Offensive in Gaza: Das wird schwer für Israel

Israels Armee steht im Gazastreifen vor militärisch hochkomplexen Herausforderungen. Im Propagandakrieg ist die Hamas im Vorteil. Eine Analyse.

Israelische Sicherheitskräfte mit Kanonen und Schützenpanzern an der Grenze zum Gazastreifen.
Um ihr strategisches Ziel – die nachhaltige Zerstörung der militärischen Kapazität der Hamas – zu erreichen, ist die israelische Armee gezwungen, eine massive Bodenoffensive zu starten. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Bodenoffensive. Nach den Terroranschlägen vom 7.10. muss Israel die Hamas militärisch zerschlagen, dazu muss sie Bodentruppen in den Gazastreifen entsenden.
  • Häuserkampf. In urbanen Gebieten ist der Verteidiger immer im Vorteil. Zudem hat die Hamas Gaza zu einer Festung ausgebaut, auch unterirdisch.
  • Herausforderungen. Unabwägbarkeiten des Terrains, eine erschwerte Kommunikation, Tunnel und Minen machen den Einsatz extrem riskant.
  • Opfer. Die Hamas versteckt ihre militärische Infrastruktur hinter Moscheen, Schulen und Krankenhäusern. Zivile Opfer und israelische Verluste sind unvermeidlich.

„Bürger Israels, wir sind im Krieg“, lautete die erste Botschaft des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in Reaktion auf die verheerenden Terroranschläge der Hamas vom 7. Oktober 2023. Innerhalb weniger Stunden wurden zwischen 2.000 und 3.000 Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Brigadestarke Kräfte der Hamas drangen nach Israel ein, die Rede ist inzwischen von rd. 2900 Mann, und verübten unaussprechliche Terroranschläge mit mehr als 1.400 Opfern. Zusätzlich wurden 250 Personen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Israel war im Schock.

Kampf gegen die Hamas

Innerhalb weniger Stunden reagierte Israel. Einheiten der israelischen Streitkräfte wurden eilig in den Süden verlegt und begannen die Hamas in den Gazastreifen zurückzudrängen. Gleichzeit begann die israelische Luftwaffe mit den ersten Luftschlägen. Zusätzlich wurden mehr als 300.000 Reservisten innerhalb von 48 Stunden mobilisiert, eine unglaubliche Leistung, zu der nur die wenigsten westlichen Streitkräfte in der Lage wären. Um die Größenordnung zu verdeutlichen: Russland hatte für den Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 „nur“ 150.00 – 200.000 Soldaten bereitgestellt, also ca. die Hälfte.

Die israelischen Maßnahmen der ersten Tage nach den Terroranschlägen können als Eröffnungszug eines langandauernden Krieges verstanden werden. Die israelische Seite ist hier eindeutig: Nie wieder! Die Hamas muss aus israelischer Sicht dermaßen zerstört werden, dass sie in der Zukunft nie wieder in der Lage ist, einen solchen Terroranschlag durchzuführen. Zusätzlich ist die Situation auch im Westjordanland und an der nördlichen Grenze, zum Libanon und nach Syrien, hochvolatil. Es ist unklar, in welchem Umfang die Hisbollah in den Krieg eingreifen wird. Damit sind erhebliche Kräfte der Israelis im Norden und Osten gebunden.

Festung Gazastreifen

Solange die Situation im Norden nicht eskaliert, wird das Schwergewicht der israelischen Operationsführung jedoch im Gazastreifen liegen. Bereits wenige Tage nach dem Terroranschlag kündigten die israelischen Streitkräfte eine umfangreiche Bodenoffensive an. Der Gazastreifen selbst umfasst etwa 365 km² und ist damit etwa 10% kleiner als Wien. Westlich grenzt der Gazastreifen an das Mittelmeer und im Süden an Ägypten. Den israelischen Streitkräften bleiben damit an Land nördliche und östliche Angriffsachsen. Die genaue Einwohnerzahl ist umstritten, dürfte aber ca. 2,3 Mio. Menschen betragen. Damit gilt der Gazastreifen mehrheitlich als urbanes Gebiet, dass militärisch gesehen zu den schwierigsten Terrains zahlt. Militärischer Erfahrung gemäß sind 10 angreifende Soldaten erforderlich, um einen verteidigenden Soldaten zu werfen.

Die israelischen Streitkräfte stehen vor einer unglaublich komplexen Herausforderung.

Auch wenn die Bodenoffensive zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Berichts noch nicht vollumfänglich begonnen hat, so ist bereits absehbar, dass die israelischen Streitkräfte vor einer unglaublich komplexen Herausforderung stehen. Mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit wird der Einsatz nicht nur Opfer unter der Zivilbevölkerung, sondern auch hohe Verluste israelischer Soldaten kosten. Im urbanen Gebiet sind die Verteidiger auf Grund mehrerer Faktoren massiv im Vorteil und man kann davon ausgehen, dass die Hamas die vergangenen Monate nicht nur zur Vorbereitung des Angriffs, sondern auch zur Verteidigung des Gazastreifens verwendet hat.

Unbekanntes Terrain für Israel

Urbane Gebiete sind ein hochkomplexes System, das sich in unterschiedliche Bewegungsebenen strukturiert: den Luftraum, Gebäudeoberflächen (z.B. Dächer), Gebäudeinnenräume, freie Flächen (z.B. landwirtschaftliche Gebiete), Straßen- und Verkehrsinfrastruktur, Gewässer und Infrastruktur im Untergrund (Keller, Tunnel, etc.). Die Terroristen können die vordringenden Israelis aus allen Ebenen angreifen und rasch zwischen den Bewegungsebenen wechseln, indem sie zum Beispiel aus einem Haus die Israelis unter Beschuss nehmen und sich dann schnell durch Tunnel zurückziehen. Städtische Umgebungen bieten ideale Bedingungen für Hinterhalte und die Guerillakriegsführung.

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Zahlen & Fakten

Die Grafik zeigt den Gazastreifen im Überblick.
  • Der Gazastreifen umfasst ca. 365 km2 und ist weitgehend von Sandwüsten geprägt.
  • Er ist in etwa 40 Kilometer lang, die Breite variiert zwischen sechs und 14 Kilometern.
  • Nahezu der gesamte Gazastreifen wird von einer Sperranlage umzäunt, die 1994 errichtet wurde.
  • Die genaue Einwohnerzahl ist umstritten, liegt jedoch etwa bei 2,3 Millionen, der Gazastreifen zählt damit zu den am dichtesten bevölkerten Regionen der Welt.

Die Hamas hat in den 17 Jahren, seit sie an der Macht ist, alle baulichen Maßnahmen im Gazastreifen in die Verteidigungsplanungen einbezogen. In einem Großteil der Gebäude sind Verteidigungspositionen vorgesehen. Munitionsdepots und Kommandoposten wurden in vielen Fällen in den Kellern ziviler, vor allem aber besonders geschützter Gebäude, wie Moscheen, Schulen und Krankenhäuser angelegt. Bei der Operation „Wächter der Mauern“ im Jahr 2021 gaben die israelischen Streitkräfte bekannt, dass sie knapp 100 Kilometer an Tunneln der Hamas zerstört hätten. Es ist davon auszugehen, dass dies nur einen Bruchteil der existierenden Systeme betroffen hat. Die Hamas kann israelische Soldaten aus unerwarteten Richtungen angreifen, durch Tunnel hinter die israelischen Linien gelangen und von dort erneut angreifen.

Schließlich ist ein Großteil des Gebiets wahrscheinlich massiv vermint. Dies umfasst nicht nur klassische Anti-Personen- und Panzerminen, wie in der Ukraine, sondern vor allem improvisierte Sprengsätze, auch IED (Improvised Explosive Devices) genannt, wie man sie aus den Irak- und Afghanistankrieg kennt. Damit ist es der Hamas möglich, Häuser genau in dem Moment zu sprengen, in dem die Israelis eindringen. Der Blutzoll wäre enorm.

Kommunikation und Logistik

Städtische Umgebungen können die Kommunikation und Koordination von Streitkräften erheblich erschweren, da die dichte Bebauung, die begrenzte Sichtlinie und das komplexe Straßennetz die Übertragung von Befehlen und Informationen zwischen den Einheiten behindern. Zum Beispiel können hohe Gebäude und andere Hindernisse Funksignale blockieren oder reflektieren. Das führt zu Störungen oder Unterbrechungen. Dazu kommen Hindernisse wie Straßensperren, Barrikaden und unübersichtliche Gebiete, die den reibungslosen Vorstoß von Truppenteilen und das zeitgerechte Nachführen von Verstärkungen behindern. 

Die israelische Armee soll aus der Zivilbevölkerung heraus angegriffen werden.

Auch die erforderliche Logistik erfordert eine besonders sorgfältige Planung, da der begrenzte Raum die sichere Lagerung von notwendigem Nachschub und Ausrüstungen erschwert. Darüber hinaus können Straßen blockiert sein, Brücken unpassierbar und Kreuzungen überlastet. Solche Engpässe verlangsamen die Versorgung und bieten Angriffsmöglichkeiten für Hinterhalte. Gleichzeitig sind alternative Transportwege und Routen in vielen Fällen nicht im ausreichenden Maße vorhanden.

Zivilbevölkerung und Kollateralschäden

Die israelische Armee hat die Zivilisten aufgerufen, zu ihrer eigenen Sicherheit den nördlichen Teil des Gazastreifens sofort zu verlassen. Nach Angaben der Vereinten Nationen betrifft dies etwa 1,1 Mio. Menschen. Durch die israelische Blockade sind Nahrungsmittel, Wasser und Strom bereits knapp. Eine humanitäre Katastrophe zeichnet sich ab. Gleichzeitig ruft die Hamas die Menschen auf, das Gebiet nicht zu verlassen, um sie als Schutzschilde verwenden zu können und erschwert den Weg in den Süden mit Straßensperren. Die israelische Armee soll aus der Zivilbevölkerung heraus angegriffen werden. Zivile Kollateralschäden werden bewusst in Kauf genommen, um die internationale Unterstützung für Israel zu untergraben und einen Aufschrei in der arabischen Welt auszulösen.

Die israelischen Geiseln in den Händen der Hamas erschweren den Einsatz nicht nur operativ, sondern auch politisch. In den sozialen Netzen tauchen bereits Videobotschaften von Geiseln auf, in denen sie um ihr Leben bitten. Manche von ihnen werden wohl unvermeidlich durch israelischen Beschuss ums Leben kommen. Selbst wenn die Hamas militärisch zerstört werden kann, ist sie propagandistisch im Vorteil. 

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Conclusio

Um ihr strategisches Ziel – die nachhaltige Zerstörung der militärischen Kapazität der Hamas – zu erreichen, ist die israelische Armee gezwungen, eine massive Bodenoffensive zu starten und um jedes Haus zu kämpfen – mit Kampf- und Schützenpanzern, schwerem Pioniergerät und Kampfmittelräumspezialisten. Diese Operation wird lange dauern und einen hohen Blutzoll auf beiden Seiten fordern. Die Hamas wird dabei auf Zeit spielen und massiv in den Informationskrieg um die Deutungshoheit einsteigen. In den kommenden Wochen werden schreckliche Bilder durch die internationalen Medien geistern. Gleichzeitig wird Israel Unterstützungsleistungen mit Munition und militärischen Ausrüstungsgütern benötigen.

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