„Israels 9/11“: Terror und Völkerrecht

Israel und die Hamas befinden sich im Krieg. Dem palästinensischen Recht auf Selbstbestimmung steht das israelische Recht auf Sicherheit gegenüber.  

Flammen und Rauch steigen während der israelischen Angriffe in Gaza auf.
9. Oktober, Gaza: Israel verhängte eine Belagerung des Gazastreifens, während es als Reaktion auf den Terroranschlag der Hamas, den es mit den Anschlägen vom 11. September vergleicht, weiterhin Ziele in der palästinensischen Enklave bombardiert. © Getty Images

Der Begriff des Krieges war traditionell auf bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Streitkräften beschränkt. Seit 1945 stellen diese allerdings die Ausnahme dar, die meisten Konflikte waren  „gemischter” Natur (also halb international und halb innerstaatlich), „Bürgerkriege”,  oder „nationale Befreiungskriege” (gegen Kolonialherren).

Die Konfrontation zwischen Israel und der Hamas fällt in keine der genannten Kategorien. Zwar ist Israel eindeutig ein Staat. Die fehlende Anerkennung durch zahlreiche arabische Länder (die Annäherung an alte Feinde wie Saudi-Arabien steht mit den jüngsten Angriffen der Hamas und der israelischen Antwort darauf auf der Kippe) spielt hier keine Rolle. Entscheidend ist vielmehr, dass es die allgemein akzeptierten Elemente der Staatlichkeit erfüllt, also ein eigenes Gebiet, Volk und eine souveräne – sowohl nach innen als auch nach außen – Staatsgewalt. Das ist bei Israel der Fall. Damit war auch die Aufnahme in die Vereinten Nationen anno 1949 – die nur Staaten offenstehen (von historischen Sonderfällen wie der Mitgliedschaft der Ukraine vor ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion abgesehen) – kein Problem.

Palästina, Palästinenser und ihre Gebiete

Bei Palästina ist die Beurteilung ungleich schwieriger: Zwar gibt es auch hier eine Bevölkerung und ein Gebiet – ungeachtet der umstrittenen Grenzen zu Israel. Staaten brauchen keine eindeutigen, von ihren Nachbarn als solche akzeptierte Grenzen. So hat auch Israel nur mit Ägypten und Jordanien Friedensverträge geschlossen. Neben den Palästinensergebieten gibt es also auch mit Syrien und dem Libanon keine dahingehende Einigkeit. 

Außerdem hat Palästina anno 1988 seine Unabhängigkeit erklärt, heute wird es von 138 Ländern anerkannt und ist auch einer Reihe von Verträgen und Organisationen beigetreten, darunter den Genfer Konventionen, dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs oder der UNESCO

Palästina ist mehr Theorie als Praxis, mehr Anspruch als Realität.

Das zentrale Problem bleibt jedoch: die fehlende Souveränität. So kontrolliert Israel bekanntlich – in unterschiedlichem Ausmaß – auch die Palästinensergebiete oder zumindest den Zugang dorthin (dazu gleich mehr). Dazu kommt die Zweiteilung in die Fatah respektive die Westbank und die Hamas beziehungsweise den Gazastreifen. Anders gesagt: Die Palästinenser haben keine faktische zentrale Verwaltung beziehungsweise Vertretung. Palästina ist mehr Theorie als Praxis, mehr Anspruch als Realität.

Gazastreifen und Besetzung

Dazu gehört auch der umstrittene Status des Gazastreifens, der im Inneren von der Hamas kontrolliert wird. Man spricht demgemäß von einem „quasi-de-facto-Regime“, also einem Gebiet, das nicht als Staat gilt, aber durchaus staatsähnliche Züge trägt. „Ähnlich“ deshalb, weil die Hamas den Gazastreifen verwaltet, inklusive einem Premierminister, einem Legislativrat und einem Kabinett, und dort auch das Gewaltmonopol für sich beansprucht.

Dennoch ist es nicht mit einem Staat ident, weil Israel trotz des Abzugs unter dem damaligen Ministerpräsidenten Ariel Scharon 2005 den Gazastreifen „von außen“ kontrolliert, also über das Küstenmeer, den Luftraum (durch Luftangriffe oder die Observation via Drohnen), die Währung, den Zugang zum Internet, die Ein- und Ausreise sowie Aus- und Einfuhren. Außerdem können die israelischen Streitkräfte jederzeit in den Gazastreifen eindringen. Insofern ist Israel zwar keine „klassische“ Besatzungsmacht mehr, wie sie in Artikel 42 der Haager Landkriegsordnung von 1907 definiert wird: „Ein Gebiet gilt als besetzt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt der feindlichen Armee befindet.“

Kontrolle braucht keine umfassende Truppenpräsenz vor Ort, sprich am Boden.

Allerdings geht diese Bestimmung weiter und spricht davon, dass eine Besetzung (nur) Gebiete umfasst, in denen „diese Gewalt hergestellt ist und ausgeübt werden kann“. Dabei gilt es zu bedenken, dass der Gazastreifen und die Westbank formalrechtlich Teil derselben (Palästinenser-)Gebiete sind. Anders gesagt: Kontrolle braucht keine umfassende Truppenpräsenz vor Ort, sprich am Boden. Aus all diesen Gründen wird gemeinhin (so etwa im UN-Bericht zur „Operation gegossenes Blei“ Ende 2008 bis Anfang 2009) argumentiert, dass Israel den Gazastreifen immer noch – wenn auch atypisch – besetzt.

Israel selbst sieht das anders. So hat die Regierung argumentiert, dass der Gazastreifen lediglich „umstrittenes“ Gebiet sei und eine Besetzung nur bei direkter Truppenpräsenz („boots on the ground“) vorliege. Wie das israelische Höchstgericht – das diese Ansicht teilt – jedoch betont hatte, ist Israel dennoch an elementare humanitäre Grundsätze gebunden. Folglich muss es das Gebiet – trotz der ständigen Terrorgefahr – mit Strom versorgen oder Nahrung, Medikamente und Treibstoff über die Grenze lassen. Das ist freilich insofern absurd, als dass Israel dieser Argumentationslinie zufolge einen fernab seines Herrschaftsbereichs befindlichen Feind versorgen würde. Alleine deswegen ist es stringenter, von einer Besatzung auszugehen.

Besetzungen: Rechte und Pflichte

Für Besatzungsmächte gelten schließlich bestimmte Pflichten, die neben der Haager Landkriegsordnung in der vierten Genfer Konvention von 1949 festgelegt sind. Dazu gehören der allgemeine Schutz der Bevölkerung, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und eines Mindest-Lebensstandards oder das Verbot, eigene Bürger anzusiedeln (oder ansiedeln zu lassen). Daraus folgt jedoch nicht, dass Israel die Verantwortung für den Gazastreifen alleine trägt. Sie ist vielmehr – mit der Hamas – geteilt. Um ein Beispiel aus der Zeit der Pandemie zu nennen: Israel muss ausreichend Impfstoffe zur Verfügung stellen. Es muss aber nicht selbst, also mit eigenem Personal, impfen, zumal das enorm gefährlich bis unmöglich gewesen wäre. Die Verabreichung vor Ort ist Sache der Hamas. 

Widerstand und Selbstbestimmung

Das zentrale – und rechtlich zugleich umstrittenste – Recht ist jedoch jenes auf Selbstbestimmung. Diesem zufolge entscheiden alle Völker „frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung“, wie es in Artikel 1 der beiden UN-Menschenrechtspakte heißt. Dieses Recht steht nach heute allgemein vertretener Auffassung auch den Palästinensern zu. Im Übrigen unabhängig davon, seit wann man von einem palästinensischen Volk sprechen kann („there is no such thing as a distinct Palestinian people“ hatte die ehemalige israelische Premierministerin Golda Meir noch 1970 gesagt).

Wie weit dieses Recht geht, ist Gegenstand zahlreicher Debatten. In bestimmten Konstellationen – darunter auch im Nahostkonflikt – folgt daraus ein Verbot von Fremdherrschaft beziehungsweise ein Recht auf einen eigenen Staat. 

Die Errichtung eines Palästinenserstaats ist etwas anderes als die Vernichtung Israels.

In der Endphase des Kolonialismus vertraten viele der unabhängig gewordenen und auch die sozialistischen Staaten des „Ostblocks“ außerdem die Ansicht, dass aus dem Recht auf Selbstbestimmung auch ein Recht auf (bewaffneten) Widerstand folgt. Die westlichen Staaten waren hier naturgemäß weniger enthusiastisch. 

Diese alte Diskussion hat nie so ganz aufgehört. Fest steht jedoch, dass in allen Konflikten, mag man sie als „legitime“ (Widerstands-)Kämpfe ansehen oder nicht, die Grundsätze des Kriegsrechts gelten: direkte Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte, Folter oder unmenschliche Behandlung, sexuelle Gewalt, Geiselnahmen, Plünderungen sind ebenso verboten wie bestimmte Formen der Kriegsführung (etwa die Errichtung von Militärbasen in zivilen Objekten oder das Nichttragen von Uniformen). Terroristische Handlungen, also massive und ideologisch, ethnisch, politisch oder ethnisch motivierte Gewalt zur Einschüchterung der Bevölkerung und Druckausübung auf eine fremde Regierung, sind in jedem Fall verboten. Alleine deswegen ist die Hamas keine „Befreiungsorganisation“ – die Errichtung eines Palästinenserstaats ist etwas anderes als die Vernichtung Israels.

Damit steht das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung dem israelischen Bedürfnis nach Sicherheit gegenüber. Daher ist es einerseits dazu verpflichtet, die Besatzung der palästinensischen Gebiete zu beenden, und andererseits dazu berechtigt, Terroristen – im Falle eines laufenden Angriffs – zu töten oder (allgemein) festzunehmen und vor Gericht zu stellen, Waffenschmuggel zu unterbinden und Kriegsgerät gegebenenfalls konfiszieren. Gleichzeitig ist dabei auf die betroffene Bevölkerung Rücksicht zu nehmen. Ein vollkommenes Abriegeln des Gazastreifens im Namen der Sicherheit ist nicht erlaubt. 

Selbstverteidigung

Damit wären wir bei einer weiteren Schlüsselfrage, nämlich Israels Recht auf Selbstverteidigung. Dieses steht nach heutiger Lesart nicht nur gegen Staaten, sondern auch bei terroristischen Angriffen zu. Allen voran die USA hatten sich nach 9/11 darauf berufen, obwohl sie nicht von Afghanistan angegriffen worden waren. Vielmehr richteten sich ihre Verteidigungshandlungen gegen Al-Kaida (als Urheber) und die Taliban, die ihr einen Unterschlupf geboten hatten. Das wurde allgemein akzeptiert, auch von den Vereinten Nationen, die – konkret der Sicherheitsrat – später eine Friedensmission in Afghanistan autorisierten (an der auch österreichische und deutsche Soldaten beteiligt waren). Spätere, allgemein akzeptierte Fälle von Selbstverteidigung gegen terroristische Gruppen sind der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah (die Kritik bezog sich auf die Verhältnismäßigkeit, nicht die Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht als solche) oder der Kampf gegen den „Islamischen Staat“.

Israelische Panzer gehen in Position nahe des Gazastreifens.
Während das Militär seine Stellungen in der Nähe von Mavki'im bewacht, gehen israelische Panzer nahe des Gazastreifens in Position. Am 7. Oktober wurde Israel wurde von einem Terroranschlag der Hamas überrascht, bei dem mehr als 1.200 Israelis ermordet und mehrere Dutzend in den Gazastreifen verschleppt wurden. © Getty Images

Im Gegensatz zur Hamas standen all diese Gruppen – beziehungsweise deren Gebiete – jedoch nicht unter Kontrolle des angegriffenen Staates. Das Selbstverteidigungsrecht zielt auf Situationen ab, in denen ein Staat von einem Gewaltakteur von außen angegriffen wird, nicht auf Bürgerkriege oder Terrorangriffe aus dem eigenen Herrschaftsgebiet. 

Wie also mit Angriffen der Hamas umgehen? Zum einen kann man dennoch von Selbstverteidigung sprechen, weil die israelische Kontrolle zwar (wie gesagt) zu stark ausgebaut ist, um eine Besatzung zu verneinen und gleichzeitig nicht stark genug, um die Anwendung der Selbstverteidigung auszuschließen.

Zum anderen haben Besatzungsmächte ohnehin das Recht, sich gegen Angriffe aus von ihnen kontrollierten Gebieten zur Wehr zu setzen – unabhängig davon, ob sie direkt mit Truppen vor Ort sind oder nicht (beziehungsweise erst recht dann, wenn sie es nicht sind). Nur spricht man dann eben nicht von Selbstverteidigung im völkerrechtlichen Sinne, sondern von einer mehr oder minder „internen“ Situation. 

Ungeachtet der Frage der Selbstverteidigung muss auch Israel in jedem Fall das Recht bewaffneter Konflikte einhalten. Das ist in einem dicht besiedelten Kampfgebiet wie dem Gazastreifen und einen Gegner wie der Hamas enorm schwierig, zumal diese nicht davor zurückschreckt, Menschen (ob Geiseln oder die Bevölkerung des Gazastreifens) als Schutzschilde einzusetzen oder Krankenwagen, Schulen und Spitäler für kriegerische Zwecke zu missbrauchen. Wie weit Israel sich daran halten kann (und wird), werden die nächsten Wochen zeigen.

Mehr von Ralph Janik

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