Pole-Position: Europas neues Zugpferd?

Während große europäische Volkswirtschaften wie Deutschland oder Frankreich straucheln, überzeugt Polen mit Wachstum und Innovationsgeist. Was ist das Geheimnis dieses Erfolgs?

Beitragsbild zum Thema: Polens Wirtschaft. Hochhäuser von Warschau illustrieren den Kontrast zwischen der historischen Planwirtschaft aus der sozialistischen Ära (Ein Hochhaus im Zuckerbäcker-Stil des Ostblocks) und moderneren Glasfassaden neuerer Wolkenkratzer.
Alt und Neu: das Zentrum Warschaus hat sich seit der sozialistischen Ära deutlich verwandelt. Die Monumentalbauten von damals stehen Seite an Seite mit modernen Wolkenkratern. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Schockzustand. 1990 erlebte Polens Wirtschaft 568 Prozent Inflation und Staatsverschuldung von 90 Prozent des BIP.
  • Transformation. Dank einer straffen Reformagenda wurde das Land in drei Jahrzehnten zur sechstgrößten EU-Volkswirtschaft.
  • Klubvorteil. Die EU-Kohäsionspolitik brachte ca. 332 Euro pro Kopf jährlich, der Binnenmarkt rund 1.250 Euro.
  • Talent-Motor: Traditionell hat Polens Bildungssystem einen Fokus auf MINT-Fächer samt sehr hohem Frauenanteil.

Anfang der 1990er-Jahre war Polen eines der ärmsten Länder Europas. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR hatte sogar die Ukraine eine höhere Wirtschaftsleistung. Heute ist Polen die sechstgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union und liegt bei den jüngsten Wachstumsrankings an der Spitze. Wie konnte das Land in nur drei Jahrzehnten einen solchen Wandel vollziehen?

Die Erfolgsgeschichte begann schon vor der Wende 1989, als die Regierung den Weg zum Unternehmertum ebnete. Der Grundsatz lautete: „Alles ist erlaubt, was nicht verboten ist.“ Die neu gewonnene Freiheit führte zu einem Aufschwung der Privatwirtschaft. Innerhalb kurzer Zeit wurden rund zwei Millionen neue Unternehmen gegründet. Dennoch befand sich die Wirtschaft Anfang der 1990er-Jahre in einer tiefen Rezession. 

Schockmoment für Polens Wirtschaft

Die jährliche Inflation lag 1990 bei atemberaubenden 568 Prozent und blieb bis zur Jahrtausendwende im zweistelligen Bereich. Die Staatsverschuldung betrug fast 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP); der Staat musste Geld drucken, um seine Schulden zu bezahlen. Der damalige Finanzminister Leszek Balcerowicz hatte jedoch einen Plan zur Wirtschaftsbelebung: Gemeinsam mit renommierten polnischen Ökonomen und dem US-Entwicklungsökonomen Jeffrey Sachs entwickelte er eine Reformagenda, die als „Balcerowicz-Plan“ bekannt wurde. Fast über Nacht wurde aus der stark regulierten kommunistischen Wirtschaft eine kapitalistische Marktwirtschaft – eine Transformation, die im Nachhinein als „Schocktherapie“ bezeichnet wurde.

Zum ersten Mal waren die Polen mit Arbeitslosigkeit und Preisen des freien Markts konfrontiert.

Der Balcerowicz-Plan holte die Bevölkerung auf den Boden der Realität zurück, indem er den allumfassenden staatlichen Schutz – von der Job- bis zur Preisgarantie – aus der sozialistischen Ära aufhob. Zum ersten Mal seit etwa 45 Jahren wurden die Polen mit Arbeitslosigkeit und den Preisen des freien Markts konfrontiert. 

Kurz und schmerzhaft

Kritiker der „Schocktherapie“ verweisen auf die sozialen Kosten der Reformen und fragen bis heute, ob es einen anderen Weg gegeben hätte. Ein langsameres Reformtempo hätte jedoch mehr Raum für Korruption geschaffen, wie die Erfahrungen in Russland und der Ukraine zeigten. Letzten Endes musste Polen zwischen einer kürzeren Phase des Leidens und einer Verteilung der Lasten über einen längeren Zeitraum wählen. Die Regierung entschied sich für die erste Option.

Die zehn verabschiedeten Gesetze orientierten sich an ordnungspolitischen Prinzipien: Staatsbetriebe verloren ihre Privilegien, das Steuersystem wurde vereinheitlicht und der Handel sowie Investitionen aus dem Ausland liberalisiert. Gleichzeitig legte die Regierung die Grundsteine einer sozialen Marktwirtschaft, indem sie Abfindungen und Arbeitslosengeld einführte.

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Zahlen & Fakten

1997 wurde eine Schuldenbremse in der polnischen Verfassung verankert: Die Staatsverschuldung darf 60 Prozent des BIP nicht überschreiten. Zuletzt lag sie bei 55 Prozent. Im Rahmen der europaweiten Anstrengungen, militärisch nicht mehr auf den Schutz der USA angewiesen zu sein, rüsten die Polen massiv auf – das trug 2023 dazu bei, dass die jährliche Neuverschuldung über die EU-Grenze von drei Prozent des BIP stieg.

Langer Aufschwung

Die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft führten zu einem Aufschwung. Die Wirtschaft wuchs durchgehend stärker als in vielen Nachbarländern, selbst in den Jahren nach der globalen Finanz- und Eurokrise ab 2008.

Erst Corona sorgte 2020 für den ersten Rückgang. Gemessen in Kaufkraftparitäten – also bezogen auf die lokalen Lebenshaltungskosten – und pro Kopf ist der Lebensstandard in Polen heute bereits höher als zum Beispiel in Japan und etwa gleich hoch wie in Israel.

Der Beitritt zur Europäischen Union brachte zusätzliche Impulse. Ähnlich wie die NATO-Mitgliedschaft gilt die europäische Integration für jede Regierung, gleich welcher Couleur, als alternativlos. Die militärischen Ambitionen Russlands und die Erfahrungen mit dem Sozialismus liefern die Erklärung dafür. 

Die Zahlungen an Polen im Rahmen der Kohäsionspolitik der EU sind ein wichtiger Bestandteil der finanziellen Unterstützung, die das Land erhält, um regionale und wirtschaftliche Unterschiede auszugleichen. Pro Kopf erhielt Polen zuletzt etwa 332 Euro im Jahr aus Brüssel. Viel wichtiger als die Mittel aus dem Kohäsionsfonds ist jedoch der gemeinsame Markt, der jährlich laut Studien 1250 Euro pro Bürger einbringt und es den Polen ermöglicht, ihre Industriegüter in den Westen zu exportieren. Zum Wettbewerbsvorteil trug auch bei, dass Polen den Euro nicht eingeführt hat und die Kursentwicklung gegenüber dem polnischen Złoty zu seinen Gunsten nutzen konnte.

Vorsicht, Falle!

Länder wie Polen, die einen schnellen Aufstieg hinter sich haben, können leicht in die sogenannte „middle income trap“ geraten. Wachstumsmotoren sind meist ausländische Investitionen, relativ niedrige Arbeitskosten und Importe mit hoher Wertschöpfung wie Technologie. In den meisten Fällen steigen die Löhne dann schneller als die Produktivität der Arbeitskräfte. Mit der Zeit führt das dazu, dass ausländische Unternehmen weniger investieren.

Aber Polen hatte gute Karten, dieser „Falle“ zu entkommen. Der Grund dafür liegt paradoxerweise in der sozialistischen Ära. Das System versuchte, Chancengleichheit zu schaffen: Das Bildungssystem war egalitär und bot allen eine gute Ausbildung. Daran hat sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nichts Wesentliches verändert. Auch heute noch gehören polnische Schüler laut dem Programme for International Student Assessment (PISA) zu den besten Europas und der Welt. 

Fokus auf Forscherinnen

Die Lehrpläne wurden bereits in den 1990er-Jahren vorausschauend an langfristige Trends angepasst, etwa durch die Stärkung von IT-Kompetenzen im frühen Kindesalter. Ich lernte 1997 als Zwölfjährige programmieren. Auch die Gleichstellung der Geschlechter ist stark von den gesellschaftlichen Normen der Vergangenheit geprägt. Polen gehört zusammen mit Norwegen, Dänemark und der Iberischen Halbinsel zu den Ländern mit dem höchsten Frauenanteil unter den Wissenschaftlern und Ingenieuren. Der Anteil weiblicher Absolventen in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) lag 2021 mit 41,5 Prozent an zweiter Stelle hinter Rumänien. Österreich belegte in diesem Ranking übrigens einen der letzten Plätze mit 28 Prozent. Diese langfristigen Investitionen zahlen sich nun aus. Auf dem Weg aus der „middle income trap“ ist das Humankapital entscheidend. 

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Zahlen & Fakten

International erfolgreich

Zwar ist die Industriequote gemessen am BIP immer noch höher und stabiler als im EU-Durchschnitt und liegt mit 20,4 Prozent etwa gleichauf mit Deutschland, aber der Wandel vor allem im Dienstleistungssektor geht weiter. Polnische IT-Spezialisten und Ingenieure sind gefragt, der Anteil der Informations- und Kommunikationstechnologie an der Wertschöpfung wird auf acht Prozent geschätzt. Ebenso haben sich einige polnische Großstädte als Hubs für Finanztechnologie und -dienstleistungen etabliert. 


Ich lernte in einer polnischen Schule als  Zwölfjährige programmieren

Polnische Unternehmen investieren auch vermehrt im Ausland. Einige bekannte Beispiele sind die Investitionen des Logistikunternehmens InPost (siehe Kasten). Der in Auschwitz ansässige Chemiekonzern Synthos erwarb 2021 eine Fabrik für synthetischen Kautschuk in Deutschland für rund eine halbe Milliarde US-Dollar. CD Projekt, bekannt für die „Witcher“-Computerspiele, übernahm mehrere Unternehmen in den USA und Kanada.

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Zahlen & Fakten

Wo so richtig die Post abgeht


Der Paketzusteller InPost expandiert in einer alteingesessenen Branche in halb Europa.  

Beitragsbild über innovative Unternehmen in Polens Wirtschaft: Eine Paketabholstation in Shipley, UK des polnischen Logistikers InPost
Eine Paketstation von InPost in Shipley (UK)

Monopolbrecher 

Heute ist Rafał Brzoska, Gründer des Zustellers InPost, mit einem Vermögen von über einer Milliarde Dollar einer der reichsten Polen. Begonnen hat er vor zwanzig Jahren als Jungunternehmer in Krakau mit Briefbeschwerern – aber nicht der herkömmlichen Art. Gesetzlich war es nämlich der Polnischen Post vorbehalten, Sendungen bis 50 Gramm auszuliefern. Der private Konkurrent InPost umging dieses Monopol, indem er leichteren Sendungen eine Metallplakette beilegte.  

Durchgesetzt

Das Monopol der Post ließ sich umgehen, aber die Kunden mussten überzeugt werden. Das gelang mit niedrigeren Preisen bei besserem Angebot. Auch Online-Tracking führte der Neuankömmling im Markt ein und wuchs damit zu einem ernsthaften Konkurrenten der Post heran, die 2009 in eine Aktiengesellschaft verwandelt wurde.

Outside the Box 

Die Logistikbranche hatte immer das Problem der „letzten Meile“. Sobald man einzelne Packerl an individuelle Haushalte liefern muss, entstehen enorme Kosten. Die zündende Idee war 2009 daher die Aufstellung von automatischen Abholstationen, „Paczkomaty“, an hochfrequentierten Orten, wie sie mittlerweile auch hierzulande jeder kennt.

Ambitionen

Heute betreibt InPost rund 50.000 dieser Stationen in neun Ländern Europas. Im April übernahm das Unternehmen den britischen Logistiker Yodel und wurde damit zum drittgrößten Zusteller des Landes. Die neuesten Abholstationen können dank Solarenergie unabhängig vom Stromnetz aufgestellt werden und ermöglichen auch entlegenen Gegenden eine Anbindung an das Liefernetzwerk. Seit 2021 notiert das einstige Start-up an der Amsterdamer Börse.


Von Schwäche zu Stärke 

Während man in Österreich mit Abhängigkeiten und Widerstand gegen Veränderungen kämpft, konnten Länder wie Polen neue Strukturen aufbauen. Etwa in der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung oder in der Gesetzgebung. So wurde beispielsweise die Rechnungslegung für private Unternehmen bereits 1994 fast vollständig an internationale Standards angepasst, was Investitionen in Polen erleichtert; etwas Neues zu schaffen, ist oft einfacher, als etwas Altes zu verändern. 

Genau jene Faktoren, die einst Polens Schwäche waren und Ende des 18. Jahrhunderts zu seinem Zusammenbruch führten – der starke Individualismus, ein Hang zu ausgeprägten Freiheiten und vergleichsweise schwache staatliche Strukturen –, sind jetzt ein klarer Vorteil. Im modernen Europa fördern diese Eigenschaften eine rasche und stabile Entwicklung der polnischen Wirtschaft.

Weiterführedne Quellen:

Eintrag zum Balcerowiz-Plan auf Wikipedia

PISA-Bericht zu Polens Schülerleistungen im internationalane Vergleich

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Conclusio

Schocktherapie. Polen ist in drei Jahrzehnten durch die Förderung von Unternehmertum und eine starke Bildungspolitik von einem der ärmsten Länder Europas zur sechstgrößten Volkswirtschaft der EU aufgestiegen.

Nachhaltig. Das Land zeigt vor, wie sich die Wachstumsfalle vermeiden lässt, in der einstige Niedriglohnländer oft landen, wenn Wohlstand und Arbeitskosten ein mittleres Niveau erreicht haben und sie für Investoren nicht mehr rentabel sind.

Vorbild. Für Länder wie Deutschland und Österreich, die mit Wachstumsflauten und stockendem Reformeifer zu kämpfen haben, kann Polen als Vorbild dienen, schmerzhafte Änderungen am besten rasch und umfangreich anzugehen.

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