Wie Jugoslawien zerfiel

Die internationale Staatengemeinschaft hat in Jugoslawien versagt. Wird sie es in der Ukraine wieder tun? Ein geschichtlicher Rückblick.

Eine Frau in einem gelben Pullover kniet zwischen Grabmälern aus Holz mit den Namen von Toten. Sie weint und hat eine Hand ein einen Grabhügel gelgt. Das Bild wurde in den ersten Monaten der Belagerung von Sarajewo aufgenommen. Der Jugoslawienkrieg war das Ende von Jugoslawien.
Sarajevo im August 1992. Zu dem Zeitpunkt steht die Stadt seit vier Monaten unter Belagerung und wird von serbischen Truppen beschossen. 11.000 Menschen wurden getötet, etwa 56.000 Menschen schwer verletzt. Die Stadt wurde durch eine Luftbrücke versorgt. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Habsburger Zierde. Das Kaiserhaus schmückte sich mit dem Königreich Iryllien, marginalisierte die slawisch sprechende Mehrheit aber politisch.
  • Dominanz. Das erste Jugoslawien wurde von Serbien dominiert, nicht das gemeinsame Haus, sondern regionale Vorherrschaft war das Ziel.
  • Kontinuität. Das kommunistische Jugoslawien förderte die Nationalismen, um den Zusammenhalt nicht zu gefährden, was aber das Gegenteil bewirkte.
  • Passivität. Die internationale Staatengemeinschaft sah dem Nationalismus und den Kriegsverbrechen im Jugoslawienkrieg zu lang zu.

Was kann uns die Geschichte der Entstehung und des Zerfalls von Jugoslawien über die Zukunft Europas sagen? Wie stabil ist die internationale Gemeinschaft? Warum hat sie die Kollateralschäden des Zerfalls von Jugoslawien nicht verhindert? Eine Zeitreise in historischen Vignetten.

Mehr Geschichte

Deutsch Wagram, Habsburgermonarchie, 5. bis 6. Juli 1809. Vor den Toren Wiens besiegte Napoleon 1809 mit seiner Armee die Truppen der Habsburger. Der Blutzoll war hoch. In der Schlacht am Wagram verloren 78.000 französische und österreichische Soldaten ihr Leben.

Der Frieden von Schönbrunn beendete den Konflikt. Er führte kurzfristig zu einer Neuordnung der politischen Landkarte Europas. Das Haus Habsburg musste seine westlichen Landesteile von Salzburg über Nord- und Süd-Tirol bis Vorarlberg an Bayern abtreten.

Jacques Francois Joseph Swebach, Die Überquerung der Donau durch Napoleon vor der Schlacht von Wagram, Öl auf Leinwand 1810.
Vor der Schlacht von Wagram in einer zeitgenössischen Darstellung von Jacques Francois Joseph Swebach 1810, also ein Jahr später. So geordnet wie auf diesem Bild verlief die Überquerung der Donau nicht. © Getty Images

Zeugnisse des lokalen Widerstands sind immer noch gegenwärtig: Bis heute erinnern Andreas Hofer-Denkmäler, Lieder und Feiern an diese Periode der Fremdherrschaft. Der Süden der Donaumonarchie ging direkt an Frankreich: Osttirol und Oberkärnten über die Krain, Triest, Istrien und der Westen Kroatiens bis nach Dalmatien. Die seit Jahrhunderten unabhängige Republik Ragusa mit dem Zentrum Dubrovnik wurde ebenfalls annektiert. Die Franzosen nannten die neu erworbenen Gebiete ihre „Provinces Illyriennes“, Illyrische Provinzen, und machten Laybach (Ljubljana, Laibach) zur Hauptstadt.

Illirien und die Folgen

Die Bezeichnung illyrisch verwies auf die Antike, als diverse illyrische Stämme zwischen Adria und Donau siedelten. Schon seit der Renaissance hatte es einige einheimische Dichter und Intellektuelle gegeben, die diese Illyrer zu direkten Vorfahren aller Südslawen erklärt hatten.

In Oberitalien und im Alpen-Adria-Raum blieb die von Napoleon geschaffene politische Neuordnung nur eine Episode. Im August 1813 erklärte Österreich Frankreich den Krieg. Bereits 1814 hatten sich österreichische Truppen die verlorenen Gebiete wieder zurückgeholt. Dubrovnik wurde dabei zwar befreit, aber von Österreich behalten. Der Wiener Kongress (18. September 1814 bis 9. Juni 1815) etablierte die alte Ordnung neu.

Anders als in Tirol und Vorarlberg spielte die „Franzosenzeit“ im kollektiven Gedächtnis Kärntens keine Rolle. Aber die kurze Existenz der Illyrischen Provinzen zwischen Ljubljana, Zagreb und Dubrovnik wurde zur Grundlage einer politischen und kulturellen Vision: ein gemeinsames politisches „Dach“ für alle südslawischen Völker.

Für dieses gemeinsame Dach kämpfte die im 19. Jahrhundert entstandene illyrische Bewegung. Anfangs ging es um den Erhalt der Illyrischen Provinzen unter gemeinsamer Verwaltung. Dieses Ziel scheiterte schon 1815/16 am Widerstand des habsburgischen Kaisers. Am Wiener Hof schmückte man sich zwar gerne mit dem neu geschaffenen Titel eines „Königs von Illyrien“, war aber gegen ein einheitliches Kronland unter Habsburgischer Herrschaft. Die alten Kronländer wurden in ihren Grenzen von vor 1809 wiederhergestellt. Das kroatische Kernland um Zagreb ging verwaltungstechnisch zurück an Ungarn.

Die Donaumonarchie und die Slawen

Kumrovec, Kroatien, 7. Mai 1892. Slawisch sprachige Schriftsteller, Intellektuelle, Historiker und Politiker formten im 19. Jahrhundert in der Habsburgermonarchie zuerst eine austroslawisch geprägte illyrische Bewegung. Ihr Ausgangspunkt war die ethnisch-demographische Realität des 19. Jahrhunderts. Bürgerinnen und Bürger mit slawischer Muttersprache waren in der Donaumonarchie in der Überzahl. Jene, die Deutsch oder Ungarisch sprachen, waren in der Minderheit. Etliche slawische Politiker und Intellektuelle plädierten deshalb für die Schaffung großer selbstverwalteter Kronländer mit slawischer Amtssprache.

Schon seit den frühen 19. Jahrhundert existierten auf dem Balkan Bestrebungen, die Gemeinsamkeit aller Südslawen zu betonen. Dem verdankt sich auch die Schaffung einer gemeinsamen serbokroatischen Schriftsprache. Später gab es die Hoffnung, dass die austroslawischen Reformer bei Ausdehnung des Wahlrechts früher oder später eine parlamentarische Mehrheit gewinnen und auf demokratischem Weg eine rechtliche Gleichstellung durchsetzen könnten.

Doch es kam ganz anders. Deutschsprachige und ungarische Eliten hatten sich 1867 nach der vernichtenden Niederlage der Habsburger im Krieg gegen Preußen auf den sogenannten „Ausgleich“ geeinigt. Das lief faktisch auf eine Reichsteilung zwischen Österreich und Ungarn hinaus: Zwei Staaten mit separater Regierung, jeweils eigenen Staatsbudgets und getrennter Staatsbürgerschaft, aber mit gemeinsamem Herrscherhaus und gemeinsamer Armee.

Machtlose Mehrheit

An einem ähnlichen Ausgleich mit der slawischen Bevölkerungsmehrheit hatten Wien und Budapest allerdings kein Interesse. Slawische „Untertanen“ der Habsburger wurden nicht als ebenbürtig empfunden. Deutschsprachige und ungarische Eliten wollten ihre politische Macht und ihre Ressourcen nicht mit den slawischen Mehrheiten teilen. Und diese hatten nicht genug politische Macht, um einen Kompromiss zu erzwingen, obwohl sich das demographische Übergewicht der Slawen durch die Annexion der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina 1878 noch vergrößert hatte.

Foto elegant gekleideter Menschen am Rande einer Pferderennbahn mit Jugendstilgebäuden. Die Männer tragen Zylinder und die Frauen große Hüte. Die Aufnahme stammt von 1902 und wurde in Wien gemacht.
In Wien ist die höhere Gesellschaft um 1900 mit Vergnügungen und sich selbst beschäftigt, wie hier beim Pferderennen in der Freudenau im Prater im Juni 1902. © Getty Images

Die wenig kompromissbereite Haltung in Wien und Budapest gab der Vision eines südslawischen Staates außerhalb der Donau-Monarchie Auftrieb. Die neu gewonnene Eigenständigkeit Ungarns beschleunigte diese Dynamik. Nach 1867 beendete Budapest die innere Autonomie Kroatiens. Der Landtag und die Selbstverwaltung in Zagreb wurden aufgelöst. Ein Jahrzehnt später erlangte Serbien die vollständige Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich.

Eine Mehrheit der serbischen Eliten hatte das Ziel, alle Südslawen politisch zu vereinen. Damit wurde Belgrad zum neuen Zentrum der illyrischen Bewegung. Österreich-Ungarn und Serbien wurden zu Rivalen und schließlich zu erbitterten Gegnern auf dem Balkan.

Dies war die Konstellation, in die Josip Broz, der sich später Tito nannte, am 7. Mai 1892 in Kumrovec als Sohn einer Slowenin und eines Kroaten hineingeboren wurde.

Das kurze erste Jugoslawien

Am Ende bewirkte dieser regionale Konflikt, dass die Donaumonarchie 1914 gegen Serbien in den Krieg zog. Durch bestehende militärische Bündnisse löste dies einem Weltkrieg aus. Josip Broz wurde eingezogen und sammelte auf Seite der österreich-ungarischen Armee Erfahrung im Kriegshandwerk.

Belgrad, Serbien, 29. Oktober 1918. Die Gründung des ersten Jugoslawien im Jahr 1918 verwirklichte die illyrische Idee – allerdings nicht unter dem Dach einer reformierten Donaumonarchie unter Habsburgischer Oberhoheit.

Die Gründung verdankte sich vielmehr der Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg. Dadurch saß Serbien bei den Friedensverhandlungen auf Seite der Siegermächte am Verhandlungstisch und konnte die Neuordnung Europas in den Jahren 1918 und 1919 in seinem Sinne mitbestimmen. Nationalisten, die sich einen eigenen kroatischen oder gar slowenischen Staat gewünscht hatten, waren hingegen an der Gestaltung der Nachkriegsordnung nicht beteiligt.

Das erste Jugoslawien wurde im Oktober 1918 zuerst als „Staat der Slowenen, Kroaten und Serben“, im Dezember desselben Jahres dann als „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ gegründet. Dieser Staat verdankt sich einer Kombination aus illyrischer Idee, serbischem Streben nach regionaler Vormachtstellung und dem Untergang der Habsburgermonarchie.

Der König Jugoslawiens, Alexander I und Louis Barthou, der Außenminister Frankreichs, begrüßen sich zu Beginn des jugoslawischen Staatsbesuchs in Marseille. Das Schwarz-weiß Foto wurde wenige Minuten vor dem Attentat auf Alexander I aufgenommen, bei dem beide Politiker starben. Alexander I trägt eine monarchistische Uniform, Berthou zivile Kleidung. Beide lächeln sich an.
Alexander I, seit 1929 Königsdiktator Jugoslawiens, und Louis Barthou, Außenminister Frankreichs, in Marseille am 9. Oktober 1934. Wenige Minuten später sind beide Männer tot. Der Attentäter, Wladimir Georgiew Tschernosemski, war Mitglied einer mazedonischen nationalistischen Bewegung IMRO. Er starb am Abend des Attentats an den Verletzungen durch Polizei und Augenzeugen des Attentats. © Getty Images

1929 putschte König Alexander gegen seine eigene Regierung und errichtete einen autoritär geführten zentralisierten Staat namens „Jugoslawien“. Vor allem Bosnier, Kroaten und Mazedonier fühlten sich in diesem von Belgrad nun zentralistisch regierten Staat benachteiligt und zunehmend unterdrückt.

Als Nazi-Deutschland und Italien das Land 1941 auflösten, gab es daher außerhalb Serbiens durchaus Beifall. Slowenien wurde zwischen dem faschistischen Italien und Nazi-Deutschland aufgeteilt. Kroatien erlangte als faschistisch regierter Vasallenstaat von Hitlers und Mussolinis Gnaden die Unabhängigkeit und bekam Bosnien zugeschlagen. Bis 1945 ermordeten Militär, Polizei, faschistische Milizen und KZ-Wächter des kroatischen Ustascha-Staates an die 600.000 Personen, hauptsächlich Serben, aber auch kroatische Antifaschisten, Roma und Juden.

Das zweite Jugoslawien

Jugoslawien, 11. November 1945. Dieser Tag ist jener der Wahlen zur Nationalversammlung Jugoslawiens. Nach dem Sieg Titos und seiner Partisanenarmee über Hitlers Wehrmacht entstand das zweite Jugoslawien als Bundesstaat. Jede südslawische Nationalität bekam eine eigene Teilrepublik zugestanden.

Auch Montenegro, dessen Bevölkerung sich damals mehrheitlich als serbisch verstand, wurde in seinen historischen Grenzen wiedererrichtet. Nur die albanische (also nicht-slawische) Bevölkerungsmehrheit des Kosovo musste sich mit dem Status einer halbautonomen Provinz in der Teilrepublik Serbien zufriedengeben.

Zugleich verzichtete Titos Jugoslawien auf ein gesamtstaatliches Nation Building. Nach außen waren viele Bürgerinnen und Bürger stolz auf die führende Rolle des Landes unter den Blockfreien Staaten. Während früher für den Balkan relevanten Mächte Österreich und Ungarn international keine Rolle mehr spielte, waren Jugoslawien und sein Staatsoberhaupt Tito auf der Weltbühne präsent.

Im Inneren spielte hingegen die ethnisch-religiösen Herkünfte für die Identität der Bürgerinnen und Bürger die wichtigste Rolle. Bei der Volkszählung 1981 gaben bei einer Gesamtbevölkerung von 20 Millionen nur zwei Millionen „jugoslawisch“ als ihre Nationalität an, darunter viele im ethnisch-religiös stärker gemischten Bosnien. Zehn Jahre später, bei der letzten jugoslawischen Volkszählung 1991, fühlten sich nur noch eine Million als „Jugoslawen“.

Religion wird relevant

Heute gibt es auf dem Westbalkan nur noch eine kleine Zahl von Jugo-Nostalgikern. Da im zweiten Jugoslawien trotz gemeinsamer serbokroatischer Sprache keine gemeinsame ethnisch-nationale Identität der linguistischen Mehrheit entstand, fehlte es dem Staat an einem gemeinsamen Staatsvolk.

Stattdessen wurden primär serbische, kroatische, slowenische oder mazedonische Identitäten betont. Erst später bildete sich auch eine muslimisch-bosniakische Identität heraus. Zweierlei verstärkte diese Entwicklung: zum einen die traumatisierenden Erfahrungen der 1930er Jahre sowie – in ganz anderer Weise – die Periode 1941 bis 1945 sowie die Föderalisierung des zweiten Jugoslawien in Teilrepubliken mit ethnisch-religiös definierter Mehrheitsbevölkerung.

Schwarz-weiß Foto einer Straße mit zerstörten Häusern und kahlen Bäumen. Menschen in Mänteln stehen mit Schubkarren und räumen die Zerstörungen auf. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1941 in Belgrad. Es sind Kriegsschäden in Folge der Bombardierung durch die deutsche Luftwaffe.
Zerstörungen durch die deutsche Armee in Belgrad im April 1941. Vier Jahre später, am 11. November 1945, als das faschistische Deutschland besiegt ist, finden die Wahlen zur Nationalversammlung in Jugoslawien statt. © Getty Images

Damit blieb im kommunistischen Jugoslawien auch unter atheistischen Vorzeichen die Religion der Vorfahren von Bedeutung. Anders hätten sich zum Beispiel in Bosnien lebende Serben oder Kroaten nicht von Bosniaken unterscheiden können. Denn vor Ort, also in Sarajevo, Mostar oder Tuzla sprachen alle denselben Dialekt, trugen vielfach ähnliche Familiennamen und waren des Öfteren verwandt oder verschwägert. Gleiches galt für Serben und Kroaten in Ostslawonien oder in der Vojvodina.

Zweifellos verdankt sich die Entstehung des zweiten Jugoslawien dem Partisanenführer Tito und der militärischen Leistung seiner Armee. Zugleich gründete darauf sein politisches Kapital. Denn Tito verstand es, sich als erfolgreicher Staatsmann zu inszenieren, der Hitlers Truppen besiegt, Stalin die Stirn geboten und Jugoslawien in der postkolonialen Welt als Player etabliert hatte. Zugleich zelebrierte er mit Jagdschloss in Brdo, Sommervilla in Bled, Residenz auf den Brioni-Inseln und präsidialer Yacht in der Adria einen imperialen Lebensstil.

Die Rolle von Josip Broz Tito

Titos Leistungen lassen sich klar benennen. Auch wenn von seinem Lebenswerk heute nichts mehr übrig ist, gehört Josip Broz Tito zweifellos zu den erfolgreichsten Politikern des 20. Jahrhunderts. Ab 1941 gelang es ihm, seine kommunistischen Partisanen als wichtigste Widerstandsgruppe gegen Hitlers Wehrmacht und Mussolinis Armee in Stellung zu bringen. Stalins Divisionen und Titos Partisanen waren die einzigen, die ihr eigenes Land im Verlauf des 2. Weltkriegs weitgehend aus eigener Kraft von der deutschen Besatzung befreien konnten.

Diese militärische Stärke erlaubte es Tito auch, sich ab 1948 Stalins Plänen zu widersetzen und dem Warschauer Pakt nicht beizutreten. Gegen den Widerstand aus Moskau blieb Jugoslawien im Kalten Krieg zwischen Ost und West neutral. Zugleich wurde Tito gemeinsam mit Ägyptens Staatspräsidenten Nasser, Indiens Premierminister Nehru und Indonesiens erstem Präsidenten Sukarno zu einem prominenten Gründer der „Bewegung Blockfreier Staaten“.

Über die dunkle Seite wurde im ehemaligen Jugoslawien geschwiegen. Titos Verbrechen fanden zum einen kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs statt. Seine Partisanen liquidierten damals etwa 60.000 Personen, darunter Angehörige deutscher Minderheiten sowie bereits entwaffnete Angehörige slowenischer und kroatischer Heimwehren – so genannte Domobrancen, aber auch kroatisch-faschistische Ustascha-Aktivisten und serbisch-royalistische Tschetniks. Darunter waren Personen, die sich im britisch besetzten Kärnten in Kriegsgefangenschaft begeben hatten und von Großbritannien an Jugoslawien ausgeliefert wurden.

Seit den 1970er Jahren organisierten kroatische rechts-nationale und neo-faschistische Kreise im Exil nahe der Kärntner Stadt Bleiburg jährliche Gedenkfeiern und Feldmessen zur Erinnerung an die übergebenen Domobrancen und Ustascha-Aktivisten. Ab den 1990er Jahren erhielten sie offizielle Unterstützung durch staatliche Organe und die katholische Kirche Kroatiens. Erst 2022 beendeten Österreichs Verfassungsschutz und der Klagenfurter Bischof den jährlichen Aufmarsch und ersetzten ihn durch einen schlichten Gedenk-Gottesdienst.  

Nach 1948 gerieten vermeintliche und tatsächliche Stalin-Anhänger ins Visier der jugoslawischen Geheimpolizei. Die KP schloss 55.000 Mitglieder aus. 1949 errichtete Titos Regime auf den Inseln Goli Otok und Sveti Grgur zwei Konzentrationslager, in denen bis zu 18.000 Personen gleichzeitig interniert waren. Etliche überlebten Schwerarbeit und körperliche Misshandlungen nicht. Auf die ausgeschlossenen KP-Mitglieder folgten ab Mitte der 1950er Jahre Personen, denen der Geheimdienst bürgerliche, monarchistische oder sozialdemokratische Einstellungen vorwarf. 

Das Ende des zweiten Jugoslawien

Belgrad, 4. Mai 1980. Einen Nachfolger hatte Tito zu Lebzeiten nicht aufgebaut. Dieses Versäumnis teilt Tito mit vielen autokratisch regierenden Langzeit-Herrschern. Als er am 4. Mai 1980 starb, hinterließ er eine Verfassung, die nach seinem Tod an der Spitze von Staat und Partei kollegiale Führungen installierte, die nach ethnischem Proporz besetzt waren und deren Vorsitz jährlich rotierte.

Josip Broz Tito in einem blauen Anzug sitzt ein Buch lesend in einem Raum mit alten Möbeln, Porzellanfiguren und einem ausgestopften Jaguar. Auf dem Boden liegt ein Tigerfell mit Kopf auf einem Perserteppich. Ein Schäferhund blickt Tito an und hechelt. Das Bild wurde 1961 in Belgrad aufgenommen.
Josip Broz Tito 1961. © Getty Images

Zehn Jahre nach seinem Tod gab es auf bundesstaatlicher Ebene keine in allen Teilen Jugoslawiens anerkannten Führungspersönlichkeiten mehr. Niemand konnte das Land als Ganzes in eine demokratische Zukunft führen. Der ab 1991/92 erfolgende Zerfall Jugoslawiens beruhte allerdings auf Weichenstellungen, die alle schon lange vor Titos Tod getroffen wurden.

Das zweite Jugoslawien war von Anfang an föderal organisiert. Ziel war nicht nur die Einbindung aller südslawischen Nationalitäten. Es ging auch darum, ein politisches Übergewicht Serbiens zu verhindern. Die Jugoslawische KP wurde schon in den 1950er Jahren der föderalen Staatsstruktur angepasst und durch den Bund der Kommunisten Jugoslawiens ersetzt.

Lange Zeit dienten die Autorität Titos und die gemeinsame Partisanenvergangenheit der Eliten dem Land als Klammer. Hinzu kam die Angst, die eigene Unabhängigkeit zu verlieren, falls Moskau interne Konflikte als Vorwand für eine Militärintervention genutzt hätte.

Mit der Zeit förderte die starke Föderalisierung der Führungsstrukturen allerdings die Ethnisierung der Politik und damit auch der politischen Konflikte. Denn auf Bundesebene hatten nur jene eine Chance, die in einer Teilrepublik fest verankert waren und deren Interessen vertraten. Am energischsten betrieben in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die kroatischen Kommunisten ihre Emanzipation. Tito ging dies zu weit. Am 12. Dezember 1971 wurden die kroatische Parteiführerin Savka Dabčević-Kučar und ihre Unterstützer aller Ämter enthoben. Das war der letzte erfolgreiche Versuch der Zentrale, die Einheit des Landes mit harter Hand zu garantieren.

Hätte Tito länger gelebt, wären seine Getreuen auch weiter gegen eine politische Mobilisierung mittels nationalistischer Parolen oder Feindbilder auf Ebene der Teilrepubliken vorgegangen. Stattdessen begünstigte Titos Tod letztlich diese Entwicklung. Denn an seine Stelle trat ein kollektives Staatspräsidium bestehend aus den Führern der Teilrepubliken. Der Vorsitz wechselte jährlich.

Was die Jugoslawienkriege möglich machte

Am Ende wurden die KP-Führer der meisten Teilrepubliken zu Hauptakteuren des Zerfalls. Nur die serbische KP-Führung unter Slobodan Milošević wollte Jugoslawien erhalten beziehungsweise unter ihre Kontrolle bringen, zumindest aber jene Teile des Landes, in denen ethnische Serben lebten. Zugleich gab es aus den beschriebenen Gründen kaum Mitglieder eines Staatsvolks, die den Zerfall des Landes als Verlust empfanden.

Einen wichtigen Beitrag zum Zerfall lieferte eine Weichenstellung aus den frühen 1970er Jahren. Damals kam es auch im Militär zu einer Föderalisierung – als eine Antwort auf 1968 und die Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Pakts. Neben der weiter bestehenden jugoslawischen Volksarmee wurden zur Territorialverteidigung regional verankerte Streitkräfte geschaffen. Diese verfügten über eigene Waffen und autonome Kommandostrukturen. Im Ernstfall sollten sie möglichst lange weiterkämpfen können, selbst wenn die militärische Führung in Belgrad vom Gegner ausgeschaltet worden wäre.

Als sich Slowenien, Kroatien und Bosnien unabhängig erklärten, verfügten die jungen Staaten daher vom ersten Tag an nicht nur über Parlament, Regierung und eigenständige Administration, sondern auch über eine eigene Armee, während Serbien die Kontrolle über die jugoslawische Volksarmee behielt. Dies war die Ausgangslage für die Kriege der Jahre 1991 bis 1995.

Auch die Demokratisierung des Landes trug seinem Zerfall bei: Denn das zweite Jugoslawien demokratisierte sich „von unten“. Zuerst fanden ab 1990 in den einzelnen Teilrepubliken mehr oder weniger freie Wahlen zu den jeweiligen Regionalparlamenten statt. Dabei gewannen Politikerinnen und Politiker, darunter in großer Zahl ehemalige KP-Führer, die sich vorrangig an den Interessen der eigenen ethnisch-religiösen Gruppe orientierten und damit eine schon zu kommunistischer Zeit länger etablierte Praxis fortsetzten.

In Slowenien, Kroatien, Bosnien und Mazedonien ging dieses Interesse der Mehrheit und der regionalen Eliten in Richtung Unabhängigkeit. Deshalb verabschiedeten sich die Führer dieser Republiken aus der gemeinsamen Staatsführung Jugoslawiens und damit auch aus dem jugoslawisch-illyrischen politischen Projekt.

Das Amselfeld

Franjo Tuđman, Kroatiens erster Staatspräsident sah sich jedenfalls als Sieger – immerhin war er Partisan, stieg später in der Volksarmee bis zum General auf und bezwang 1995 die serbischen Milizen im eigenen Land. Er kopierte einen Teil von Titos Inszenierung – bis hin zur weißen Marschall-Uniform – und beanspruchte damit auch sein Erbe. Das war nur möglich, weil Tito selbst kroatischer Herkunft war.

Fotos von jungen Menschen, die vor einem Haus stehen und aus einem Fenster heraus etwas rufen. Das Foto wurde während Studierenden-Proteste in Belgrad noch während der Jugoslawienkriege aufgenommen.
Studierende protestieren 1996 gegen den Nationalismus von Slobodan Milošević und fordern eine Demokratie in Serbien. © Getty Images

Zugleich musste Tudjman selbst, im Zivilberuf Militärhistoriker, nicht an den faschistischen Ustascha-Staat anknüpfen, auch wenn diese Periode 1941 bis 1945 in Zagreb nun deutlich weniger negativ bewertet wurde. In Serbien übernahm die politische Führung unter dem ehemaligen KP-Führer Slobodan Milošević die Kontrolle über den Rest des Staates und die Volksarmee.

Zuerst wurde in Belgrad versucht, den Gesamtstaat durch Einsatz der Volksarmee zu retten. Danach konzentrierten sich die politischen und militärischen Anstrengungen auf die Eroberung und Kontrolle von Gebieten Bosniens und Kroatiens, in denen ethnische Serben lebten.
 
Kosovo Polje, 29. Juni 1989. Slobodan Milošević inszenierte sich als Verteidiger der historisch angeblich benachteiligten Serben. Wichtige Etappe war dabei das groß angelegte Gedenken an die Schlacht auf dem Amselfeld im Kosovo. Sie fand am 29. Juni 1989 auf den Tag genau 600 Jahre nach dieser entscheidenden Niederlage der mittelalterlichen Serben gegen das Osmanische Reich statt. Danach gab es für mehr als 400 Jahre keinen unabhängigen Staat Serbien mehr.

Die groß angelegte Feier dieser Niederlage im Kosovo diente unmittelbar als Startschuss, um den albanischen Bürgerinnen und Bürgern des Kosovo nicht nur ihre politische Autonomie, sondern auch ihrer Rechte und ihre materielle Existenz zu nehmen. Sie wurden aus dem Staatsdienst entlassen, albanisch-sprachige Schulen geschlossen, schließlich von serbisch dominierter Polizei und Miliz drangsaliert. Am Ende standen Massenvertreibungen.

Der gewendete Kommunisten-Führer Milošević und etliche seiner serbisch-nationalistischen Weggefährten wollten letztlich die Folgen der Osmanischen Herrschaft rückgängig machen, die mehrheitlich muslimischen und zum kleineren Teil katholischen Albaner aus dem Kosovo vertreiben und dieser Region wieder zu einer slawischen und christlich-orthodoxen Mehrheitsbevölkerung verhelfen. Immerhin sehen die Serben die Region Kosovo als „Wiege“ ihrer Kultur und frühen Staatlichkeit, aber auch als Schauplatz ihrer größten Niederlage. 

Die Entwicklung der Jahre 1989 und 1990 im Kosovo verstanden die sezessionsbereiten Teilrepubliken als Warnung. In Slowenien und Kroatien gab es dazu 1991 Volksabstimmungen und danach die Erklärung der Unabhängigkeit. Mazedonien und Bosnien folgten.  Dieser Schritt wurde fast überall von breiten Mehrheiten getragen, in Bosnien allerdings fast nur von den muslimischen Bosniaken.
Im Nachhinein zeigte sich, dass das zweite Jugoslawien jedenfalls seit Titos Tod keine Ein-Parteien-Diktatur mit freundlichem Antlitz war, sondern eigentlich eine Föderation mehrerer Ein-Parteien-Diktaturen mit schwachem Zentrum.

Wäre Jugoslawien hingegen ein wohlhabendes Land mit längerer Demokratie-Tradition gewesen, dann hätte die Konstruktion einer dezentralen Machtverteilung mit rotierendem Vorsitz an der Spitze von Staat und Partei möglicherweise länger gehalten: Im besten Fall hätte sich ein solcher Balkanstaat ähnlich wie die Schweiz entwickelt, im ungünstigeren Fall ähnlich wie Belgien.  Doch diese Voraussetzungen waren 1991/92 nicht gegeben. 

Der gewaltsame Zerfall

In Slowenien stellten sich nur Teile der dort stationierten jugoslawischen Volksarmee der Unabhängigkeit entgegen. Nach wenigen Tagen waren sie besiegt. Die Teilrepublik Kroatien, die sich ebenfalls im Juni 1991 für unabhängig erklärte, stieß dies auf Widerstand maßgeblicher Kreise der serbischen Minderheit in der Krajina und in Ost-Slawonien und öffnete Serbien die Möglichkeit zur militärischen Intervention.

Die Serben wollten ein rein serbisch besiedeltes Ostbosnien erschaffen.

Noch komplexer war die Situation in Bosnien. Dies war im ehemaligen Jugoslawien die Teilrepublik mit der geringsten ethnisch-religiösen Homogenität. Überall sonst dominierte eine ethnische Gruppe. In Bosnien hingegen stellten die muslimischen Bosniaken zwar die größte Gruppe, machten aber weniger als 50 Prozent der Bevölkerung aus. Zugleich erhielten Bosniens ethnische Serben und kroatische Herzegowiner seit Beginn des bewaffneten Konflikts Unterstützung durch das jeweils benachbarte Serbien beziehungsweise Kroatien.

Die muslimischen Bosniaken waren hingegen 1992 bis 1995 weitgehend auf sich allein gestellt. Sie hatten daher wesentlich mehr Vertriebene, aber auch mehr zivile Opfer zu beklagen – sowohl durch die vierjährige Belagerung Sarajevos als auch durch systematischen Terror. Davon ist vor allem das Massaker von Srebrenica in Erinnerung geblieben, dem ein peinlicher Rückzug der UN-Schutztruppe aus der Schutzzone vorausging. Hunderttausende Bosnierinnen und Bosnier flüchteten damals nach Deutschland, Österreich und Skandinavien. Rund 65.000 Muslime kamen ums Leben.

Der serbischen Seite ging es damals nicht bloß um Terror. Sie wollte auch ein rein serbisch besiedeltes Ostbosnien entlang der Drina bis vor die Stadtmauern von Dubrovnik erschaffen. Muslimische Enklaven in Srebrenica und Goražde waren dabei im Weg.
 
Dayton, Ohio, 21. November 1995. Der Friedensschluss im Jahr 1995 besiegelte schließlich die ethnische Flurbereinigung in Bosnien. Nur wenige Vertriebene kehrten in ihre alten Häuser und Wohnungen zurück. Zugleich öffnete der Ausgang des Konflikts Ländern wie der Türkei, Saudi-Arabien und Qatar die Türe, um auf die bis dahin überwiegend säkular eingestellten Muslime politisch und religiös Einfluss zu nehmen.

Der Frieden, der keiner war

Den Vertrag von Dayton verdanken Bosnien und Europa vor allem der militärischen und diplomatischen Intervention der USA vertreten durch ihren Chefverhandler Richard Holbrooke. Dass der Westen und Russland damals noch miteinander kooperierten, war ebenfalls hilfreich.

Vorausgegangen waren einerseits eine militärische Intervention der Nato, die im Spätsommer 1995 Luftangriffe auf serbische Stellungen unternahm, andererseits eine Bodenoffensive der bosnischen Armee, der kroatischen Armee und der kroatisch-herzegowinischen Milizen, welche die Landgewinne der serbischen Seite in Bosnien rückgängig machten und serbische Truppen schließlich auch aus der kroatischen Krajina sowie aus Ostslawonien vertrieben. Für die Nato war dies der erste militärische Einsatz in der Geschichte des Bündnisses.

Ein Mädchen hockt auf einem Baumstumpf und blickt in die Kamera. Im Hintergrund steht ein Pferd. Das Bild zeigt die Flucht von Albanern aus dem Kosovo nach Albanien 1998. Die im Kosovo lebenden Albaner wurden von den Serben angegriffen und vertrieben.
Juni 1998: Seudi Gadjeri, 12 Jahre alt, ist mit weiteren Kosovo-Albanern zu Fuß mit Packpferden vor serbischen Angriffen geflohen. © Getty Images

Nach dieser militärischen Niederlage der serbischen Seite einigten sich die Hauptakteure des Bosnien-Konflikts auf eine territoriale Zweiteilung des Landes mit einer serbischen Teilrepublik, einer komplizierten Kantons-Lösung auf Seiten der Bosniaken und ethnischen Kroaten und ein föderales Dach. Als Gegengewicht zu den verfassungsmäßig eher schwach ausgestatteten föderalen Organen schuf man das Amt der Hohen Beauftragten der Internationalen Gemeinschaft, der als eine Art „Vizekönig“ in Konfliktfällen und bei Blockaden exekutiv eingreifen darf.

Mit den Diplomaten Wolfgang Petritsch und Valentin Inzko stellte Österreich gleich zwei dieser Hohen Beauftragten. Der Vertrag von Dayton wurde unter großem Zeitdruck ausgehandelt. Die damals getroffenen Kompromisse sollten dem zerstörten Land und seiner traumatisierten Bevölkerung eine Atempause verschaffen. Fast 30 Jahre später und ohne jede institutionelle Reform ist Bosnien nach wie vor unter dem Kuratel eines ausländischen Hohen Beauftragten, von internationalen Hilfsgeldern abhängig und ohne Fahrplan in die Zukunft. Hundertausende junge Bosnierinnen und Bosnier sind ausgewandert. Richard Holbrookes ursprünglich lebensrettender Kompromiss hat sich in eine Zwangsjacke verwandelt.  
 
Mit dem Vertrag von Dayton und der kroatischen Rückeroberung verlorenen Territoriums war das ehemalige Jugoslawien bei weitem nicht befriedet. Denn die von Belgrad ab 1990 betriebene politische Entmündigung und wirtschaftliche Unterdrückung der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo provozierte Widerstand. Dieser organisierte sich mit der Zeit auch militärisch.

Tatkräftige, auch finanzielle, Unterstützung kam sowohl aus dem benachbarten Albanien als auch aus der albanischen Diaspora in Westeuropa. Darauf reagierten Volksarmee und Miliz mit zunehmender Repression, darunter auch mit Massakern an der Zivilbevölkerung. Am Ende stand die Vertreibung von fast einer Million Menschen aus dem Kosovo.

Die Intervention der Nato

Belgrad, 24. März 1999. Beendet wurde der Konflikt durch die zweite Militärintervention der Nato im ehemaligen Jugoslawien. Vom 24. März 1999 bis zum 9. Juni 1999 bombardierten Flugzeuge der Alliierten Ziele in Belgrad sowie kritische Infrastruktur in Serbien um Milošević und seine Armee zum Rückzug zu bewegen. Danach kehrten etwa 825.000 vertriebene Kosovarinnen und Kosovaren wieder in ihre Heimat zurück.

Für die Deutsche Bundeswehr war dies der erste Kampfeinsatz. Die damalige rot-grüne Bundesregierung bekam dafür zwar die Zustimmung des Bundestages. Die Intervention ließ sich humanitär und zur Verhinderung eines Genozids argumentieren. Aber völkerrechtlich war die Sache keineswegs klar. Die Nato griff Rest-Jugoslawien (das nur noch aus Serbien und Montenegro bestand) an, ohne dafür ein Mandat des UN-Sicherheitsrats zu haben. Da kein Mitgliedsland der Nato angegriffen worden war, lag auch kein sogenannter Bündnisfall vor.

Allerdings gab es zumindest bei den teilnehmenden Staaten Europas auch ein Element der Notwehr. Kein europäischer Staat wollte damals auf Dauer ein bis zwei Millionen kosovarischer Flüchtlinge aufnehmen. 2008 erklärte sich der Kosovo zum unabhängigen Staat. Bis heute wird dieser Staat von Serbien, Russland und einigen EU-Mitgliedsstaaten nicht anerkannt.

Zwar nicht der Zerfall Jugoslawiens, aber doch der damit verbundene enorme „Kollateralschaden“ – Hunderttausende Tote, Verletzte, Traumatisierte, Geflüchtete, zerstörte Infrastruktur – hat auch mit einem Versagen der internationalen Staatengemeinschaft zu tun.  Seit Titos Tod diskutierten politische Analysten und Kommentatoren in Westeuropa, in den USA und wahrscheinlich auch in der Sowjetunion den möglichen Zerfall Jugoslawiens entlang ethnischer Bruchlinien: Serben gegen Kroaten, Christen gegen Muslime, slawische Mehrheit gegen nicht-slawische Kosovo-Albaner.

Westeuropa war „überrascht“

Die Olympischen Winter-Spiele, die 1984 in Sarajevo stattfanden, schienen die Diagnosen zu dementieren. Die Debatte über den Zerfall verlor an Prominenz. Als es dann doch dazu kam, waren die meisten Staatskanzleien überrascht. Die wichtigsten Staaten Europas, allen voran Deutschland, Frankreich und Großbritannien sowie die EU-Kommission hatten weder einen Krisenplan noch eine klare Vorstellung, wie es auf dem Balkan weitergehen sollte.

Eine jugoslawische Fahne weht im Wind. Zwei Männer in dicken Daunenjacken halten sie während sie in einem Sessellift sitzen.
Bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Sarajevo 1984: Während hier noch die jugoslawische Fahne weht, war den damaligen Weltmächten damals bereits klar, dass Jugoslawien den Tod Titos nicht lange überleben würde. © Getty Images

London und Paris sympathisierten teils aus historischen, teils aus geopolitischen Gründen mit Belgrad und waren anfangs gegen die Sezession Sloweniens und Kroatiens. Als Grund wurde immer auch die ethnisch-politische Gemengelage in Bosnien genannt. Aber generell gab es dort wenig Freude über die Gründung neuer Kleinstaaten in Europa. Deutschland und Österreich waren hingegen eher für eine Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens. Etliche Vertreter dieser beiden Länder argumentierten sogar, erst nach Erklärung der Unabhängigkeit könne man helfen.

Während Österreichs damaliger sozialdemokratischer Kanzler Franz Vranitzky abwartend reagierte, sympathisierte sein ÖVP-Außenminister Mock offen mit den Sezessionsbestrebungen Sloweniens und Kroatiens. Dabei spielten – zumindest aus christdemokratischer Perspektive – sowohl die gemeinsame Geschichte während der Habsburgermonarchie als auch die Solidarität mit katholischen Nachbarvölkern eine Rolle. Dass fast alle handelnden Personen eben noch Mitglieder der Bundes der Kommunisten Sloweniens oder Kroatiens gewesen waren, fiel unter den Tisch.

In Deutschland schlugen sich Kanzler Helmut Kohl und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher ebenfalls auf die Seite Sloweniens und Kroatiens. Ihr wichtigstes Argument war interessanterweise die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990. Wenn alle Deutschen nun wieder in einem gemeinsamen Nationalstaat leben konnten, dann dürfe man anderen Volks- und Sprachgruppen dieses Selbstbestimmungsrecht in Europa nicht verwehren.

Die späte Wende

Zu einer Lösung beziehungsweise zu einem Einfrieren der kriegerischen Auseinandersetzungen kam es allerdings erst, als sich die USA mit tatkräftiger Unterstützung anderer Nato-Partner 1995 zu einem militärischen Eingreifen entschlossen. Sowohl in Bosnien als auch später im Kosovo wurde die Bereitschaft Serbiens zu einem Waffenstillstand durch Luftangriffe erzwungen. Möglich wurde dies durch einen globalem Meinungsumschwung.

Ein Gebäude brennt in der Nacht. Es ist das Innenministerium in Belgrad im April 1999. Ein Mann im Vordergrund flüchtet vor dem Feuer.
Am 2. April 1999 brennt das Innenministerium Serbiens in Belgrad nach Bombardierungen durch die Nato. © Getty Images

Durch die dreijährige Belagerung Sarajevos und das Massaker von Srebrenica hatte die serbische Seite ihr politisches Kapital in allen westlichen Staatskanzleien und in der öffentlichen Meinung des Westens verspielt. Der gewaltsame Konflikt hätte sich nur dann rasch „einfrieren“ lassen, wenn sich Russland und die Nato sehr früh zu einer gemeinsamen Militärintervention entschlossen hätten.

In Bosnien und im Kosovo kam es ja später unter anderen Vorzeichen zu einer solchen Kooperation. Aber angesichts der großen Zahl bewaffneter und kampfbereiter Truppen auf allen Seiten, die durch die jugoslawische Verteidigungsstrategie auf einen solchen Ernstfall vorbereitet waren, hätte auch eine frühe Intervention mit Bodentruppen zu langen und verlustreichen Kämpfen geführt.

Leicht bewaffnete Friedenstruppen unter einem Mandat der UN wären hingegen von den besser bewaffneten lokalen Akteuren rasch als Geiseln genommen, in Kämpfe verwickelt oder zum Rückzug gezwungen worden. Das Schicksal der Uno-Truppen in Bosnien, die sogar dem Genozid an 8.000 Muslimen in Srebrenica tatenlos zusahen, führt uns dies deutlich vor Augen.

Militärisch erfolgreich war die Intervention der Nato in Bosnien erst durch Etablierung einer No-fly-zone und durch gezielte Luftschläge sowohl gegen serbische Stellungen in Bosnien als auch gegen Ziele in Serbien selbst, um von der Führung in Belgrad mehr Kompromissbereitschaft zu erzwingen. Daraus erklärt sich auch, warum bei der zweiten Intervention – nämlich 1999 zur Beendigung des Kosovo-Kriegs – nicht so lange zugewartet wurde, obwohl die Nato-Staaten über kein Mandat des UN-Sicherheitsrats verfügten.

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Conclusio

Die Voraussetzungen für den Jugoslawienkrieg wurden in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen, haben ihre Ursprünge laut Rainer Münz aber bereits im 19. Jahrhundert, als die iryllische Bewegung, die die Region als einen Kulturraum betrachtete, scheiterte – unter anderem an der Teilungspolitik Habsburgs. Während der Faschismus die Spaltungen des Landes vertiefte, passte sich im Kommunismus unter Tito auch das politische, das militärische und das administrative System Jugoslawiens an die Nationalismen an. Serbien profitierte am stärksten davon, unter anderem entstand dadurch eine militärische Überlegenheit, die eine frühere Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft notwendig gemacht hätte.

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