Wagt Putin den Atomkrieg?

Moskau droht immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen. Mehrere Szenarien zeigen, dass ein taktischer Atomschlag gegen die Ukraine theoretisch möglich ist.

Machtdemonstration: Eine Russische Atomrakete wird bei einer Militärparade im Juni 2020 in Moskau präsentiert. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Drohkulisse. Russlands nukleare Doktrin sieht nur einen defensiven Einsatz von Kernwaffen vor. Interpretationsspielraum ist jedoch vorhanden.
  • Taktischer Einsatz. Ins Eck gedrängt, könnte Putin mit einem taktischen Einsatz von Nuklearwaffen eskalieren, um Konzessionen zu erzwingen.
  • Drei Optionen. Moskau könnte „nur“ einen Bombe testen, ukrainische Truppenverbände eliminieren oder Führungseinrichtungen ins Visier nehmen.
  • Vorwarnzeit. Die Vorbereitung eines taktischen Atomschlags lässt sich durch Aufklärung zumindest einige Stunden im Voraus erkennen.

In den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 wurde eine Videobotschaft von Präsident Putin veröffentlicht. Bereits zu diesem Zeitpunkt rollten russische Panzer in die Ukraine, die Invasion begann. „An alle, die es in Erwägung ziehen, sich von außen einzumischen – wenn Sie das tun, werden Sie mit Konsequenzen konfrontiert, die größer sind als alle, die Sie in der Geschichte erlebt haben,“ so der Präsident der Russischen Föderation in der Videobotschaft.

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Kurze Zeit später wurden die strategischen Nuklearstreitkräfte in eine höhere Bereitschaftsstufe versetzt. Damit stand mit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine eine inhärente Drohung des Einsatzes von Atomwaffen im Raum.

Russische Nukleardrohungen wurden im bisherigen Verlauf des Krieges wiederholt angedeutet oder sogar offen angesprochen: „Das ist kein Bluff. Und diejenigen, die versuchen, uns mit Atomwaffen zu erpressen, sollten wissen, dass sich die Wetterfahne drehen und auf sie zeigen kann,“ so Präsident Putin beispielsweise im September 2022.

Die Antworten des Westens waren geharnischt und auch China war offensichtlich wenig begeistert. Mit einem nuklearen Einsatz würde Russland eine „rote Linie der internationalen Staatengemeinschaft“ überschreiten erklärte der chinesische Präsident Xi Jinping im November 2022.

Stabile Abschreckung

Das Szenario eines strategischen Nuklearkrieges ist bis heute nahezu auszuschließen. Die strategische Abschreckung ist stabil. Auch wenn die russische Seite in vielerlei Hinsicht ein anderes militärstrategisches Kalkül als der Westen berücksichtigt ist ein Angriff mit interkontinentalen ballistischen Raketen (ICMBs) oder mit U-Boot-gestützten ballistischen Raketen (SLBMs) nicht zu erwarten.

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Zahlen & Fakten

Foto einer Demonstantin, die ein Plakat in den Händen hält auf dem die geografischen Umrisse der Ukraine als Zielscheibe dargestellt sind, darunter und darüber steht Belarus No Nuclear Weapon! Auf dem anderen Teil des Plakats hält der Diktator von Belarus, Lukaschenko, drei Atomraketen in den Händen und droht. Er trägt dabei ein Bärenfell. Das Bild illustriert einen Beitrag über einen möglichen Atomschlag Putins.
Demonstration gegen eine nukleare Eskalation des Krieges am 23. Juli 2023 in Krakau. Die Gefahr eines sogenannten taktischen Atomschlag ist auch im zweiten Jahr des Krieges virulent. © Getty Images

Zum einen durch deren unvorstellbaren Zerstörungskraft, zum zweiten aber vor allem weil die amerikanische Zweitschlagfähigkeit unbestritten ist. Ein russischer Angriff mit strategischen Nuklearwaffen auf den Westen würde zu einem apokalyptischen Szenario und der nuklearen Vernichtung Russlands führen. Präsident Putin ist vielleicht risikobereiter, aber er ist sicher nicht selbstmordgefährdet.

Taktischer Schlag möglich

Ist damit ein Einsatz von Nuklearwaffen ausgeschlossen? Leider nicht! Neben den strategischen Nuklearwaffen bestehen auch noch taktische Nuklearwaffen, auch nukleare Gefechtsfeldwaffen genannt. Diese Waffensysteme werden aufgrund ihrer Reichweite, der Detonationskraft bzw. deren Stationierung von strategischen Atomwaffen unterschieden. Sie sind für einen Einsatz gegen militärische Ziele auf einem begrenzten Gefechtsfeld vorgesehen.

Ihre Sprengkraft reicht dabei von 0,1 bis 100 Kilotonnen. Auch wenn dies signifikant kleiner ist als die strategischen Sprengköpfe im Megatonnenbereich sind die taktischen Nuklearwaffen in ihrer Wirkung immer noch extrem. Zum Vergleich, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Bomben hatten eine Sprengkraft von 13 bzw. 21 Kilotonnen. Zum Einsatz gebracht werden taktische Nuklearwaffen in den meisten Fällen durch Flugzeuge oder Artilleriesysteme und Kurzstreckenraketen.

Politische Drohgebärden

Die russische Ankündigung über die geplante Teilhabe von Nuklearwaffen mit Belarus im April 2023 umfasst ausschließlich taktische Systeme. Zum einen sollen SU-25 Flugzeuge der belarussischen Luftstreitkräfte für den Einsatz solcher Waffen umgerüstet werden und zum zweiten sollen die SS-26 „Iskander“ Kurzstreckenraketen für nukleare Sprengköpfe vorbereitet werden. Der Kontrolle über die Sprengköpfe selbst verbleibt nach Aussage von Präsident Putin bei der russischen Föderation, die belarussischen Streitkräfte stellen nur die Waffensysteme für den Transport zur Verfügung.

Militärstrategisch macht diese neue nukleare Teilhabe für Russland nur eingeschränkt Sinn. Ähnliche und modernere nukleare Trägersysteme sind bereits heute in der russischen Enklave Kaliningrad stationiert. Insofern muss dieser Schritt eher als politisches Signal gegen westliche Waffenlieferungen für die Ukraine und in Hinsicht auf die nukleare Teilhabe der NATO verstanden werden.

Russische Doktrin

Unter welchen Umständen würde Russland Nuklearwaffen einsetzen? Auf Grundlage offizieller strategischer Dokumente, welche die russische Nukleardoktrin beschreiben, würde Russland in folgenden Fällen Nuklearwaffen einsetzen:

  • Bei einem Angriff mit ballistischen (atomaren) Raketen oder bei Vorliegen von Informationen, dass ein solcher unmittelbar bevorsteht (strategischer Nuklearschlag gegen Russland);
  • als Antwort auf einen Einsatz atomarer, biologischer oder chemischer Waffen auf Russland oder seine Alliierten;
  • bei einem Angriff auf kritische Regierungs- oder militärische Einrichtungen, einschließlich der Führungs- und Informationssystemen, Lagerstätten und Trägermitteln von nuklearen Kräften;
  • oder bei einer konventionellen Aggression gegen Russland, die seine Existenz als Staat gefährdete.

Die offizielle russischen Nukleardoktrin ist damit grundsätzlich defensiv zur Aufrechterhaltung der territorialen Integrität und staatlichen Souveränität ausgerichtet. Die Aussagen Präsident Putins im laufenden Krieg gegen die Ukraine lassen jedoch den Schluss zu, dass er unter bestimmten Umständen über die reine Schutzoption des russischen Nuklearpotentials hinausgehen würde.

Drei Szenarien

In diesem Zusammenhang wird in westlichen verteidigungspolitischen und militärstrategischen Formaten immer wieder die sogenannte „escalate to de-escalate“ Strategie Russlands diskutiert. Im Kern geht es um die Frage, ob Russland bereit wäre Nuklearwaffen einzusetzen, um Gegner offensiv von einem bestimmten Verhalten abzuschrecken bzw. um im Falle einer (drohenden) Niederlage den Gegner defensiv zu Zugeständnissen zu bewegen. Würde Russland eine Nuklearwaffe einsetzen, um einen Frieden bzw. einen Waffenstillstand zu erzwingen? Dafür wären beispielweise folgende Szenarien, wenn auch unmittelbar erwartbar, grundsätzlich denkbar.

Szenario 1: Ein Nukleartest

Das am wenigsten eskalierende Szenario wäre eine Nuklearwaffentest. Russland könnte einen nuklearen Sprengsatz in der arktischen Region, wie zum Beispiel dem Nowaja-Semlja-Testgelände, oder über dem Schwarzen Meer zünden. Dabei sind keine (zivilen) Opfer zu erwarten und je nach Sprengkraft würde sich auch der nukleare Fallout in Grenzen halten. Mit einem solchen Test würde Russland seine Bereitschaft zum Einsatz von Nuklearwaffen und die vorhandenen nuklearen Fähigkeiten signalisieren.

Szenario 2: Ein Atomschlag gegen ukrainische Streitkräfte

Die in Sewastopol auf der Halbinsel Krim staionierte russische Schwarzmeerflotte ist mit Nuklearwaffen ausgestattet. Für den Fall, dass die Ukraine eine Rückeroberung der Halbinsel versucht und militärische Erfolge erzielen kann, könnte die Russische Föderation mit einer taktischen Nuklearwaffe antworten. In Hinblick auf die Nukleardoktrin wäre ein solcher Einsatz gerechtfertigt, da wichtige militärische Einrichtungen der Nuklearkräfte bedroht sein würden. Ein solcher Angriff könnte auf die Bereitstellungsräume oder Nachschubdepots der ukrainischen Landstreitkräfte erfolgen, eine weitere Möglichkeit wäre ein Angriff auf ukrainische Seestreitkräfte im Schwarzen Meer.

Ein russisches U-Boot ankert vor Sewastopol auf der Krim.
Ein russisches U-Boot ankert 2019 vor Sewastopol auf der Krim. Die Schwarzmeerflotte ist in der Lage, taktische Atomwaffen einzusetzen. © Getty Images

Auch in diesem Szenario wären die zivilen Opfer vermutlich relativ gering da Systeme mit einer vergleichsweisen geringen Sprengkraft zum Einsatz kommen würden. Die Auswirkungen auf die Umwelt wären allerdings höher als im ersten Szenario, da ein Einsatz gegen Landstreitkräfte zu einem verstrahlten Gebiet führen würde. Schließlich wären auch die ukrainischen Verluste signifikant.

Szenario 3: Ein Angriff auf die kritische (militärische) Infrastruktur

Sollten die ukrainischen Streitkräfte einen signifikanten Schlag gegen russische militärische Führungs- oder Versorgungseinrichtungen oder gar auf politische Zentren, wie zum Beispiel den Kreml, durchführen könnte Russland mit einem Nuklearschlag antworten. Dieser könnte beispielsweise auf militärische Infrastrukturen erfolgen über die die westlichen Waffenlieferungen durchgeführt werden. Genauso wäre ein Angriff auf ein politisches Ziel möglich. Die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung wären umfangreich, da die meisten dieser Ziele sich in oder nahe bei Bevölkerungszentren befinden.

Eine Frage von Stunden

Sind diese Szenarien unmittelbar zu erwarten? Nein, denn im Unterschied zu den strategischen Atomwaffen, die jederzeit einsatzbereit gehalten werden, sind die taktischen Nuklearwaffen in eigenen Depots, getrennt von den Trägermitteln gelagert. Sollte ein Einsatzbefehl erfolgen, würden diese aus den Depots zu den Trägersystemen verbracht und dort einsatzbereit gemacht werden. Dies dauert einige Stunden.

Westliche Staaten beobachten die nuklearen Depots mit unterschiedlichen Überwachungsmitteln. Ein Transport würde mit hoher Wahrscheinlichkeit erkannt werden. Damit würde sich ein Zeitfenster ergeben, um einen solchen Einsatz zu verhindern.

US-Vizeaußenministerin Wendy Sherman sagte im April über Russland: „Wir beobachten, wie gesagt, sehr genau, was sie tun. Wir sind wachsam. Bislang haben wir keine Veränderungen in dem russischen Nukleardispositiv festgestellt, die Änderungen in unserer Nukleardispositiv erfordern.“ Ein Einsatz russischer Nuklearwaffen in der Ukraine ist damit nicht unmittelbar zu erwarten, aber nicht ausgeschlossen.

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Conclusio

Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine droht der Kreml mehr oder weniger offen mit dem Einsatz von Nuklearwaffen. Ein Großschlag mit strategischen Atomwaffen gegen die NATO würde einen gegenseitige Auslöschung bedeuten und ist dementsprechend sehr unwahrscheinlich. Russland könnte jedoch versuchen, mit einem taktischen Einsatz einer Atombombe die Ukraine und ihre Verbündeten zu Konzessionen zu zwingen. Drei Möglichkeiten hätte Moskau dafür: Ein bloßer Atomwaffentest, um die Einsatzbereitschaft zu demonstrieren, oder ein verheerender Schlag gegen Ukrainische Streitkräfte bzw. die Flotte. Und letztlich, könnte Moskau ein politisches oder militärisches Führungszentrum auslöschen. Der Westen hätte ein paar Stunden Vorwarnzeit.

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