Weg mit den Parteien

Viele Bürger misstrauen den Parteien. Unabhängige Persönlichkeiten sollten bessere Möglichkeiten bekommen, sich bei Wahlen durchzusetzen. 

Illustration eines Straßenfegers, der Parteizettel in eine Mülltonne kehrt
Ab in die Mülltonne? Durch das schlechte Image der Parteien büßt auch das Parlament – und damit die Demokratie – an Vertrauen ein. © Michael Pleesz
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Auf den Punkt gebracht

  • Repräsentationskrise. Die Mehrheit fühlt sich vom Staat gegängelt, hält unsere Gesellschaft für weniger tolerant und befürchtet eine Diktatur der Experten.
  • Beutegemeinschaften. Parteien werden wahrgenommen als Zusammenschlüsse von Karrieristen, um persönliche Ziele schneller zu erreichen.
  • Europäische Union. Große Strukturen sind für viele undurchschaubar und unübersichtlich, der Einfluss auf Entscheidungen scheint gering.
  • Persönlichkeitswahlrecht. Wo nicht Programme, sondern Personen im Vordergrund stehen, steigt das Interesse an Politik.

Corona war ein einschneidendes Erlebnis für jeden von uns. Nicht zuletzt die Wahrnehmung von Politik hat sich in diesen Jahren stark gewandelt – und zwar nicht zum Besseren: Die Staatskritik ist seit der Corona-Zeit und den Gegenmaßnahmen der Politik förmlich explodiert, vor allem unter den jungen Staatsbürgern. So sind heute 59 Prozent von ihnen der Auffassung, dass sich der Staat zu viel in die privaten Angelegenheiten der Menschen einmischt, 68 Prozent glauben, dass die Gesellschaft weniger tolerant geworden ist, und 56 Prozent meinen, dass in der Corona-Zeit der demokratische Staat einer Diktatur der Experten gewichen ist.

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Solche und ähnliche Zahlen lassen sich unter dem Begriff Repräsentationskrise des Politischen einordnen. Auch in der Gesamtbevölkerung sind Politikdistanz und Staatskritik derzeit besonders stark ausgeprägt.

Vor allem die politischen Parteien stehen in der Kritik. Von vielen Menschen werden sie nur mehr als „Beutegemeinschaften“ wahrgenommen: als Zusammenschlüsse von Karrieristen, die glauben, mit anderen gemeinsam ihre persönlichen Ziele besser erreichen zu können als allein.

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Zahlen & Fakten

Schon im Jahr 2019 waren fast 90 Prozent der Österreicher der Auffassung, dass Politiker keine Ahnung davon haben, wie es den Menschen geht, und sich auch nicht besonders für deren Anliegen interessieren. Vor allem die mittleren und niedrigen Bildungsschichten stehen den Parteipolitikern besonders skeptisch gegenüber. Das Vertrauen in die Politik liegt gegenwärtig am Boden. In der Gruppe der unter 30-Jährigen finden sich gerade einmal 14 Prozent, die den politischen Parteien vertrauen.

Dabei ist Vertrauen eine Zukunftsinvestition. Nur wer dem politischen System vertraut, so zeigen Studien, blickt zuversichtlich in die Zukunft. Dem derzeit grassierenden Pessimismus liegt also mangelndes Vertrauen in Parteien, Regierung, Parlament und Sozialpartnerschaft zugrunde.

Brauchen wir noch Parteien?

Angesichts des Vertrauensverlusts in die Parteien könnte man sich fragen, ob diese nicht überhaupt verzichtbar wären. Doch gänzlich ohne sie auszukommen wird nicht möglich sein. Politische Parteien, Gewerkschaften und die Interessenvertretung der Wirtschaftstreibenden sind wichtige Bestandteile der Sozialpartnerschaft, die die Konflikte zwischen Arbeit und Kapital moderiert und zivilisiert.

Sinnvoll wäre es jedoch, die Gewichte stärker in Richtung Persönlichkeitswahlrecht zu verschieben. Einzelpersonen, die außerhalb der Parteien stehen, sollten in den Wahlkreisen bessere Möglichkeiten haben, anzutreten und sich durchzusetzen.

Direkte Demokratie

Auch die Aufwertung von Elementen der direkten Demokratie könnte ein Schritt zur Beschränkung der Macht der unbeliebt gewordenen Parteien sein. Allerdings beinhaltet die Forcierung von Volksabstimmungen und -befragungen auch das Risiko, dass der Populismus weiter Auftrieb bekommt. Außerdem besteht die Gefahr, dass Superreiche die Öffnung des politischen Systems ausnutzen. Am Ende könnte nicht eine für die einfachen Menschen partizipativere Demokratie herauskommen, sondern ein Spielplatz von privilegierten Kapitalisten und schwerreichen Tycoons.

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Zahlen & Fakten

Ostberlin, 1954: Plakate werben für eine Volksabstimmung in Reaktion auf die potenzielle Westintegration der Bundesrepublik durch den „Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“
Ostberlin, 1954: Plakate werben für eine Volksabstimmung in Reaktion auf die potenzielle Westintegration der Bundesrepublik durch den „Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“. Die Sowjetunion unterbreitete den alliierten Siegermächten im Gegenzug den Vorschlag, einen Friedensvertrag mit einem vereinigten, neutralen Deutschland einzugehen; letztlich scheiterte der EVG-Vertrag allerdings am Widerstand der französischen Nationalversammlung. © Getty Images

Glossar: Direkte Demokratie

Direkte Demokratie bezeichnet politische Entscheidungsverfahren in einer repräsentativen Demokratie, bei denen die Wahlberechtigten unmittelbar über Sachfragen abstimmen. Als Herrschaftsform, in der die Macht ohne Repräsentanten direkt in Abstimmungen ausgeübt wird, wäre sie nur in kleinen Kommunen vorstellbar, ein Staat lässt sich so nicht führen.

Schon gewusst?

In der Schweiz wird die direkte Demokratie aktiv gelebt. Die vier Mal jährlich stattfindenden Abstimmungen zwingen die Parteien zu permanenter Überzeugungsarbeit, schreibt die Schweizer Politik- und Wirtschaftsphilosophin Katja Gentinetta in ihrem Beitrag Der Staat sind wir!

Schon seit langer Zeit wissen wir, dass das Interesse an der Demokratie und der Wille zur aktiven Teilnahme an demokratischen Verfahren zunehmen, wenn die Nähe zu den politischen Repräsentanten groß und der Entscheidungsraum klein und übersichtlich ist. Dementsprechend ist auch das Gefühl, tatsächlich Einfluss auf die Politik zu haben, bei Wahlen in dörflichen und kleinstädtischen Strukturen am größten. Am geringsten ist dieses Gefühl bei Wahlen zum Parlament der Europäischen Union. Nationale und supranationale Großstrukturen sind für die Menschen undurchschaubar, unübersichtlich und damit verdächtig. Im demokratischen Kleinraum kennt man die Entscheidungsträger persönlich, und die Entscheidungsprozesse erscheinen transparent.

Demokratiepolitische Perspektiven

Dies lässt auch Rückschlüsse auf die Bedeutung des Persönlichkeitswahlrechts zu. Überall dort, wo nicht Programme, sondern Personen im Vordergrund stehen, steigt das allgemeine Interesse an Politik.

Der Grund: Der Bürger der Gegenwart ist postideologisch. Ideologien und politische Weltbilder werden vielfach als zu komplex und unehrlich wahrgenommen. Im Gegensatz dazu erscheinen gut präsentierte Persönlichkeiten als echt und authentisch. An sie kann sich der postideologische Mensch über das Gefühl annähern.

Insofern müssen wir davon ausgehen, dass in der politischen Kommunikation künftig die überzeugende Bildsprache stärker in den Vordergrund treten wird, da die Wähler ihre Entscheidungen immer häufiger intuitiv aufgrund von ästhetischen Wahrnehmungen treffen. Das gute Argument ist längst zum Opfer der bildhaft-präsentativen, auf die Affekte und Emotionen gerichteten Überzeugungstechniken geworden.

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Conclusio

Seit der Corona-Zeit und den Gegenmaßnahmen der Politik ist die Kritik am Staat vor allem bei jungen Menschen förmlich explodiert. Eine Mehrheit der Menschen ist mit dem System unzufrieden und fühlt sich von den Parteien nicht ausreichend repräsentiert. Der Bürger von heute ist postideologisch: politische Weltbilder sind komplex, man orientiert sich zunehmend an authentischen Persönlichkeiten, denen man sich über die Gefühlsebene annähern kann.

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