Polen: Europas neue Militärmacht

Während sich Deutschland mit seiner fatalen Russland- und Energiepolitik massiv schwächte, vollzieht Polen mit seiner Aufrüstung einen rasanten Aufstieg. Wird Warschau künftig zur ersten Adresse für Washington?

Polen, 2022: Soldaten helfen einem Kind beim Anziehen einer Militäruniform während des Rekrutierungspicknicks für den neuen freiwilligen allgemeinen Wehrdienst in Kozienice.
Kozienice, 2022: Soldaten helfen einem Kind beim Anziehen einer Militäruniform während des Rekrutierungspicknicks für den neuen freiwilligen allgemeinen Wehrdienst. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Zeitenwende? Fehlanzeige. Obwohl Deutschlands militärische Unterstützung der Ukraine angezogen hat, mahlen die Mühlen der Bürokratie nur langsam.
  • Zweifel. Polen wiederum wies schon lange auf die militärische Bedrohung durch Russland hin. Die Folge: Das Vertrauen in Deutschland ist massiv gesunken.
  • Zukunft. Polens neue Rolle als Frontstaat in einem systemischen Konflikt wird das Land unweigerlich stärken. Polens Politiker unterstützen das nach Kräften.
  • Zwist. Deutschland wird aktuell nicht als attraktiver Partner angesehen. Auch das macht Polen öffentlich – und setzt stattdessen auf eine Annäherung an die USA.

Deutschlands Russland-, Ukraine- und Energiepolitik ist spätestens seit dem völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine Ende Februar letzten Jahres gescheitert. Es handelt sich um eines der größten Versagen der deutschen Außenpolitik seit 1949. Verantwortlich dafür sind alle Bundesregierungen seit dem Ende des Kalten Kriegs mit breiter Unterstützung durch die Wirtschaft und die Öffentlichkeit in Deutschland. Das Erwachen aus dem Russland-Traum war allerdings auch in anderen europäischen Staaten zu beobachten. 

Mehr Sicherheitspolitisches

Neben der verfehlten Energiepolitik verfolgte die deutsche Bundesregierung eine naive Sicherheitspolitik, die nach dem Ende des Kalten Kriegs eine möglichst hohe Friedensdividende einfahren wollte. Die Verteidigungsausgaben wurden so weit zurückgefahren, dass ernsthafte Zweifel an der Einsatz- und Bündnisfähigkeit der Bundeswehr aufkamen. Gerechtfertigt wurde diese Politik mit dem fragwürdigen Konzept, Sicherheit in Europa sei nur mit Russland und nicht gegen oder ohne Russland möglich – ein fataler Fehler, der selbst nach der Erosion der Rüstungskontrollarchitektur, eines Stützpfeilers der euroatlantischen Sicherheitsordnung, nicht in Zweifel gezogen wurde.

Deutschland glaubte, Russland in ein kooperatives Sicherheitssystem einbinden zu können, ohne zu merken, dass Moskau hieran nicht nur kein Interesse hatte, sondern alles tat, um die liberalen Wertegrundlagen dieses Systems, denen man einst offiziell zugestimmt hatte, zu zerstören. Zudem sahen die deutschen Eliten die Entwicklungen östlich der Grenzen von EU und NATO hauptsächlich durch das Moskauer Prisma. So wollte man beim Angriff auf Georgien 2008 und im Konflikt um die Krim und den Donbas 2014 einen Modus Vivendi mit Russland finden, um die Krisen einzudämmen, einen Flächenbrand zu vermeiden und die wirtschaftlich vorteilhafte Zusammenarbeit mit Moskau nicht zu gefährden.

Mann vor einem Anti-Putin-Poster in Warschau, 2014
Warschau, 2014: In Polen herrscht schon lange eine negative Sicht auf Putin vor. 2014 sank die positive Meinung zu Russland in der Bevölkerung auf 12 Prozent, seit 2022 hat sie laut einer Studie des Pew Research Center ein Allzeittief von 2 Prozent erreicht. © Getty Images

Dabei übersah man den zunehmenden Widerspruch zwischen der Handlungsmaxime „Wandel durch Handel“ und der immer offensichtlicheren autokratischen und aggressiven russischen Innen- und Außenpolitik. 

Deutschland wollte nicht hören

Die mittelosteuropäischen Partner, insbesondere Polen und die baltischen Staaten, haben immer wieder auf diese Fehlentwicklungen hingewiesen; aber wenige in Deutschland wollten es hören. Schon gar nicht waren die Entscheider bereit, die Grundlagen dieser Politik – abgesehen von begrenzten Sanktionen gegenüber Moskau im Gefolge der Krim-Annexion und der Kämpfe im Donbas – in Zweifel zu ziehen. Dadurch ist insbesondere im östlichen Teil von EU und NATO ein Glaubwürdigkeitsproblem für Deutschland entstanden, das den Einfluss der deutschen Außen-, Sicherheits- und Europapolitik in der Region und gegenüber unseren EU- und NATO-Partnern insgesamt massiv geschwächt hat. 

Die von der deutschen Ampelkoalition verkündete Zeitenwende, die zunächst an der östlichen Flanke von NATO und EU große Erwartungen geweckt hatte, vermochte bisher nicht, den entstandenen Vertrauensverlust wieder wettzumachen. Schuld daran sind auch Kommunikationspannen und eine gewisse Zögerlichkeit bei der Umsetzung. Während die deutsche Abhängigkeit von russischer Energie auf null zurückgefahren wurde und Deutschland bei der militärischen Unterstützung der Ukraine mittlerweile einen Spitzenplatz hält, hapert es weiter deutlich bei der Realisierung des 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögens für die Bundeswehr, auch aufgrund der bürokratischen Prozesse bei der deutschen Rüstungsbeschaffung.

Kernkraft-Divergenzen

Der Vertrauensverlust in Deutschland bewirkte eine Schwächung des deutschen Einflusses im östlichen Teil von EU und NATO, in dem dieser traditionell – im positiven wie im negativen Sinne – stark war. Weitere Differenzen kündigen sich an. Während Deutschland aus der Kernenergie ausgestiegen ist, plant Polen den Bau von insgesamt sechs Atomreaktoren, die bis 2040 sukzessive ans Netz gehen sollen.

Diese Entwicklung geht einher mit einer objektiven Stärkung Polens als Frontstaat in einem neuen systemischen Konflikt, ähnlich der Rolle Deutschlands im Kalten Krieg. In dieser Konstellation arbeitet die nationalkonservative polnische Regierung darauf hin, die deutsche Rolle weiter zu schwächen. Während die Bundesregierung deutlicher denn je ihre Bereitschaft erklärt, eine Führungsmacht zu sein, fordert der polnische Außenminister öffentlich deutsche Selbstbeschränkung. 

Die polnische Regierung arbeitet darauf hin, die deutsche Rolle zu schwächen.

Begleitet wird diese Strategie Polens von im Wesentlichen innenpolitisch begründeter massiver öffentlicher Kritik an der deutschen Politik, die auch vor Zuschreibungen wie „Imperialismus“ (Ministerpräsident Mateusz Morawiecki) und „Viertes Reich“ (Jarosław Kaczyński, Chef der größten Regierungspartei PiS) nicht zurückschreckt.

Zugleich reizt man die deutsche Gesellschaft durch astronomische Entschädigungsforderungen. Dies alles geschieht in einem Moment, in dem sich Deutschland im Hinblick auf die europäische Ostpolitik auf Polen zubewegt hat wie nie zuvor und westliche Geschlossenheit gegenüber der aggressiven russischen Politik notwendiger denn je wäre. 

Attraktiver US-Partner

Hinter der polnischen Politik steht ein Konzept, das im Sinne eines Nullsummenspiels von der deutschen Schwäche profitieren, sich als prioritärer Partner der Vereinigten Staaten in Europa profilieren und insgesamt seine angekratzte Stellung in der EU stärken will. Als Aktivposten kann Warschau einiges ins Feld führen: seine vergleichsweise hohen Verteidigungsausgaben, die 2022 vier Prozent der Wirtschaftsleistung erreichen sollen, die bewundernswerte Aufnahme des größten Kontingents ukrainischer Kriegsflüchtlinge sowie die Stationierung von etwa 10.000 US-Soldaten auf polnischem Territorium einschließlich eines permanenten Hauptquartiers in der Nähe von Posen. 

Keine Frage: Polens Gewicht im Nordatlantikpakt wird zunehmen. Aber wird damit auch ein größerer Einfluss einhergehen? Die relative Höhe des für 2022 angestrebten polnischen Verteidigungsbudgets klingt zwar im NATO-Vergleich imposant, in absoluten Zahlen bringt der polnische Militärhaushalt aber nur ein Drittel der deutschen Verteidigungsausgaben auf die Waage.

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Zahlen & Fakten

Lettland, 2023: Ein polnischer T-72-Panzer feuert auf dem Truppenübungsplatz Adazi
Lettland, 2023: Ein polnischer T-72-Panzer feuert auf dem Truppenübungsplatz Adazi. Die Live-Feuerdemonstration war Teil der Übung Crystal Arrow 23. © NATO Copyright 2023

Polens militärische Stärke

  • Polen nimmt Platz 20 im Global Firepower Ranking 2023 ein. Die ersten drei Plätze werden von den USA, Russland und China belegt. Deutschland ist auf Platz 25.
  • Nach Angaben des Verteidigungsministers Mariusz Błaszczak wurden 2022 fast 14.000 neue Rekruten aufgenommen – die höchste Zahl seit Ende der Wehrpflicht 2008.
  • Warschau will seine Verteidigungsausgaben auf bis zu 5 Prozent des BIP anheben. Bis 2035 will das Land 524 Milliarden Złoty (etwa 116 Mrd. Euro) für das Militär ausgeben.
  • Polen verfügt bereits über mehr Panzer und Haubitzen als Deutschland und ist auf dem besten Weg, seine Armee bis 2035 auf 300.000 Mann zu vergrößern – verglichen mit 170.000 Mann in Deutschland.
  • Im Frühjahr 2022 unterzeichnete Polen einen Vertrag im Wert von 23 Milliarden Złoty (4,9 Milliarden Euro) über 250 Abrams-Panzer aus den USA – ein schneller Ersatz für die 240 Sowjetära-Panzer, die an die Ukraine geliefert wurden. Zusätzlich wurde ein Vertrag über 32 F-35-Flugzeuge im Wert von 4,6 Milliarden Euro abgeschlossen.

Die USA werden aufgrund der Stationierung ihrer Soldaten an einem engen Verhältnis zu Polen interessiert sein. Aber zumindest die derzeitige Administration hat kein Interesse an einer Dauerfehde zwischen Warschau und Berlin und ermutigt die polnische Regierung, ihren Zwist mit Berlin bei den Entschädigungsforderungen und mit den europäischen Institutionen in der Rechtsstaatsfrage beizulegen.

Auch Polens Fähigkeit zu Koalitionsbildungen ist mit dem Ukraine-Konflikt nicht in alle Richtungen gewachsen. Während die sogenannte Bukarest-Neun-Gruppierung von NATO-Mitgliedern an der Ostflanke gedeiht, verliert die Visegrád-Gruppe an Bedeutung. Ungarn driftet in der Russland- und Ukrainepolitik ab, und hochrangige tschechische Politiker bekunden offen ihre Präferenz für eine deutsche Führungsrolle. 

Machtkampf in der EU vermeiden!

Die polnische Regierung hat massiv Panzer und Haubitzen in Südkorea bestellt. Erste Ladungen sind bereits eingetroffen. Offenbar vertraut Warschau dem ostasiatischen Land mehr als seinen europäischen Partnern. Jenseits der Frage, ob diese Waffensysteme mit den europäischen harmonieren, ist dies ein deutlicher Misstrauensbeweis gegenüber der europäischen Rüstungsindustrie und wohl auch gegenüber der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. 

Am Ende wird es aber darauf ankommen, einen Machtkampf in der EU zu vermeiden und Europa so zu stärken, dass es in einem neuen systemischen Konflikt mit Russland als zweite wichtige Territorialmacht bestehen kann. Hierzu können und sollten Deutschland und Polen einen wichtigen Beitrag leisten. Deutschland und Frankreich können diesen Prozess nicht allein steuern. Das Weimarer Dreieck aus Deutschland, Frankreich und Polen, gegebenenfalls ergänzt um die Ukraine – wenn es um Fragen geht, die die Ukraine betreffen –, könnte hierbei eine wichtige Rolle spielen.

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Conclusio

Osteuropäische Länder wie Polen haben immer wieder auf die Fehlentwicklungen der deutschen Russland- und Energiepolitik hingewiesen; aber wenige wollten es hören. Dadurch ist ein Vertrauensverlust entstanden, der den deutschen Einfluss im östlichen Teil von EU und NATO geschwächt hat. Diese Entwicklung geht einher mit einer objektiven Stärkung Polens in einem neuen systemischen Konflikt mit Russland. Polen hofft, von der deutschen Schwäche zu profitieren, sich als prioritärer Partner der USA in Europa zu profilieren und seine angekratzte Stellung in der EU zu stärken. Polens Gewicht wird zunehmen, aber ob dem ein größerer Einfluss folgen wird, steht dahin. Nicht ein deutsch-polnischer Machtkampf, sondern vielmehr eine gemeinsame Bemühung um eine starke und handlungsfähige Union ist jetzt notwendiger denn je.

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