Zahlt sich Arbeit noch aus?

Der Sozialstaat hilft den Armen, das ist gut. Jedoch hat die Kombination aus Steuern und Zuschüssen massive Auswirkungen auf das Realeinkommen der österreichischen Haushalte.

Die Illustration zeigt den österreichischen Adler, der eine Frau und einen Mann mit seinen Krallen kopfüber hält. Aus ihren Taschen fallen dabei Münzen und Geldschiene. Das Bild illustriert ein Dossier über die hohe Steuerlast in Österreich.
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Auf den Punkt gebracht

  • Grenzsteuersatz-Dilemma. In Österreich führen komplexe Wechselwirkungen zwischen Steuern und Sozialtransfers zu hohen Grenzsteuersätzen, die das Einkommenswachstum begrenzen.
  • Transferleistungsfalle. Das derzeitige System kann aufgrund von Transferentzügen zu geringeren Nettoeinkommen trotz steigendem Bruttoverdienst führen.
  • Arbeitsanreiz-Problem. Aktuelle finanzielle Anreizstrukturen im österreichischen Steuer- und Sozialsystem schaffen für niedrige Einkommensgruppen oftmals keine Anreize für Mehrarbeit.
  • Systemreform-Bedarf. Eine Neugestaltung des Familienbonus und eine steuerliche Einbeziehung von Sozialleistungen könnten die Arbeitsanreize verbessern und das Steuersystem gerechter gestalten.

Neulich durften wir zwei sehr nette Wiener Familien kennenlernen, die wir Ihnen hier kurz vorstellen: Die Familien Horvath und Müller wohnen Tür an Tür in einem soliden, aber etwas heruntergekommenen Altbau im dritten Wiener Gemeindebezirk. Da die Kinder jeweils gleich alt sind (17 und 20) und dieselben Schulen besucht haben (die beiden älteren studieren jetzt an der Wirtschaftsuniversität Wien) oder noch besuchen, kennen sich die zwei Familien sehr gut, und über die Jahre ist eine Freundschaft gewachsen.

An einem Abend im April trafen sich die Horvaths und Müllers wieder einmal zum Plaudern. Die Rede kam auf den erzwungenen Gehalts-Striptease der Top-Verdiener im ORF. Und das führte zu einer Art von Gespräch, die in Österreich sonst eher unüblich ist: Die zwei Familien redeten ganz offen und ehrlich über ihre finanzielle Situation. Irgendwann holten sie sogar ihre Jahreslohnzettel sowie diverse Beihilfebescheide, um zu vergleichen. Dass sie beide nicht zur Oberschicht der Stadt gehören, wussten die vier ja ohne hin. Also was soll’s, dachten sie sich. Fakten auf den Tisch!

Frau Müller druckst zunächst ein bisschen herum. Sie schämt sich etwas, weil die Familie – das müsse sie eingestehen – deutlich unter der Armutsschwelle lebt. Als Lehrerin in einer Brennpunktschule in einem anderen Bezirk hatte sie früher gar nicht schlecht verdient und die damals junge Familie finanziell über Wasser gehalten, nachdem sich bei ihrem Mann so etwas wie eine Karriere partout nicht einstellen wollte.

Kärgliches Einkommen

Herr Müller hat Altorientalistik studiert und das nie bereut. Er wird auch noch gelegentlich zu Vorträgen über sein Dissertationsthema eingeladen. Wirklich Geld verdient hat er damit aber nie, er fährt Taxi. Trotzdem hat Frau Müller gegen Ende der Coronazeit, als ihr in der Schule alles über den Kopf wuchs und der damals 14-jährige Sohn Lukas schulisch komplett absackte, kurzerhand beschlossen, den Job aufzugeben und beim Supermarkt um die Ecke in Teilzeit zu arbeiten. So würde ihr Zeit bleiben, um Lukas zur Matura zu bringen, dachte Frau Müller. Letztes Jahr hat sie es dann bereut, als ihr Mann längere Zeit krank war und nicht arbeiten konnte. Resultat: Mehr als durchschnittlich 1.200 Euro brutto im Monat haben die beiden 2023 nicht verdient.

Das monatliche Haushaltseinkommen der Müllers liegt um 19 Euro über dem der Horvaths, obwohl Letztere fast doppelt so viel verdient haben.

Da staunten die Horvaths nicht schlecht; sie hatten sich für die Ärmeren gehalten. Beide haben nur einen Pflichtschulabschluss und arbeiten in der Gastronomie. Rund 2.300 Euro pro Monat verdienten sie 2023 durchschnittlich pro Monat. Das sei zwar auch schon einmal besser gewesen, aber immerhin. Daher hätten sie inständig gehofft, dass sie Wohnbeihilfe bekommen würden oder vielleicht etwas Mindestsicherung. War aber nichts; auch beim Mobilpass, der Ermäßigungen etwa bei den Wiener Linien bringt, sind sie abgeblitzt. Familie Müller bekommt aus diesen drei Beihilfen hingegen insgesamt 995 Euro monatlich.

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Zahlen & Fakten

Müller gegen Horvath

Ein Vergleich weiterer Transfers ergibt folgendes Bild (siehe Tabelle): Für Familienbeihilfe, Kinderabsetzbetrag und Schulstartpaket gibt es 475 Euro an Geldleistungen und Gutscheinen für die Müllers und 463 Euro für die Horvaths. Schulbeihilfe, Unterstützung für Schulveranstaltungen, Studienbeihilfe und der Fahrtkostenzuschuss für Studierende bringen in Summe 517 Euro für die Müllers und 486 Euro für die Horvaths.

Aus der Befreiung von der Rezeptgebühr, der E-Card-Servicegebühr und der GIS sowie dem Fernsprechentgeltzuschuss, der EAG-Kostenbefreiung und der EAG-Deckelung (für die Förderung von Erneuerbaren) sowie dem Klimabonus haben die Müllers einen monatlichen Vorteil von 101 Euro, während die Horvaths hier nur auf 32 Euro kommen.

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Zahlen & Fakten

Im Steuer-Transfer-Dickicht

Staatliche Zuschüsse beeinflussen das Einkommen stark. Mehr Lohn heißt daher oft nicht, dass mehr Geld zur Verfügung steht.

Berücksichtigt man auch das Nettoeinkommen nach Arbeitnehmerveranlagung, haben die Müllers ein verfügbares monatliches Haushaltseinkommen von 3.542 Euro, um 19 Euro mehr als die Horvaths – obwohl Letztere fast doppelt so viel verdient haben. „Das ist ungerecht“, sagt Herr Müller, holt neun Euro fünfzig aus seiner Geldtasche und legt sie den Horvaths auf den Tisch: „Jetzt sind wir quitt!“ Die Anspannung löst sich in Gelächter auf.

Mehr als 100 Prozent Grenzsteuer

Wer dieses Beispiel für konstruiert und erfunden hält, hat recht. Die Geschichte hat so nur in unserer Fantasie stattgefunden. Nicht erfunden sind die Zahlen: Das Beispiel stammt aus einer Datenbank zum systematischen Screening von simulierten Steuer- und Transferkonten in 210 Einkommensstufen für 3.546 Haushaltskonstellationen quer durch Österreich. Die gezeigten Einkommensbeispiele sind somit nur zwei von insgesamt 744.660 konkreten Einkommens- und Transfersituationen.

In der Sprache des Finanzwissenschaftlers herrscht zwischen den Haushaltseinkommen der Müllers und Horvaths ein durchschnittlicher effektiver Grenzsteuersatz von etwas über 100 Prozent. Das bedeutet, dass von einem zusätzlich verdienten Euro mehr als 100 Prozent als Steuer (oder als Verzicht auf Transferleistungen) abgeführt werden müssen.

Aus der Perspektive der Familie Müller geht es aber nicht um einen zusätzlich verdienten Euro, sondern auf das Jahr gerechnet sind es 13.200 Euro, die das Paar zusätzlich verdienen müsste, um auf dieselben Bruttoerwerbseinkünfte wie die Horvaths zu kommen – mit dem Effekt, dass die Müllers dann um 228 Euro im Jahr (19 Euro pro Monat) ärmer wären. Das ist natürlich kein Anreiz für Herrn Müller, mehr Taxi zu fahren, oder für Frau Müller, die Teilzeitarbeit auszuweiten.

Geringverdiener stark betroffen

Seit wir 2008 das Problem erstmals aufgezeigt haben, wurden ähnliche Schieflagen im mittleren Einkommensbereich durch den Familienbonus Plus entschärft. Im untersten Einkommensbereich gelang das nicht, das Beispiel Müller/Horvath steht für ein in Österreich weit verbreitetes Phänomen. Für die meisten Paarhaushalte lohnt sich Mehrarbeit erst ab monatlichen Bruttoerwerbseinkünften von 1.600 Euro (bei einem Kind) bis 1.700 Euro (bei drei bis vier Kindern). Darunter sind häufig mehr als 80 Prozent der Haushalte vom Phänomen eines effektiven Grenzsteuersatzes von mindestens 100 Prozent betroffen.

Das kann auf Dauer nicht ohne negative Auswirkungen auf die Arbeitsmarktbeteiligung bleiben. Wichtiger als die Anzahl der betroffenen Haushalte pro Einkommensstufe ist aber die Anzahl der aufeinanderfolgenden Einkommensstufen, in denen man für zusätzliches Arbeiten quasi bestraft wird: Im Müller/Horvath-Fall sind es auf Monatsebene 22 Stufen à 50 Euro oder in Summe 1.100 Euro.

Wertet man alle Konstellationen auf die maximale Anzahl dieser Stufen aus, so ist 22 genau der Mittelwert, unser Beispiel ist also keinesfalls ein Extremfall. Ein solcher liegt hingegen bei einem spezifischen Alleinerziehendenhaushalt mit vier Kindern im Westen Österreichs vor: Dort sind es sogar 73 Stufen. Erst bei einem Zuwachs der monatlichen Bruttoerwerbseinkünfte von 3.650 Euro beginnt das verfügbare Einkommen dieser Familie wieder zu steigen.

Angesichts der Zahlen sollte man sich über die sinkende Bereitschaft zur Vollzeitarbeit nicht wundern.

Vor Jahren fragte das ORF-Magazin Eco eine Frau mit einer ähnlichen Haushaltskonstellation, warum sie denn eigentlich noch arbeiten gehe. Ihre wohl etwas untypische Antwort: „Weil ich meinen Kindern zeigen möchte, dass es sich so gehört.“

Angesichts der Zahlen sollte man sich über die sinkende Bereitschaft zu Vollzeitarbeit nicht wundern. Dauerhaft gegen die eigenen ökonomischen Interessen zu handeln, ist von vielen Menschen zu viel verlangt. Einschränkend muss dazu gesagt werden, dass diese Probleme am stärksten im untersten Einkommensbereich auftreten, wo es um die Existenzsicherung von Menschen geht, die aus verschiedenen Gründen ihr Arbeitspensum gar nicht ausweiten können.

Jeder Euro muss etwas bringen

Für eine Beurteilung von Handlungsoptionen ist es außerdem wichtig zu betonen, dass alle hier untersuchten Transferleistungen nicht auf deren Interaktion mit Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung geprüft wurden. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass eine Leistung des AMS ähnlich wirken würde wie eine Senkung des Erwerbseinkommens auf 60 Prozent. In diesem Fall würde sich für Familie Horvath im Falle von Arbeitslosigkeit das verfügbare Haushaltseinkommen inklusive Transfers nicht ändern beziehungsweise sogar leicht steigen. Die Reduktion des Arbeitslosengeldes, oft als notwendiger „Anreiz“ diskutiert, würde daher in diesem Fall keinen solchen bieten. Was also tun?

Die Kombination von zwei Maßnahmen würde das Problem zuverlässig beheben: 1. Einführung einer negativsteuerfähigen Komponente des Familienbonus Plus oder Reform des Kindermehrbetrages. 2. Einbeziehen aller Transferleistungen und Tarifbegünstigungen in die Einkommensteuerpflicht.

Drehen am Familienbonus

Die erste Maßnahme lässt sich aus der spezifischen Analyse der Familie Horvath ableiten: Würde sie nur um 50 Euro mehr verdienen, käme sie bereits in den Genuss des Familienbonus Plus und könnte für jeden Euro, den sie zusätzlich verdient, 17 Cent Familienbonus Plus lukrieren. Auch wenn der Kindermehrbetrag ab dann auszulaufen beginnt, bleiben doch 8 Cent pro zusätzlichem Euro übrig. Der Bonus steigt so lange an, bis die Horvaths Brutto erwerbseinkünfte von 3.650 Euro erreicht haben.

Auch Familien wie die Müllers, die keine Lohn- beziehungsweise Einkommensteuer zahlen, bekommen einen Ausgleich für die Kosten der Kindererziehung. Mindestsicherung und Wohnbeihilfe haben ebenfalls einen höheren Berechnungsschlüssel, wenn in dem betroffenen Haushalt Kinder leben. Familie Horvath verdient aber zu viel, um noch Wohnbeihilfe zu bekommen, ein klassisches Schwellenphänomen.

Die Einführung des Familienbonus Plus hat gezeigt, dass solche Schwellenphänomene, die sich früher auch im mittleren Einkommensbereich häuften, gut abgefangen werden können. Zum Beispiel könnte man pro Kind und für jeden Euro Erwerbseinkommen fünf Cent auch an jene Personen auszahlen, die noch keine Einkommensteuer zahlen. Damit hätten auch sie einen wachsenden Anreiz, Kindererziehung und Arbeit zu vereinbaren.

Für jeden Haushalt muss von jedem selbst verdienten Euro etwas übrig bleiben.

Wenn man das nicht mit dem Familienbonus Plus tun möchte, ließe sich auch der Kindermehrbetrag so gestalten, dass er zunächst mit wachsendem Einkommen ansteigt. Jedenfalls braucht es im untersten Einkommensbereich eine zusätzliche „Belohnungskomponente“ für mehr Arbeit.

Steuern auf Sozialleistungen

Im Gegenzug müssten aber alle einkommensabhängigen Transferleistungen und Tarifbegünstigungen einkommensteuerpflichtig sein. Es mag auf den ersten Blick absurd erscheinen, wenn die öffentliche Hand Leistungen zuerst ausschüttet, um sie dann teilweise wieder zurückzufordern. Aber erstens würde das im untersten Einkommensbereich gar keine Steuerzahlungen auslösen – sehr wohl aber eine Abbildung der tatsächlichen ökonomischen Situation durch direkte Einmeldung der auszahlenden Stellen.

Zweitens würden Länder und Gemeinden ihre Zahlungen besser mit dem Steuersystem abstimmen. So kompliziert das alles klingen mag, das Ziel ist klar: Für jeden Haushalt muss von jedem selbst verdienten Euro etwas übrig bleiben. Ist das anders, nimmt der Staat den Bürgern die Motivation, sich anzustrengen.

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Conclusio

Die Kombination aus Steuern und Zuschüssen hat massive Auswirkungen auf das Realeinkommen der österreichischen Haushalte. Problematisch sind jene Konstellationen, bei denen zusätzliche Arbeit dazu führt, dass man über eine für Transfer leistungen relevante Schwelle springt. Unter dem Strich bleibt dann weniger statt mehr Geld übrig. In der Finanz wissenschaft spricht man von einem Grenzsteuersatz von 100 und mehr Prozent. Derartige Fälle sind leider keine Ausnahme. Sie sind aus Sicht der Betroffenen nicht nur ungerecht, sondern stellen einen negativen Anreiz dar, (mehr) zu arbeiten. Angesichts des allgemeinen Arbeitskräftemangels stellt diese Situation ein echtes Problem dar. Lösungen gäbe es freilich: So könnten beispielsweise alle Transfers steuerpflichtig gemacht werden.

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