Wir sind die Bösen

Der vor allem an US-Universitäten boomende Postkolonialismus ist eine Ideologie, die auf Geschichtsfälschung beruht und totalitäre Züge hat.

Die Illustration zeigt einen Hut, der an einem Nagel an der Wand hängt. Das Bild illustriert einen Artikel zum Thema Postkolonialismus.
Vor Jahrhunderten begangene Verbrechen europäischer Kolonialmächte wirken nach und müssen heute gesühnt werden: Das ist im Wesentlichen die Theorie des Postkolonialismus, die vor allem an US-Universitäten einen Boom erlebt. Der Historiker Heiko Heinisch hält diese Ideologie für gefährlich und totalitär. © Francesco Ciccolella
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Auf den Punkt gebracht

  • Ideologie. In der postkolonialen Geschichtsbetrachtung geht alles Übel auf den Westen zurück, der den „globalen Süden“ immer schon unterjocht hat.
  • Geschichtsfälschung. Andere Imperien wie etwa das Osmanische oder das Russische Reich werden dabei ebenso ignoriert wie Imperien früherer Zeiten.
  • Menschenrechte. Sklavenhandel gab es schon tausend Jahre vor den Europäern. Es waren europäische Staaten, die die Sklaverei als erste geächtet und verboten haben.
  • Totalitarismus. Die postkoloniale Bewegung ist eine Kampfansage an die westlich liberale Demokratie und damit ein Frontalangriff auf Freiheit und Demokratie.

„Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit“, heißt es in George Orwells Roman 1984. Der Satz kann als unausgesprochenes Motto der postkolonialen Bewegung betrachtet werden. Ihre Proponenten arbeiten an nichts Geringerem als einer Neufassung der Geschichte der Menschheit.

Mehr Geschichte

Denk- und Zitierverbote, die Zensur historischer Dokumente und Schriften oder deren Entsorgung aus Bibliotheken – die Bewegung geht mit einigem Furor gegen kulturelle Errungenschaften und Grundlagen des Westens vor. Dabei vertritt sie a priori die Gewissheit, dass der Westen für alles Schlechte dieser Welt verantwortlich sei: Ob Imperialismus und Kolonialismus, Rassismus und Ausbeutung, Sexismus und Homophobie, die Wurzeln aller Übel werden im Westen gesucht und gefunden. Eine Ausnahme bildet der Antisemitismus: In einer spektakulären gedanklichen Verrenkung werden Juden nicht als dessen Opfer, sondern als Profiteure gesehen; werden die nach wie vor weltweit von Antisemitismus Bedrohten als die modernen Vertreter des Kolonialismus betrachtet. Die Juden als Personifikation des Tätervolkes.

Infantile Rechthaberei

Ausgestattet mit einer stabilen Resistenz gegenüber Fakten sowie gegenüber anderen Deutungen und Meinungen, picken die Anhänger der postkolonialen Bewegung jene Bausteine aus dem langen Lauf der Geschichte, die ihre ideologischen Prämissen stützen. Oder sie schreiben die Geschichte einfach um.

Zutiefst überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen, entgeht ihnen, dass sie dabei jenem Eurozentrismus frönen, den zu bekämpfen sie vorgeben. Mit infantiler Rechthaberei erklären sie die gesamte außereuropäische Menschheit zum Objekt westlichen Handelns. Einzig die Europäer und in der Folge die Nordamerikaner stehen als Subjekte auf der Bühne der Weltgeschichte und bestimmen den Fortgang des Stücks.

Die Anhänger des Postkolonialismus arbeiten an  nichts Geringerem als einer Neufassung der  Geschichte der Menschheit.

Angelpunkt der postkolonialen Geschichtsbetrachtung ist die Idee einer fünfhundertjährigen Vorherrschaft des Westens, die den „globalen Süden“ mit rassistischer Ausgrenzung und Genoziden überzogen habe. Andere Machtzentren wie etwa das Osmanische oder das Russische Reich werden in dieser Geschichtsbetrachtung ebenso ignoriert wie Imperien früherer Zeiten; sie passen nicht ins postkoloniale Narrativ, das die Welt in einen eindeutigen Täter (der Westen) und ein ebenso eindeutiges Opfer (der globale Süden) teilt.

5.000 Jahre Imperialismus

Dabei tritt „der Westen“ als politische Macht erstmals im 8. Jahrhundert in Erscheinung, als die Franken unter Karl Martell den militärischen Vorstoß der arabisch-islamischen Expansion bei Poitiers stoppten – in einem Verteidigungskrieg gegen den arabisch-islamischen Imperialismus. Die Grenzen des Kontinents überwanden europäische Imperien erst im 15.  Jahrhundert, wenn wir die antiken Imperien der Römer und Griechen außer Acht lassen, die aber ebenfalls nicht die ersten der Menschheitsgeschichte waren.

Imperien gibt es seit rund 5.000 Jahren. Ob Ägypter, Sumerer, Babylonier, Assyrer oder Perser, ob Azteken, Osmanen, Russen oder Mongolen: Sie alle versuchten, ihre Einflusssphäre so weit wie möglich auszudehnen. Der Imperialismus wurde ebenso wenig vom Westen erfunden wie die Sklaverei. Der Westen brachte jedoch erstmals in der Geschichte eine Kultur hervor, die zur weltweiten Ächtung der Sklaverei führte und sich kritisch mit den eigenen Verbrechen der Vergangenheit auseinandersetzt.

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Zahlen & Fakten

Historische Imperien

Die Illustration zeigt Genghis Khan, der Gründer und erster Großkhan des Mongolenreichs war, in einer Schlacht. Das Bild illustriert einen Artikel zum Thema Postkolonialismus.
Genghis Khan war der Gründer und erste Großkhan des Mongolenreichs, das nach seinem Tod das größte zusammenhängende Reich der Geschichte wurde. Nach der Gründung des Reiches startete er die mongolischen Invasionen, die schließlich den größten Teil Eurasiens eroberten und bis nach Polen im Westen und Ägypten im Süden reichten. © Getty Images

Vor 5000 Jahren. Die Ägypter gründen ihr erstes Reich, dem im Laufe der Jahrtausende weitere folgen sollten. Diese Reiche stehen in steter Konkurrenz zu den seit gut 4000 Jahren in Mesopotamien durch Kriege und Eroberungen entstehenden und wieder vergehenden Imperien der Sumerer, Babylonier, Assyrer und Perser.

Vor etwa 3500 Jahren. Das ägyptische Imperium dehnt sich bis zum Euphrat aus, im 7. Jh. v. Chr. besetzen die Assyrer Teile Ägyptens.

3. Jhdt. v. Chr. Das Römische Reich steigt zum ersten „europäischen“ Imperium auf, das um 150 herum Europa, Anatolien und Nordafrika sowie das gesamte Mittelmeer beherrscht.

5. Jhdt. Der Westteil des Römischen Reiches zerfällt, Ostrom überlebt als Byzantinisches Reich fast weitere 1000 Jahre, von denen die ersten hundert durch stete Auseinandersetzungen mit dem Persischen Reich bestimmt sind. 

7. Jhdt. Der rasante Aufstieg des Arabischen Reichs beginnt. Nachdem es das Byzantinische Reich um zwei Drittel seines Territoriums beraubt hat, verleibt es sich 651 das Perserreich ein. Auf dem Höhepunkt seiner Macht Mitte des 8. Jahrhunderts dehnt sich das arabische Imperium vom heutigen Portugal im Westen bis zum heutigen Pakistan im Osten aus. Es umfasst Nordafrika, den Nahen Osten, Syrien, Irak, Iran und reicht von der Arabischen Halbinsel im Süden bis zur Grenze des heutigen Georgiens und zum Aralsee im Norden. Die christlichen und zoroastrischen Kerngebiete sind unterworfen. 

9. Jhdt. Das Frankenreich, dessen allmählicher Aufstieg im 5. Jahrhundert begonnen hatte, erreicht unter Karl dem Großen seine größte Ausdehnung.

12. Jhdt. In Südamerika schaffen die Inkas bis zum 16. Jahrhundert ein Imperium, jenes der Azteken währt vom Anfang des 14. Jahrhunderts bis zur Ankunft der europäischen Eroberer.

13. Jhdt. Osteuropa wird von mongolischen Heeren bedrängt. Das Mongolenreich sollte schließlich das größte zusammenhängende Herrschaftsgebiet der Geschichte umfassen, das Ende des 13. Jahrhunderts tief nach Europa hereinreicht.

14. Jhdt. Die Osmanen begründen ein Imperium, das binnen eines Jahrhunderts das Byzantinische Reich endgültig zerstören sollte. In der Türkei wird die Eroberung der byzantinischen Hauptstadt Konstantinopel im Jahr 1453 noch heute jedes Jahr am 29. Mai gefeiert. Zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung beherrscht das Osmanische Imperium das östliche und südliche Mittelmeer, das Gebiet vom Balkan bis nach Persien und zeitweise um das Schwarze Meer herum. Parallel dazu beginnt im 16. Jahrhundert der Aufstieg des Russischen Reichs.

Erst im 15.  Jahrhundert begann der allmähliche Aufstieg europäischer Mächte, verbunden mit der Kolonisierung entfernter Kontinente. Was nach einer Besonderheit aussieht – einzelne Staaten unterwerfen weit von ihrem Zentrum entfernte Gebiete –, ist in Wahrheit nur Folge der Entwicklung der Seefahrt. Jedes der vorherigen Imperien hat all jene Gebiete unterworfen, zu deren Eroberung es die nötigen Ressourcen besaß und technisch in der Lage war. Der Griff nach fernen Kontinenten war erst mit hochseetauglichen Schiffen möglich – und jene, die sie entwickelt hatten, nutzten ihre Möglichkeiten.

Zur gleichen Zeit dehnten auch Mächte außerhalb Europas ihre Herrschaftsgebiete aus. 1453 eroberten die Osmanen Konstantinopel, immerhin 39  Jahre bevor Kolumbus die Küsten Amerikas erreichte. Die letzte unabhängige Stadt auf dem heutigen griechischen Festland, Mystras, nahmen die Osmanen 1460 ein. 

Etwa gleichzeitig gelang es Russland unter Iwan dem Großen, nachdem er die mongolische Herrschaft abgeschüttelt hatte, den Grundstein für das spätere russische Imperium zu legen. Während die Portugiesen Madeira, die Azoren und erste Gebiete im nordwestlichen Afrika in Besitz nahmen, drangen die Osmanen nach Europa vor, wo sie 1440 erstmals Belgrad belagerten. Und während die Spanier zwischen 1519 und 1521 das heutige Mexiko eroberten und das Reich der Azteken vernichteten, eroberten die Osmanen 1521 Belgrad, ein Jahr später Rhodos, um 1526 schließlich die Ungarn zu schlagen und 1529 erstmals vor den Toren Wiens zu stehen. Seine größte Ausdehnung erreichte das Osmanische Reich gegen Ende des 17. Jahrhunderts, sein Ende fand es erst nach dem Ersten Weltkrieg.

In diesem Zeitraum eroberte Russland ein Imperium, das von der Ostsee und dem Schwarzen Meer im Westen bis zum Pazifischen Ozean im Osten reichte und fast ein Sechstel der Landmasse der Erde umfasste.

Geschichte der Sklaverei

Als die Portugiesen Ende des 15. Jahrhunderts mit Handelsniederlassungen an der afrikanischen Westküste in den Sklavenhandel einstiegen, übernahmen sie ein System, dessen Anfänge tausend Jahre in die Vergangenheit reichten und das schon lange nach Hautfarben organisiert war – also nach einem Kriterium, das wir heute als rassistisch bezeichnen.

Im 6. Jahrhundert nach Christus betrieben die Sassaniden in Persien große Zuckerplantagen, auf denen vor allem ostafrikanische Sklaven arbeiten mussten. Den „Nachschub“ organisierten arabische Sklavenhändler. Das Arabische Reich entwickelte einen schwunghaften Sklavenhandel, der zum Teil rassistischen Kriterien folgte. Das Emirat Bahrain etwa verfügte im 11. Jahrhundert laut Schätzungen über 30.000 schwarze Arbeitssklaven, in Basra wurden im Zeitalter der Abbasiden-Kalifen zehntausende afrikanische Sklaven zu Entwässerungsarbeiten eingesetzt.

Durch die islamische Expansion im 7. und 8. Jahrhundert entstand ein riesiges Imperium, dessen afrikanische Randgebiete sich in Sklaven-Lieferzonen verwandelten. Die von Norden nach Süden fortschreitende Islamisierung des Kontinents und die Ausweitung des Sklavenhandels hängen eng zusammen.

In Afrika gab es zwar bereits in vorislamischer Zeit Sklaverei, aber deren Ausmaß war bescheiden. Erst das Vordringen islamischer Eroberer und der stetig steigende Bedarf an Arbeitskräften in ihren Metropolen wie Bagdad, Damaskus, Kairo und später Konstantinopel führten zur ständigen Ausweitung der Lieferzonen in Regionen südlich der Sahara und verheerte riesige Gebiete für Jahrhunderte.

Diese Entwicklung begann, 700 Jahre bevor die ersten Europäer an den Küsten Schwarzafrikas landeten und Sklaven kauften. Ohne das Verständnis für diesen Teil der afrikanischen Geschichte begreift man weder die Entwicklung der Sklaverei noch deren desaströse Folgen, unter denen weite Teile Afrikas bis heute leiden. Das Entstehen einer abolitionistischen Bewegung, die letztlich die Ächtung und das weltweite Verbot der Sklaverei erzwang, ist der demokratischen Öffentlichkeit in einigen europäischen Staaten zu verdanken. 

Den ersten Schritt machte Frankreich. Aufgeschreckt durch den Sklavenaufstand von Haiti, erklärte die französische Nationalversammlung 1794 die Sklaverei in allen französischen Territorien für abgeschafft. 

1807 folgte das britische Parlament mit einem generellen Verbot des Sklavenhandels innerhalb des britischen Reichs, dem sich ein Jahr später die USA anschlossen. Zunächst wurde nur der Handel mit Sklaven verboten, ihr Besitz war weiterhin erlaubt. Auf dem Wiener Kongress 1815 beschäftigte sich eine eigene Kommission mit dem Sklavenhandel. Im Anschluss an die Beratungen unterzeichneten acht europäische Monarchien (Portugal, Spanien, England, Frankreich, Österreich, Preußen, Russland und Schweden) die bekannte Deklaration vom 8. Februar 1815. 

Das Umschreiben der Geschichte ist ein Merkmal von modernen Diktaturen und totalitären Bewegungen.

Darin erklärten die Unterzeichnerstaaten, dass der Sklavenhandel schändlich und verdammenswert sei, und verpflichteten sich, an dessen Abschaffung mitzuwirken. 1817 und 1823 folgten Verträge zwischen Portugal und Spanien, die die gegenseitige Durchsuchung von Schiffen erlaubten. 1833 verbot das britische Parlament die Sklaverei im gesamten Empire und setzte 1841 bis zu 15 Prozent seiner Marine ein, um den Sklavenhandel entlang der afrikanischen Küsten zu unterbinden.

Angriff auf die europäische Kultur

In Orwells „1984“ heißt es: „Jede Aufzeichnung wurde vernichtet oder verfälscht, jedes Buch überholt, jedes Bild übermalt, jedes Denkmal, jede Straße und jedes Gebäude umbenannt, jedes Datum geändert. Und dieses Verfahren geht von Tag zu Tag und von Minute zu Minute weiter. Die Geschichte hat aufgehört. Nichts existiert außer einer endlosen Gegenwart, in der die Partei immer recht hat.“

Es ist ein Merkmal moderner Diktaturen und totalitärer Bewegungen, die Geschichte umzuschreiben, um aus dieser adaptierten Vergangenheit die Legitimation für das eigene totalitäre Handeln ableiten zu können. In diesem Sinne sind auch die Vertreter der postkolonialen Theorie nicht an historischen Fakten und Wahrheit interessiert. Es geht ihnen nicht darum, die Vergangenheit adäquat zu beschreiben und daraus Schlüsse für die Zukunft abzuleiten, sondern einzig um die Legitimierung ihrer Ideologie und das damit verbundene Streben nach Macht.

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Conclusio

Im Zentrum postkolonialer Geschichts­betrachtung steht das Bild einer immerwährenden Vorherrschaft des Westens, die alles Übel in die Welt gebracht habe. Der Kolonialismus bestimme die Pro­duktion von Wissen und legitimiere mit diesem seine koloniale Herrschaft, wäh­­rend die ehemaligen Kolonien weiterhin durch eine eurozentrische Sichtweise, den „kolonialen Blick“, beherrscht würden. Der Versuch der postkolonialen Bewegung, die Geschichte der Menschheit entlang der ideologischen Prämisse, der Westen sei an allem schuld, umschreiben zu wollen, ist eine Kampfansage an die westlich liberale Demokratie und damit ein Frontalangriff auf Freiheit und Demokratie. Den Proponenten dieser Bewegung muss entschieden entgegengetreten werden, sonst gleiten wir langsam, aber stetig in die Orwell’sche Dystopie ab.

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