandeln. Auch der Weg in die Selbständigkeit ist leichter geworden. Doch für die Volkswirtschaft ist der Mangel an Mitarbeitern eine schwere Belastung, die uns mittelfristig alle ärmer machen kann.

Gehen uns die Leute aus?

Die Bevölkerung wächst, die Zahl der Beschäftigten könnte bis 2030 jedoch deutlich schrumpfen.

Heimische Betriebe brauchen zusätzliche Arbeitskräfte. Dabei geht es nicht nur um Cyber-Security-Experten und Uni-Professoren, sondern auch um Pflegekräfte, Elektriker, Köche, Fräser, Bäcker, Logistiker und viele andere mehr. Die Lage wird sich weiter zuspitzen: Allein die Stadt Wien, der größte Arbeitgeber des Bundeslandes, wirbt um tausende Mitarbeiter. Denn bis 2030 werden rund 21.000 Jobs nach Pensionierungen neu zu besetzen sein, verkündete das Rathaus jüngst.

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Zahlen & Fakten

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Die Wirtschaftskammer rechnet vor, dass von den derzeit rund 3,9 Millionen Beschäftigten bis 2040 jeder Dritte in Pension gehen wird. Die nachfolgende Generation kann diesen Abgang – mangels Masse – nicht kompensieren. Wie in allen Industrienationen sinken auch in Österreich die Geburtenraten seit Jahrzehnten. Ohne Zuwanderung wäre die Bevölkerung bereits stark geschrumpft.

Interessanterweise ist die im Fokus stehende Baby-Boomer-Generation, die jetzt in Pension geht, historisch gar kein Einzelfall. Was die heute 60- bis 65-Jährigen besonders macht, ist lediglich der Umstand, dass sie die bis dato letzte geburtenstarke Kohorte stellen.

Im 20. Jahrhundert gab es drei Phasen mit besonders starken Jahrgängen: nach dem Ersten Weltkrieg (1920 bis 1922), nach dem Anschluss von Österreich an Deutschland (1939 bis 1941) und mit etwas Verzögerung nach dem Zweiten Weltkrieg (von ca. 1960 bis 1965). Mitte der 1960er-Jahre bekam jede Frau im Schnitt noch über 2,6 Kinder. Anfang der 1970er-Jahre sank die Geburtenrate unter den Schwellenwert von 2,1, bei dem die Bevölkerungzahl stabil bleiben würde. Seit etwa vier Jahrzehnten verharrt die Geburtenrate bei rund 1,4 Kindern pro Frau.

Somit verlässt die letzte Baby-Boomer-Generation derzeit schrittweise den Arbeitsmarkt. Bei Frauen begann dieser Prozess aufgrund des niedrigeren Pensionsantrittsalters bereits im Jahr 2020, bei Männern startete er im Vorjahr. Wir stehen also am Anfang dieser gesellschaftlichen Umschichtung von aktiv Beschäftigten zu Pensionisten. Obwohl dank Zuwanderung laut Prognose der Statistik Austria bis zum Jahr 2030 rund 9,36 Millionen Menschen in Österreich leben werden, sinkt die Zahl der 20- bis 65-Jährigen.

Die Folge: Auf dem Arbeitsmarkt werden die Baby-Boomer von einer Generation ab­gelöst, die zahlenmäßig deutlich kleiner ist. Dem Arbeitsmarkt und damit dem Sozial­versicherungssystem gehen allmählich die Leute aus.

Säuglingsstation in Hamburg 1963
Hamburg, 1963: Auch in Deutschland machte sich der Babyboom der Nachkriegsjahre bemerkbar. © Getty Images

Gibt es noch Reserven auf dem Arbeitsmarkt?

Mütter und ältere Beschäftigte könnten mehr arbeiten, sind aber schwer zu mobilisieren.

Derzeit gibt es zwei Gruppen in Österreich, die man noch für den Arbeitsmarkt gewinnen könnte. Der Anteil an Erwerbstätigen fällt sowohl bei Männern als auch bei Frauen ab dem Alter von 55 deutlich ab. Hier wäre also noch Potenzial vorhanden. Allerdings wirken Reformen, die etwa das faktische Pensionsantrittsalter erhöhen – Frauen gehen mit 60 Jahren in den Ruhestand, Männer mit 62 –, nur mit Verzögerung.

Die zweite Gruppe, die theoretisch mehr Stunden einer Beschäftigung nachgehen könnte, sind (junge) Mütter, die überwiegend nur in Teilzeit arbeiten. Wie die Erfahrung zeigt, sind beide Bevölkerungsgruppen nur schwer für den Arbeitsmarkt zu mobili­sieren.

Eines ist gewiss: Mütter würden eher einen Job suchen oder ihr Arbeitspensum erhöhen, wenn es eine bessere Kinderbetreuung gäbe, sagt Monika Köppl-Turyna, Direktorin des Wirtschaftsforschungsinstituts EcoAustria: „Aus bildungspolitischer und volkswirtschaftlicher Sicht ist der Ausbau hochqualitativer Elementarpädagogik von enormer Bedeutung.“

Das allein werde aber nicht reichen, betont die Ökonomin. Denn fast 60 Prozent der Frauen, deren jüngstes Kind älter als 15 Jahre ist, arbeiten immer noch Teilzeit. Das lasse sich kaum mit einem Mangel an Kindergartenplätzen, Krippen oder Ganztagsschulen erklären. Ab einem Alter von circa 45 Jahren ist der von Frauen in Teilzeit am häufigsten genannte Grund schlicht: „keine Vollzeittätigkeit gewünscht“.

Wenn die eigene Arbeit Früchte trägt, steigt auch die Bereitschaft, die Erwerbstätigkeit auszudehnen.

Monika Köppl-Turyna (Ökonomin)

Auch dafür gibt es strukturelle Gründe, sagt die Expertin: Eine Kombination aus steuerlichen Anreizen, Pensions­ansprüchen des Partners und staatlichen Leistungen macht es für viele Zweit­verdiener unattraktiv, mehr zu arbeiten. Ganz allgemein geht der Trend in Richtung mehr Freizeit. So ist die durchschnittliche Arbeitszeit der Männer in Österreich von 39,5 Stunden im Jahr 2004 auf 33,7 Stunden im Jahr 2021 gesunken.

Das könnte auch damit zusammenhängen, dass angesichts hoher Steuern und heftiger Inflation immer mehr Menschen die Perspektive fehlt. Der Kauf eines Eigenheimes etwa ist für viele keine realistische Option. „Wenn die eigene Arbeit Früchte trägt, steigt auch die Bereitschaft, die Erwerbstätigkeit auszudehnen“, schließt Köppl-Turyna.

Selbst wenn es gelänge, die Österreicher zu Mehrarbeit zu motivieren, würde das den Bedarf an Arbeitskräften nicht decken. Das geht nur mit qualifizierter Zuwanderung.

Wo arbeiten heute schon viele Ausländer?

Zuwanderer arbeiten vor allem im Handel, der Hotellerie und Gastronomie sowie im Baugewerbe.

Ein Fünftel der heimischen Bevölkerung hat keinen österreichischen Pass. Von diesen rund 1,8 Millionen Menschen leben die meisten – nämlich knapp 40 Prozent – in Wien, wie der jüngste Bericht des Österreichischen Integrationsfonds zeigt. Doch in der Hauptstadt ist die größte „Branche“ immer noch der öffentliche Dienst, wo relativ wenige Menschen mit Migrationshintergrund beschäftigt sind. Einer Auswertung des AMS Ende letzten Jahres zufolge sind von den 113.000 Arbeitnehmern in der Wiener Verwaltung nur 13 Prozent Ausländer.

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Zahlen & Fakten

Internationale Auszubildende vor der Spar-Akademie Wien
An der Spar-Akademie in Wien werden Lehrlinge für die Supermarktkette ausgebildet. Doch es geht nicht bloß um berufliche Fertigkeiten. Gesprochen wird auch über Religion, Bräuche und Politik. © SPAR AG/Werner Krug, 2022

Ausländeranteil in österreichischen Unternehmen

  • Spar: 50.000 Mitarbeiter, ca. 25 Prozent Ausländeranteil. Die Supermarktkette ist der größte private Arbeitgeber ­Österreichs.
  • ibis Hotels: 89 Mitarbeiter, 60 Prozent Ausländeranteil. In der Beherbergung und der Gastronomie ist die Abhängigkeit von ausländischen Mitarbeitern am größten.
  • TU Wien: 5.661 Mitarbeiter, 29 Prozent Ausländeranteil. Die Technische Universität bildet die mitunter gefragtesten Absolventen der MINT-Fächer aus.
  • AKH Wien: ca. 7.300 Mitarbeiter, 23 Prozent Ausländeranteil. Ohne Ärzte mitzurechnen (die an der MedUni Wien angestellt sind), kommt fast ein Viertel des Krankenhauspersonals aus dem Ausland.
  • McDonald’s: 9.600 Mitarbeiter, 75 Prozent Ausländeranteil. Insgesamt arbeiten in der Fastfoodkette 9.600 Personen, in den selbst geführten Restaurants sind es mehrheitlich Ausländer.
  • Grazer Müllabfuhr: 191 Mitarbeiter, 4 Prozent Ausländeranteil. Nicht überall ist man auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen, wie die Grazer Müllabfuhr belegt.

In den meisten anderen Bereichen ist der Anteil der Nicht-Österreicher deutlich höher: Von rund 100.000 Beschäftigten im Handel sind etwa 40.000 Ausländer. Im Gastgewerbe ist der Anteil der Nicht-Österreicher mit über 60 Prozent am höchsten, gefolgt vom Bau mit 57 Prozent. Insgesamt sind mehr als ein Drittel der Wiener Beschäftigten Zuwanderer. Ohne sie würde die lokale Wirtschaft kollabieren. In den Bundes­ländern liegt der Anteil der ausländischen Bevölkerung zwischen knapp 14 Prozent in Oberösterreich und lediglich 2 Prozent im Burgenland.

Was wurde aus den Gastarbeitern von einst?

Vor 60 Jahren wurden gezielt Arbeitskräfte im Ausland angeworben. Die meisten dieser Menschen sind in Österreich geblieben.

Anders als heute herrschte in den Sechzigerjahren Aufbruchstimmung in Österreich. Die Zuversicht der Menschen lässt sich nicht nur an den hohen Geburtenraten ablesen, sie spiegelt sich auch in der brummenden Wirtschaft wider. Zwischen 1950 und 1973 verdreifachte sich die Wirtschaftsleistung pro Kopf – ein historisch einzigartiger Boom.

Österreichische Touristen auf der Bellevue Alm, 1955
Österreich, 1955: Dank des Wirtschaftswachstums war Urlaub auf der Alm für viele bereits wieder eine Option. © Getty Images

Auto, Waschmaschine und TV wurden vom Luxusgut zur Massenware. Die Automatisierung war freilich noch nicht weit vorangeschritten, Betriebe brauchten viel mehr Leute, die anpackten, auch wenn sie keine spezielle Ausbildung hatten. Deshalb wurden Abkommen mit süd- und südosteuropäischen Staaten ausverhandelt, um Arbeitskräfte anzuwerben: Mit der Türkei und mit Jugoslawien kam es in den Jahren 1964 beziehungsweise 1966 zu erfolgreichen Abschlüssen.

Österreich richtete in beiden Ländern eigene Anwerbebüros ein, und es folgte ein beträchtlicher Zustrom türkischer und jugoslawischer Arbeitskräfte. Im Jahr 1961 gab es nur 271 Einwohner mit türkischer und 4565 mit jugoslawischer Staatsbürgerschaft. Bis 1971 stiegen diese Zahlen um das 60- beziehungsweise 20-fache auf rund 16.400 und 93.000 Menschen an.

Wie prägten Gastarbeiter die weitere Zuwanderung?

Frühere Migranten ziehen Zuwanderer aus den gleichen Regionen mit ähnlicher Qualifikation an.

Die ursprüngliche Anwerbung von Gastarbeitern ist mehr als ein halbes Jahrhundert her und beeinflusst die Zuwanderung nach Österreich bis heute. Die meisten Gastarbeiter wurden dauerhaft sesshaft und wirkten „wie ein Magnet für weitere Migranten gleicher Herkunft beziehungsweise ethnischer oder sprachlicher Zugehörigkeit“, so Halla. Soziale Netzwerke helfen bei der Wohnungs- und Jobsuche, sie bieten aber zudem auch psychologische Unterstützung. Es ist somit nicht verwunderlich, dass auch lange nach der Anwerbung von Gastarbeitern die meisten Zuwanderer in Österreich aus (dem ehemaligen) Jugoslawien und der Türkei kamen.

Wiener Schüler beim Pflanzen von Bäumen, 2022
Wien, 2022: Die Vielfalt der österreichischen Gesellschaft spiegelt sich schon lange in den Klassenzimmern wider. Hier pflanzen Schüler und Schülerinnen einer Volksschule einen Mini-Wald im Stefan-Weber-Park. © Getty Images

Migranten aus beiden Regionen haben jedoch bis heute einen vergleichsweise niedrigen Bildungsgrad. Während in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund der Anteil von Menschen nur mit Pflichtschulabschluss bei 9 Prozent liegt, beträgt er bei Zuwanderern aus dem ehemaligen Jugoslawien 28 Prozent und bei jenen aus der Türkei 55 Prozent.

„Der durchschnittliche Bildungsgrad hat sich zwar in späteren Jahrgängen im Vergleich zur ersten Generation merklich erhöht, ist aber noch immer signifikant unter jenem der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund und auch unter jenem der Zuwanderer aus EU-Mitgliedsstaaten“, sagt Halla und betont: „Für eine erfolgreiche Erwerbskarriere wird der Bildungsgrad immer entscheidender.“

Welche Arbeitskräfte brauchen wir überhaupt?

An ungelernten Hilfskräften besteht kein Mangel. Österreich sucht mehr höher qualifizierte Zuwanderer als früher.

Als Erntehelfer oder zum Bauschutträumen braucht man eine gute Konstitution, aber keine langjährige Ausbildung. Doch bei den meisten Jobs sieht es heute anders aus. Sechs von zehn offenen Stellen im Jahr 2022 verlangen von den Bewerbern eine weiterführende oder höhere Ausbildung. Die Folge: Unter Menschen, die maximal einen Pflichtschulabschluss haben, ist fast jeder vierte arbeitslos. Das liegt weit über der allgemeinen Arbeitslosenquote. Diese Gruppe macht nur rund ein Sechstel der erwerbsfähigen Bevölkerung aus, aber fast die Hälfte der Arbeitslosen.

Frankfurt am Main, 2023: Irina Ushakova, eine Krankenschwester aus der Ukraine, sortiert neben Bahiya Moutiai, Pflegedienstleiterin im GDA Wohnstift Frankfurt am Zoo, die Medikamente für einen Bewohner.
Frankfurt am Main, 2023: Irina Uschakowa ist ausgebildete Krankenschwester und musste aus der Ukraine fliehen. Bahiya Moutiai, Pflegedienstleiterin im GDA Wohnstift Frankfurt am Zoo, kontrolliert ihre Arbeit. Im Pflegesektor herrscht in Deutschland wie auch in Österreich eklatanter Personalmangel. © Getty Images

Die Situation dürfte sich verschlechtern: „Es ist davon auszugehen, dass der österreichische Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren einen hohen zusätzlichen Bedarf an qualifizierten und hoch qualifizierten Arbeitnehmern haben wird. Die Nachfrage nach Mitarbeitern ohne höhere Bildungsabschlüsse wird vermutlich aus der derzeitigen Wohnbevölkerung gedeckt werden können. Aus ökonomischer Sicht braucht Österreich zur Bewältigung der demografischen Krise somit vor allem (hoch)qualifizierte Zuwanderer“, ist Martin Halla überzeugt.

Es macht volkswirtschaftlich also einen enormen Unterschied, welche Zuwanderer im Rahmen großer Migrationsbewegungen nach Österreich kommen. Und ob es künftig gelingen wird, international Talente anzuwerben.

Was zieht qualifizierte Einwanderer an?

Einfacher Zugang, Chancen und be­stehende Netzwerke sind für Auswan­derer entscheidend.

Die Politik hat zwei Hebel, um Zuwanderer anzuwerben: Zum einen kann sie den gesamten Antragsprozess für eine Arbeitserlaubnis radikal vereinfachen, verkürzen und einladend gestalten. Notwendig wäre ein rein digitales Verfahren, das die administrativen Kosten für Interessenten niedrig hält.

Zweitens brauchen Zuwanderer die Perspektive, sich etwas aufbauen zu können. Populäre Zielländer wie die USA, Großbritannien oder Australien, aber durchaus auch Länder mit gutem Sozialsystem wie Neuseeland, Schweden, die Schweiz und Kanada gelten weltweit als Chancengesellschaften. Überspitzt gesagt: Dort ist jeder seines eigenen Glückes Schmied.

Jacinda Ardern umarmt eine Frau im Mangere Refugee Resettlement Centre, die Angehörige bei dem Terroranschlag in Christchurch 2019 verloren hat
Auckland, 2019: Die ehemalige Premierministerin Neuseelands, Jacinda Ardern, spendet einer Frau im Mangere Refugee Resettlement Centre Trost, die Enkel- und Schwiegersohn bei dem Terroranschlag in Christchurch verloren hatte. Arderns feinfühliger Umgang mit den Angehörigen war stellvertretend für ihre Politik der Empathie und die neuseeländische Willkommenskultur. © Getty Images

Die Qualität der verfügbaren Arbeitsplätze sowie das Lohn- und Preisniveau spielen eine wichtige Rolle, sagt Ökonom Halla. Allerdings habe die Forschung klar gezeigt, dass Lohn­unter­schiede nicht ausreichen, um internationale Migrationsströme zu erklären: Die Menschen berücksichtigen in ihrer Entscheidung auch Aspekte wie die Distanz zum Heimatland oder andere Eigenschaften des Ziellandes, etwa soziale Sicherheit, bereits vorhandene Netzwerke und nicht zuletzt auch den Umstand, wie frei sie ihre kulturelle Identität leben können.

Wie attraktiv ist Österreich für Talente?

Österreich ist als Destination für Fachkräfte im Vergleich zu anderen Staaten weniger begehrt als früher.

Das „Talent Attractiveness“-Maß der OECD bewertet die Attraktivität von 38 Industriestaaten aus der Sicht von hoch qualifizierten Arbeitnehmern anhand verschiedener Kriterien wie Jobqualität, Steuern, Ausbildungsmöglichkeiten, Familienfreundlichkeit und auch Gastfreundschaft. Österreich rangiert hier in allen Punkten (mit Ausnahme des „Familienlebens“) im Mittelfeld oder darunter. Bei der aktuellsten Erhebung im heurigen Jahr rutschte Österreich innerhalb der OECD-Länder gleich um 8 Ränge auf Platz 26 ab.

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Zahlen & Fakten

In der Kategorie „Einkommen“ leidet Österreich unter der sehr hohen Steuer- und Abgabenquote. „Die Politik könnte hier gezielt mit gut kommunizierten und zeitlich befristeten Steuererleichterungen für Zuwanderer mit bestimmten Qualifikationsprofilen entgegenwirken“, schlägt Halla vor. Zum Beispiel müssen in Schweden ausländische Schlüsselkräfte auf ein Viertel ihres Einkommens keine Steuern zahlen.

Dabei argumentiert das skandinavische Land nicht nur mit dem Bedarf der Wirtschaft, sondern weist auch darauf hin, dass viele der zugezogenen Fachkräfte bisher nicht im gleichen Maße die Vorteile des Wohlfahrtsstaates genießen konnten. So wurde zum Beispiel deren Ausbildung in der Regel woanders absolviert und bezahlt.

Wie gastfreundlich ist Österreich?

Österreich hat als Zielland nicht das beste Image. Für sonderlich nett hält man uns leider nicht.

Ob hoch qualifizierte Zuwanderer zu uns kommen – und vor allem, ob sie hier bleiben –, hängt auch davon ab, wie sie von der einheimischen Bevölkerung aufgenommen werden. Aber welchen Ruf hat das Land? Was über die Staatsgrenzen hinaus bekannt ist: Die Freiheitliche Partei hat immer wieder mit ausländerfeindlichen Parolen erfolgreich um Wähler gebuhlt. Mittlerweile gibt es zwar in fast jedem europäischen Land und im EU-Parlament migrations­skeptische politische Bewegungen am rechten Flügel, aber Österreich hat sich als Vorreiter wohl einen gewissen internationalen Ruf geschaffen.

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Zahlen & Fakten

Doch laut dem OECD-Maß zur „Inklusion“ – es umfasst neben der Akzeptanz von Ausländern auch Geschlechter­gerechtigkeit – sind die Österreicher kein arger Ausreißer, sondern liegen im Mittelfeld. Wie gastfreundlich Österreich im Vergleich zu anderen Ländern ist, kann man anhand von Befragungen erahnen, sagt Halla: „Im Rahmen des ‚World Values Survey‘ werden Menschen weltweit befragt, welche Personengruppen sie lieber nicht als Nachbarn haben möchten. In Österreich sind Migranten vergleichsweise oft unerwünscht. In traditionellen Einwanderungsländern wie den USA oder Großbritannien ist das anders; die einheimische Bevölkerung zeigt sich dort viel aufgeschlossener.“

Untersuchungen belegen zudem, dass Bewerber mit österreichisch klingenden Namen bis zu dreimal häufiger zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden als Kandidaten mit fremd klingenden Namen.

Keine Angst vor Fachkräften

Die Forschung hat in den letzten Jahren relativ klar herausgearbeitet, wie stark das Thema Migration politische Gleichgewichte beeinflusst, so der Experte: „Die meisten Studien zeigen, dass mehr Zuwanderung die Stimmenanteile für rechtspopulistische Parteien erhöht. Laut einer aktuellen Unter­suchung in Österreich lässt sich im Zeitraum zwischen 1979 und 2013 rund ein Zehntel der FPÖ-Wahlergebnisse mit Aus­wir­kungen der Migration erklären.“

Anti-Rassismus- und Islamophobie-Protest in Wien, 2019
Anti-Rassismus- und Islamophobie-Protest in Wien, 2019. Im Vorjahr hatten die FPÖ in Koalition mit der ÖVP ein Kopftuchverbot in Volksschulen und Kindergärten durchgesetzt. © Getty Images

Im Kontext der gegenwärtigen Diskussion nennt Martin Halla ein spannendes Detail: „Die FPÖ profitierte ausschließlich vom Zustrom schlecht qualifizierter Zuwanderer. Immigranten mit höherer Bildung brachten der Rechtspartei keine Zuwächse.“

Das Anwerben von gut ausgebildeten Arbeitskräften aus dem Ausland wäre demnach kein Thema mit sonderlich viel Streit- und Aufregungspotenzial. Umso weniger ist verständlich, dass die Politik nicht längst den roten Teppich für Fachkräfte aus aller Welt ausgerollt hat. Eine mögliche Erklärung ist, dass die Debatte rund um Geflüchtete andere Migrationsthemen verdrängt. Die große Zahl an Asylwerbern in den vergangenen Jahren hatte nämlich auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.

Wer kam in den letzten Jahren nach Österreich?

In den Jahren 2015 und 2022 kamen jeweils über 200.000 Einwanderer, hauptsächlich Flüchtlinge. Die meisten sind im erwerbsfähigen Alter.

Die Kriege und Konflikte in Syrien, Afghanistan und zuletzt in der Ukraine haben Abermillionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Wer von ihnen in Österreich Asyl bekommt, hängt natürlich nicht von der jeweiligen Qualifikation ab. Doch Asylberechtigte erhalten sinnvollerweise den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt wie Einheimische. Asyl und Arbeitsmigration müssen somit immer zusammen gedacht werden.

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Zahlen & Fakten

Der renommierte Migrationsexperte Rainer Münz hat sich für den Pragmaticus angeschaut, wer in den vergangenen sieben Jahren nach Österreich kam, wer blieb, und wer Arbeit fand: In normalen Jahren wandern zwischen 120.000 und 160.000 Menschen ein. Zwischen 60.000 und 80.000 pro Jahr verlassen das Land. Doch 2015 und 2022 waren Ausnahmejahre: Es kamen jeweils über 200.000 ausländische Staatsangehörige neu nach Österreich. 2015 waren es vor allem Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak – überwiegend Männer.

Im Vorjahr lag der Anstieg in erster Linie an Schutzsuchenden aus der Ukraine, unter ihnen vor allem Frauen und Kinder. Für sie gelten eigene Regeln; sie müssen etwa keinen Asylantrag stellen und dürfen sofort eine Arbeit annehmen. Zusätzlich zu den Ukrainern kamen im Vorjahr über 100.000 Asylwerber, von denen allerdings nur ein kleiner Teil im Land geblieben ist. Die meisten von ihnen verließen Österreich relativ rasch in Richtung Westeuropa.

Fanden die jüngsten Einwanderer auch Jobs?

EU-Bürger finden am schnellsten Arbeit, Flüchtlinge brauchen länger.

Die gute Nachricht für den heimischen Standort: Die Mehrzahl der Zuwanderer ist im arbeitsfähigen Alter. Wenn sie bleiben, stellt sich also die Frage: Finden sie einen Arbeitsplatz? Hier zeigt sich jedoch ein ungünstiges Muster: Viele Einwanderer, die rasch am Arbeitsmarkt unterkommen, verlassen das Land bald wieder.

Am schnellsten finden EU-Bürger in Österreich eine Stelle. Die meisten von ihnen kommen wegen eines konkreten Jobangebots her. Bereits im ersten Jahr ihres Aufenthalts sind zwei Drittel bis drei Viertel ausreichend beschäftigt. Aber: „Selbst von den EU-Bürgern, die 2019 einwanderten, war zwei Jahre später nur noch die Hälfte da. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie könnten die Rück- und Weiterwanderung verstärkt haben“, vermutet Münz.

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Zahlen & Fakten

Etwas länger brauchen Personen aus Drittstaaten, um eine Stelle anzunehmen. Von ihnen sind im ersten Jahr nur etwa 60 Prozent berufstätig. Die Mehrheit in dieser Gruppe ist nicht über die Rot-Weiß-Rot-Karte für einen Job nach Österreich gekommen, sondern aus familiären und anderen Gründen. „Trotzdem sind nach fünf Jahren etwas über 70 Prozent ausreichend beschäftigt. Bei zugewanderten Männern ist der Anteil höher, bei Frauen ist er niedriger. Dies gilt vor allem für Frauen mit türkischem Migrationshintergrund“, weiß Münz. Die meisten von ihnen bleiben länger als fünf Jahre im Land.

Bei Flüchtlingen dauert es im Schnitt am längsten, bis sie auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen. Dabei zeigt sich: Männer aus Syrien und aus Afghanistan schaffen den Übergang in die Erwerbstätigkeit am ehesten. Nach fünf bis sechs Jahren sind rund 60 Prozent von ihnen erwerbstätig. „Das ist im internationalen Vergleich ein guter Wert, der für die Auf­nahmefähigkeit des österreichischen Arbeitsmarktes spricht“, sagt der Experte. Anders sieht es bei Männern aus Tschetschenien aus; sie bleiben auch nach langem Aufenthalt in Österreich überwiegend ohne sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Auch der Geschlechterunterschied ist bei Geflüchteten markant. Asylberechtigte Frauen sind im Schnitt deutlich seltener erwerbstätig als Männer.

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Zahlen & Fakten

Was macht den Unterschied?

Aufgrund der kulturellen Prägung ar­beiten geflüchtete Frauen viel seltener als Männer.

Dass manche Geflüchtete eher eine Arbeit in Österreich finden als andere, liegt zum Teil am Bildungsstand und der Qualifikation. Beides war bei Syrern, die 2015 bis 2019 einwanderten, im Schnitt höher als bei Afghanen. Allerdings hinderte die geringere Qualifikation afghanische Männer letztlich nicht daran, eine Arbeit zu finden. Nach fünf Jahren sind sie ähnlich häufig erwerbstätig wie Syrer.

Ein afghanischer Flüchtling in einem Aufnahmezentrum in Wien, 2016
Wien, 2016: Ein afghanischer Flüchtling, der in Afghanistan als Mechaniker gearbeitet hat, wartet in der Unterkunft des Roten Kreuzes auf die Gewährung seines Asylstatus. © Getty Images

„Die verzögerte und viel seltenere Erwerbsintegration geflüchteter Frauen hat nicht bloß mit geringerer Qualifikation zu tun, sondern ist auch durch das mitgebrachte Kultur- und Rollenverständnis bedingt. In den Hauptherkunftsländern von anerkannten Flüchtlingen sind Frauen im formellen Segment des Arbeitsmarkts deutlich unterrepräsentiert. Die dadurch geprägten Rollenverständnisse wirken nach der Einwanderung in Österreich fort. Das gilt in ähnlicher Weise für Frauen türkischer Herkunft. Auch sie sind in Österreich deutlich seltener erwerbstätig als türkischstämmige Männer“, erklärt Experte Münz. „Es sollte gelingen, die große Zahl der Nicht-Österreicher, die bereits im Land leben, besser zu integrieren. Davon würden alle profitieren.“

Welche Hürden gibt es für Ausländer?

Die Anerkennung von Qualifikationen ist ein Spießrutenlauf. Außerdem werden Migranten bei der Jobsuche häufiger diskriminiert.

Hinter all den Statistiken über Arbeitslosigkeit, Herkunft und Geschlecht stehen Einzelschicksale. Dabei ist es auch schade für Österreich, wenn etwa ein IT-Fachmann aus Pakistan lieber nach Schweden zieht als zu uns. Besonders tragisch ist, wenn Menschen, die wir aus humanitären Gründen aufgenommen haben, ihr Potenzial nicht entfalten können, weil sie auf banale Hürden stoßen.

Die promovierte iranische Bio­chemikerin, die als Reinigungskraft arbeitet, gibt es öfter, als viele meinen.

Judith Kohlenberger (Asylexpertin)

Die Ökonomin und Asylexpertin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien startet ihren Pragmaticus-Report über die Arbeitsmarktchancen von Geflüchteten mit einem Gedankenexperiment: „Ein Arzt flieht aus einem Bürgerkriegsland, sagen wir Syrien, nach Österreich. Mangels legaler Fluchtwege nahm er den gefährlichen und teuren Weg über die Balkanroute, hat hierzulande das monate­lange Asylverfahren durchgestan­den und es vielleicht auch schon geschafft, Frau und Kinder über Familienzusammenführung nachzuholen. Nun geht es an die Integration – durch Leistung! – und damit die Jobsuche.“

Schwierige Operation

Kohlenberger setzt fort: „Man sollte meinen, dass das für einen gelernten Chirurgen bei dem aktuell stark ausgeprägten Fachkräftebedarf im österreichischen Gesundheitswesen ein Leich­tes sein sollte. Klar, ein Mindestmaß an Deutschkenntnissen wird nötig sein, um sich mit Kollegen und Patienten verständigen zu können, und den medizinischen Abschluss der Universität Damaskus wird man zuerst einmal in Österreich anerkennen lassen müssen. Aber wie schwierig kann das schon sein? Nun, die Erfahrung und die verfügbaren Zahlen zu Nostrifikationsverfahren in Österreich zeigen: sehr schwierig.“

Denn im Schnitt dauern Anerkennungsverfahren zwei Jahre, in reglementierten Branchen wie dem Gesundheitsweisen sind es bis zu fünf. „Von den 2015 und 2016 nach Österreich gekommenen Geflüchteten sind Tausende der am besten ausgebildeten Syrer, Iraker und Afghanen wegen des be­häbigen Anerkennungsverfahrens nicht geblieben, sondern nach Deutschland weitergewandert“, sagt die Expertin.

Wer bleibt, arbeitet oft unter seinem Ausbildungsniveau: Laut dem Wiener Diversitäts- und Integrationsmonitor sind allein in der Bundeshauptstadt 40 Prozent der Drittstaatsangehörigen mit Matura oder höherer Ausbildung für ihren Job überqualifiziert. Die Folgen sind für den Standort schlimm, für die Betroffenen viel schlimmer.

Laut einer aktuellen Studie des Sora-Instituts können 13 Prozent der Migranten in Österreich von ihren Jobs nicht leben. Besonders betroffen sind Ausländerinnen. „Das Klischee der promovierten iranischen Biochemikerin, die als Reinigungskraft in Österreich arbeitet, mag zwar nicht den Regelfall darstellen, kommt aber öfter vor, als man vielleicht denkt“, sagt Kohlenberger.

Wie muss die EU ihre Migrationspolitik ändern?

Kriterien für Fachkräfte könnten ge­lockert und die politische Zuständigkeit erweitert werden.

Laut mehreren Prognosen werden im Jahr 2070 nur noch 55 Prozent der EU-Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sein. Für Ökonomin Kohlenberger ist es darum unverständlich, dass beim Migrationsgipfel der EU im Februar in Brüssel das Thema Arbeitskräftebedarf und Zuwanderung fast gänzlich aus­gespart wurde. „Weder die Anpassung der Kriterien für die europäische Blue Card noch Rezepte gegen eine schrumpfende Bevölkerung – wie Ausbildungspartnerschaften oder der Abbau formaler Hürden für qualifizierte Fachkräfte – wurden diskutiert.“

Flüchtlinge vor dem Salzburger Ortsschild 2015
Salzburg, 2015: Ein warmes Willkommen für Flüchtlinge? © Getty Images

Wie in vielen Politikbereichen der Union behindert das Prinzip der Einstimmigkeit den Fortschritt. Außerdem sei die Ressortzuständigkeit antiquiert, findet die Expertin: „Migration fällt in den Verantwortungsbereich der EU-Innenminister, betrifft aber längst die Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktagenden der Mitgliedsstaaten. Solange sie auf europäischer Ebene, aber auch innerhalb Österreichs nicht dort diskutiert und ganzheitlich gesteuert wird, werden qualifizierte Zuwanderer hinter ihrem Potenzial zurückbleiben – oder vielleicht gar nicht erst kommen.“

Der womöglich größte Hemmschuh, um eine einheitliche Migrationspolitik in der EU durchzubringen, ist die nach wie vor ungelöste Frage, wie das Asylsystem neu aufgestellt werden soll.

Lässt sich die Flüchtlingsfrage lösen?

Asylverfahren könnten ausgelagert und Schutzsuchende direkt in die EU gebracht werden.

Kaum ein Thema hat die politische Debattenkultur derart ramponiert wie die Flüchtlingspolitik. Populisten und Inter­essengruppen jeglicher Couleur schlagen aus diesem hoch emotionalisierten Thema politisches Kleingeld. Hinzu kommt, dass die Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich betroffen sind, aber ein gemeinsames Asylsystem brauchen, wenn sie es mit der Personenfreizügigkeit innerhalb der Union ernst meinen.

Das europäische Migrationssystem ist das tödlichste der Welt.

Ruud Koopmans (Soziologe)

Der niederländische Soziologe Ruud Koopmans, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, findet klare Worte und adressiert beide Seiten der Debatte: „Das europäische Migrationssystem ist das tödlichste der Welt. Seit 2014 starben allein im Mittelmeer über 25.000 Menschen beim Versuch, Europas Küsten zu erreichen. Die es letztlich schaffen, sind oft nicht diejenigen, die unsere Hilfe tatsächlich brauchen. Fast die Hälfte aller Asylgesuche in Europa wird abgelehnt; die Schwächsten bleiben angesichts der hohen Risiken und Kosten meist ohnehin zurück. Die besten Chancen auf ein Ticket in der europäischen Asylrechtslotterie haben junge, gesunde Männer aus vergleichsweise gut situierten Familien.“

Das gegenwärtige System birgt auch Sicherheitsrisiken. Täter, die Flüchtlinge waren oder sich als solche ausgaben, verübten einen Großteil der tödlichen islamistischen Terroranschläge, mit denen Europa im letzten Jahrzehnt konfrontiert war, sagt der Experte. Das müsse nicht so sein.

Protestteilnehmer am Internationalen Aktionstag gegen Rassismus in Wien, 2017
Wien, 2017: Protestteilnehmer bei einer Demonstration gegen die europäische Flüchtlingspolitik im Rahmen des Internationalen Aktionstages gegen Rassismus vor dem österreichischen Parlament. © Getty Images

Verfahren verlagern

Für Koopmans liegt auf der Hand: Irreguläre Fluchtmigration muss durch reguläre ersetzen werden. Rücknahmeabkommen allein können das nicht erwirken. Nur die Verlagerung von Asylverfahren in Länder außerhalb der EU werde verhindern, dass sich tausende Menschen auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa machen. „Potenziellen irregulären Einwanderern nach Europa wäre klarzumachen, dass sie Schutz erhalten können, wenn sie die Voraussetzungen dafür erfüllen, aber eben nicht in den ersehnten Ziel­ländern Nordwesteuropas, sondern in einem Drittstaat.

Nur Asylverfahren außerhalb der EU verhindern, dass sich tausende Menschen in Lebensgefahr begeben.

Ruud Koopmans (Soziologe)

Nirgends im inter­nationalen Flüchtlingsrecht ist festgelegt, dass Asylbewerber das Recht haben, sich auszusuchen, in welchem Land sie Schutz erhalten wollen“, analysiert der Soziologe. Die Vorstellung, dass wirksamer Schutz nur in der EU möglich sei und alles andere den Flüchtlingen nicht zumutbar wäre, hält er für den Ausdruck einer Arroganz, die angesichts der Realität der europäischen Asylpraxis völlig unangebracht sei.

Das Asylsystem, das Koopmans vorschlägt, würde nicht bedeuten, dass Europa keine Flüchtlinge mehr aufnimmt; sobald die EU-Staaten kontrollieren, wer einreisen darf, wäre eine groß­zügige Aufnahme von Schutzbedürftigen möglich: „Denn es würde uns erlauben, gezielter diejenigen zu unterstützen, die es am meisten brauchen. Zugleich entspräche dieses Verfahren den Inter­essen von Herkunftsländern, Erstaufnahmeländern und der EU viel besser als die herrschende Flüchtlingspolitik.“

Neue Willkommenskultur

Hier schließt sich auch der Kreis zur Arbeitsmigration. So wie sich gezeigt hat, dass Wahlerfolge der FPÖ in Österreich nicht von einem Anstieg qualifizierter Zuwanderung beeinflusst werden, liegt es nahe, dass Europa offener gegenüber arbeitswilligen Migranten sein kann, wenn sichergestellt ist, dass die Zuwanderung auf legale, geregelte Weise stattfindet.

Es wäre an der Zeit, den roten Teppich auszurollen – für all jene, die bei uns leben und arbeiten wollen.

Österreich zählt zu jenen Ländern, die am meisten Schutzsuchende auf­genommen haben. Obwohl die Integration von Geflüchteten auf dem Arbeitsmarkt besser lief, als vielfach erwartet wurde, sind die Hürden immer noch zu hoch. Zu viele Migranten landen in Jobs, die ihren Qualifikationen nicht entsprechen. Damit beschränken wir nicht nur jene Menschen, die schon eingewandert sind, sondern schrecken auch Fach­kräfte ab. Der Mangel auf dem Arbeitsmarkt wird immer größer. Es wäre an der Zeit, den roten Teppich auszurollen – für all jene, die bei uns leben und arbeiten wollen.

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Conclusio

Die Alterung der Gesellschaft macht es dringend notwendig, Fachkräfte ins Land zu holen. Der Handlungsbedarf ist groß, doch die Rot-Weiß-Rot-Karte für Fachkräfte aus Drittstaaten ist ein Flop. Viele Migranten mit guter Ausbildung verlassen Österreich wieder, weil ihnen hier zu große Hürden im Weg stehen. Aus der Sicht internationaler Schlüsselkräfte hat Österreich im Vergleich zu anderen Industrieländern an Attraktivität verloren. Bürokratische Schikanen, hohe Steuern und mangelnde Gastfreundschaft tragen dazu bei, dass Talente lieber nach Schweden, Kanada oder in die Schweiz gehen. Flüchtlinge können die Lücken am Arbeitsmarkt nicht füllen – auch deshalb, weil viele unter ihrem Qualifikationsniveau arbeiten müssen. Ganz Europa muss die Migration neu regeln, um im Wettbewerb zu bestehen.

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