„Das Problem war, dass wir uns gegenseitig umbrachten“

Technologie und soziale Medien beeinflussen immer mehr unsere Interaktionen. Von Natur aus entstehen unsere sozialen Beziehungen und in Folge Zivilisationen im echten Leben. Das führt zu Problemen, erklärt der britische Evolutionspsychologe Robin Dunbar im Interview.

Evolutionspsychologe Robin Dunbar beim Globalen Peter Drucker Forum 2024 in Wien. © www.druckerforum.org

Was haben ein Schamane mit seiner Friedenspfeife, gemeinsames Lachen beim Stammtisch und die schwedische Klimaaktivistin gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel – bis man mit Professor Robin Dunbar spricht. Der Evolutionspsychologe hat herausgefunden, dass unser Gehirn nur Platz für 150 bedeutungsvolle Beziehungen hat. Ob in frühen Stammesgesellschaften oder auf Sozialen Medien – diese magische Zahl scheint unüberwindbar zu sein.

Im Gespräch mit dem Pragmaticus erklärt der Wisenschafter, warum Männer bei gemeinsamen Aktivitäten Freundschaften schließen, während Frauen lieber tiefgründige Gespräche führen, und weshalb unsere sozialen Bindungen auf biologischen Prozessen basieren. Unser evolutionär bestimmtes Bindungsverhalten erklärt auch den Zusammenhalt unserer Zivilisation – von trommelnden Schamanen über kirchliche Gesangsvereine bis hin zu den Priestergestalten moderner Umweltbewegungen.

Brisant wird es, wenn Dunbar über den Konflikt zwischen moderner Technologie und unseren steinzeitlichen Gehirnen spricht. Während Zoom-Meetings an der magischen Vier-Personen-Grenze scheitern und der Instagram-Freundschaftszähler tausende Zahlen anzeigt, sehnt sich unser Endorphin-System nach dem, was wir ihm seit Jahrtausenden vorsetzen: physische Zusammenkunft und die sanfte Berührung eines echten Menschen. Die „Sandkiste des Lebens“, in der Kinder einst das komplexe Diplomatiegeflecht menschlicher Beziehungen übten, wurde zum digital verfälschten Spielplatz – mit möglicherweise verheerenden Folgen für die soziale Entwicklung einer ganzen Generation.

Der Pragmaticus: Sie sind der einzige lebende Wissenschaftler, nach dem eine Zahl benannt wurde. Was ist Dunbars Zahl?

Dunbar: Dunbars Zahl besagt, wie viele bedeutungsvolle Beziehungen ein Mensch gleichzeitig haben kann, und diese wird durch die Größe unseres Gehirns bestimmt. Dieses Konzept gilt für alle Affen und Primaten: Je größer das Gehirn, desto größer die soziale Gruppe. Für Menschen liegt diese Zahl bei etwa 150. Natürlich gibt es individuelle Variationen: Extrovertierte haben möglicherweise ein paar mehr, Introvertierte ein paar weniger, aber der Durchschnitt in jeder Stichprobe liegt immer sehr nahe bei 150.

Was meinen Sie mit bedeutungsvollen Beziehungen? Sind damit alle gemeint, vom Ehepartner bis zum Kellner im Stammcafé?

Dunbar: Denken Sie an all jene Menschen, zu denen Sie um drei Uhr morgens in der Abflughalle des Flughafens Hongkong sagen würden: „Hallo, wie geht es dir? Lange nicht gesehen.“ Beziehungen über diese 150 hinaus basieren meist auf Transaktionen, wie zum Beispiel mit Ihrem Kellner.

Sie haben herausgefunden, dass schon Jäger- und Sammlergesellschaften typischerweise in Gruppen von etwa 150 lebten mit denen es offenbar leichter war, vertrauensvollere Beziehungen zu haben. Heute leben wir in viel größeren Gemeinschaften. Wie haben wir Menschen das angesichts der Einschränkungen unseres Gehirns geschafft?

Dunbar: Jäger und Sammler lebten in verstreuten Clans von etwa 150 Menschen und gingen sich normalerweise aus dem Weg. Vor etwa 8.000 Jahren gab es bedeutende Veränderungen durch Klimawandel, die uns dazu brachten, in Dörfern zu leben. Dies erzeugte großen Stress, den wir bewältigen mussten. Gesellschaften wuchsen über 150 hinaus und vereinten effektiv mehrere Clans auf engem Raum. Das Hauptproblem der Menschen bestand nicht darin, sich zu ernähren – die Erfindung der Landwirtschaft war relativ einfach –, sondern dass wir uns gegenseitig umbrachten.

Menschen fanden clevere Lösungen, indem sie soziale Institutionen einführten, um den Stress, wenn mehr als 150 Leute zusammenlebten, zu bewältigen

Wie haben wir das gelöst?

Dunbar: Menschen fanden clevere Lösungen, indem sie soziale Institutionen einführten, um diesen Stress zu bewältigen. Die ersten solcher Institutionen entstehen in Gemeinschaften von bis zu 400 Menschen und beinhalten oft charismatische Anführer. Wenn ein solcher Häuptling sagt: „Wir sollten das machen“, folgen alle aus Respekt. Institutionalisierte Ehe half auch, indem sie Familienbande zwischen größeren Gruppen bildeten. Verwandte wie ältere Onkel und Tanten vermittelten bei Konflikten. Auch „Männerclubs“ milderten Gewalt. Diese Institutionen waren oft in schamanische, trancebasierte Religionen eingebettet.

Sind Trancezustände wichtig?

Dunbar: Ja, das Problem waren oft die jungen Männer aus verschiedenen Clans, die kämpften. Ein Beispiel sind die amerikanischen Ureinwohner wie die Blackfoot oder Cheyenne. Während der Büffeljagdsaison versammelten sie sich in großen Dörfern. Wenn junge Männer stritten, ließen die Ältesten sie die Friedenspfeife rauchen, was eine tranceartige Erfahrung auslöste. Dieses Ritual, bei dem Tabak oder andere Substanzen verwendet wurden, schüttet Endorphine oder Bindungshormone aus und löste Konflikte, ohne sie überhaupt zu diskutieren. Tatsächlich wurde von niemandem dabei ein Wort geredet.

Zwei Cheyenne-Häuptlinge mit gefiederten Kriegshauben halten Friedenspfeifen, aufgenommen in den Vereinigten Staaten um 1924. Die traditionelle Kopfbedeckung und die zeremoniellen Pfeifen symbolisieren ihre Führungsrolle und kulturelle Traditionen.
Cheyenne-Häuptlinge mit Friedenspfeifen (USA, ca. 1924). © Getty Images

Es ist also ein biologischer Prozess?

Dunbar: Genau, es gibt zwei Hauptwege, um Trancezustände durch Endorphinausschüttung auszulösen. Einer ist der „Vorschlaghammer“-Ansatz – repetitive Trommelschläge, Trancetänze oder traditionelle Praktiken unter Verwendung von Drogen wie Meskalin. Der raffiniertere Weg, der durch buddhistische und später christliche Traditionen entwickelt wurde, beinhaltet kontrolliertes Atmen. Beide Methoden führen zu einer massiven Endorphinausschüttung, die bewusstseinsveränderte Zustände erzeugt. Studien zeigen, dass es zusammenschweißt, gemeisnam Endorphine auszuschütten. Der Effekt tritt auch durch soziale Aktivitäten wie gemeinsames Essen, Lachen und Singen ein. Wenn man solche Aktivitäten mit größeren Gruppen macht, sind sie eben in Rituale eingebettet.

Also das ganze Dorf singt dann sonntags in der Kirche. Kommt dann der Heilige Geist auf sie herab, oder wie funktioniert das?

Dunbar: Unser Körper hat ein spezialisiertes Nervensystem, das mit dem „Endorphinzentrum“ im Gehirn verbunden ist. Dieses System wird durch langsame, sanfte Berührung aktiviert, wie beim Streicheln. Aber nicht nur, unsere Ohren, besonders dort, wo tiefe Töne verarbeitet werden, haben ebenfalls viele solche Rezeptoren. Das Bewegen des Kopfes im Rhythmus mit Musik setzt Endorphine frei, weshalb wir gerne tanzen oder Babys in den Schlaf wiegen, während wir singen. Viele religiöse Rituale beinhalten Singen und Tanzen. Übrigens setzt auch Lachen Endorphine frei.

Verbindene Rituale helfen also, Beziehungen mit größeren Gemeinschaften als 150 zu bilden. Wann stößt das an seine Grenzen?

Dunbar: Archäologische Aufzeichnungen und Feldforschung zeigen, dass bei Gruppen größer als etwa 400 ein Wechsel von schamanischer Spiritualität zu Religionen mit Göttern oder einem Gott erfolgt, der von den Menschen verlangt, Regeln zu befolgen. Diese Religionen haben immer noch Bindungsrituale, aber sie basieren auch auf Hierarchie und Disziplin, um Ordnung zu schaffen. Die Geschichte zeigt jedoch, dass sich immer wieder Abspaltungen und rivalisierende Stränge von Religionen bilden.

In modernen Zeiten sind immer weniger Menschen religiös, zumindest in Europa. Hat etwas die bindende Funktion der Religion in den letzten Jahrhunderten ersetzt?

Dunbar: Ja und nein. Im 19. Jahrhundert gab es viele Bewegungen, die versuchten, säkulare Religionen zu schaffen. Der Humanismus ersetzte oft Gott als moralischen Schiedsrichter. Die Umweltbewegung zum Beispiel hat viele Ähnlichkeiten mit einer religiösen Bewegung und strebt nach einer besseren Welt, allerdings in diesem Leben statt im nächsten. Sie hat sogar eine Art Priestertum, wie eine bestimmte junge Dame aus Schweden mit ikonischen Eigenschaften. Auch die EU kann als Versuch gesehen werden, die Menschen mit einer Vision der Zukunft zu vereinen. Diesen Pseudoreligionen fehlen jedoch die Einbindung der spirituellen Welt, die, egal ob es sie wirklich gibt, sehr fesselnd ist und besser funktioniert, um Menschen zusammenzuhalten.

Gesamtansicht der Greta Thunberg-Statue in Winchester, England, aufgenommen am 31. März 2021. Die Statue steht auf dem Campus der Universität und wurde trotz Kritik der Studierendenvertretung aufgestellt.
Greta Thunberg-Statue an der Universität Winchester (März 2021). Die schwedische Aktivistin ist bereits in jungen Jahren zu einer Ikone der Klimaschutzbewegung geworden.

Wie beeinflusst moderne Technologie unsere sozialen Bindungen?

Dunbar: Auf sozialen Netzwerken wie Facebook haben die Menschen immer noch durchschnittlich 150 Freunde, mit denen sie interagieren. Diese Gruppen enthalten viele Schichten, von engen Freunden bis zu weiteren Bekannten. Soziale Medien haben dies nicht verändert. Während einige viele „Freunde“ haben, sind dies oft nur Namen ohne bedeutungsvolle Beziehungen. Soziale Medien helfen jedoch, bestehende Beziehungen zwischen Menschen, die sich persönlich geformt haben, aufrechtzuerhalten.

Also muss man sich treffen, um eine persönliche Beziehung zu entwicklen?

Dunbar: Während der Pandemie-Lockdowns war es schwierig, sich nur über digitale Kanäle zu verbinden. Unser Hirn kann nur verfolgen, was vier Personen gerade sagen oder tun. In größeren Zoom-Meetings zerfällt die Gruppe oft, und nur wenige Leute sprechen, während andere abschweifen. Die persönlichen Interaktionen zwischen den Meetings fehlen. Es macht einen Unterschied, im selben Raum zusammen zu sein, selbst wenn man nur still dasitzt. Männer tun letzteres übrigens öfter als Frauen.

Wenn wir belastende Gefühle thematisieren, schütten wir auch Endorphine aus, darum ist es auch wichtig seiner Trauer Ausdruck zu verleihen.

Gibt es Geschlechtsunterschiede, wie Beziehungen entstehen?

Dunbar: Frauen formen Beziehungen eher durch emotionale Gespräche, Männer durch gemeinsame Aktivitäten. Studien zeigen, dass solche Gespräche für den Fortbestand einer Freundschaft bei Mädchen entscheidend sind, bei Jungs jedoch gar nicht. Gespräche unter Jungs zielen oft darauf ab, sich gegenseitig zum Lachen zu bringen. Wir haben in Studien auch ausgewertet, dass Telefonate unter Frauen sehr viel länger dauern als die von Männern. Wenn wir belastende Gefühle thematisieren, schütten wir auch Endorphine aus, darum ist es auch wichtig seiner Trauer Ausdruck zu verleihen. Wir haben auch festgestellt, dass Aktivitäten wie gemeinsames Trainieren die Endorphinausschüttung verdoppeln, wenn sie synchron durchgeführt werden. Beide Strategien haben den gleichen Effekt im Gehirn und vertiefen Beziehungen.

Weiß man, ob das ein biologischer Unterschied zwischen den Geschlechtern ist?

Dunbar: Das Problem ist, dass man in den 80er-Jahren aufhörte sich mit Geschlechtsunterschieden zu befassen, man hat alle Differenzen der Erziehung zugeschrieben. Außerdem konzentrierten sich Sozialwissenschaftler traditionell auf die engsten Beziehungen und nicht auf breitere soziale Netzwerke, die erst kürzlich mit dem Aufkommen der Online-Welt umfassend untersucht wurden. Neuere Studien zeigen, dass diese Unterschiede weit verbreitet und kulturübergreifend ähnlich sind.

Was hat die Forschung zu sozialen Netzwerken ergeben?

Dunbar: Die Wahl der Freunde wird durch äußere und kulturelle Ähnlichkeiten beeinflusst, einschließlich des Geschlechts. Etwa 75 Prozent unserer Freunde haben dasselbe Geschlecht und die übrigen sind oft Verwandte, die man sich nicht aussuchen kann. Männer und Frauen interessieren sich für unterschiedliche Dinge, was ihre Gesprächsstile prägt. Frauen verwenden häufiger kleine unterstützende Rückmeldungen und sie beenden viel öfter die Sätze des anderen, was als unterstützend und nicht als störend angesehen wird. Männer kommunizieren eher kompetitiv. Beide Stile passen zum jeweiligen Bindungsverhalten.

Hat moderne Technologie unsere Beziehungen beeinflusst?

Dunbar: Technologie bietet sowohl mehr Kommunikationsmöglichkeiten als auch gemeinsame Aktivität, wie Online-Spiele. Aber physische Präsenz bleibt entscheidend. Wir unterscheiden zwischen Fremden, Bekannten, Freunden und engen Familienmitgliedern oder Partnern, wenn es um akzeptable Berührungen geht. Dies ist universell, obwohl es kulturelle Unterschiede gibt. In Studien haben wir gefragt, wo und von wem Menschen es akzeptabel finden, berührt zu werden. Überraschenderweise sind die Finnen, nicht die Italiener, die kontaktfreudigsten Menschen – vielleicht nicht so überraschend, wenn man ihre Saunakultur bedenkt. Aber eines ist universell: Von Fremden berühren wir höchstens die Hände. Körperliche Nähe und Berührung sind wesentlich für Beziehungsvertiefung. Online-Interaktionen fehlt dieser wesentliche Teil der Bindung.

Online kann man sich leicht zurückziehen. Im Sandkasten muss man sich mit anderen auseinandersetzen und lernen, Kompromisse einzugehen.

Australien hat kürzlich die Nutzung sozialer Medien für Kinder unter 16 Jahren verboten. Beeinflusst moderne Technologie unsere soziale Entwicklung?

Dunbar: Soziale Interaktion ist im Wesentlichen wie komplexe Diplomatie. Wir müssen diese Fähigkeiten üben und wissen, wann wir unsere Impulse unterdrücken sollten und verstehen, was andere denken. Ich nenne das die Sandkiste des Lebens: wenn einem ein anderes Kind Sand ins Gesicht wirft, muss man wissen, war das Absicht oder nicht und entsprechend reagieren. Das Gehirnareal, das dafür zuständig ist, haben nur Primaten und je größer die Gruppen sind, in denen sie leben, desto länger dauert es, die sozialen Regeln einzustudieren. Darum reift unser Gehirn viel später als unser Körper. Studien zeigen, dass Menschen bis zu einem Alter von 25 Jahren einen Teil des Gehirns für bewusste Überlegungen verwenden, wenn sie Emotionen anderer interpretieren.

Später verwenden wir ein anderes Gehirnareal, das automatisch abläuft, was schnellere Reaktionen ermöglicht. Es ist also entscheidend, soziale Situationen zu üben, um in der Gesellschaft zu gedeihen.

Und Online-Übung zählt nicht, da sie nicht persönlich stattfinden, oder weil Handlungen weniger Konsequenzen haben?

Dunbar: Online kann man sich leicht zurückziehen. Im Sandkasten muss man sich mit anderen auseinandersetzen und lernen, Kompromisse einzugehen. Soziale Medien können für Kinder problematisch sein, da sie Zeit von der Übung persönlicher sozialer Interaktionen abziehen. Wir haben jetzt die erste Generation von Jugendlichen, die mit intensivem Gebrauch von sozialen Medien aufgewachsen ist. Was ich auf Universitäten beobachtet habe, gibt es viel mehr soziale Konflikte, besonders wenn es um intime Beziehungen zwischen Studenten geht, und sogar Vergewaltigungen sind ein viel größeres Problem geworden, als ich mich erinnern kann. Es ist daher sehr wichtig, dass Wissenschaftler die sozialen Dynamiken jüngerer Generationen erforschen.

Über Robin Dunbar

Robin Dunbar ist ein renommierter britischer Anthropologe und Evolutionspsychologe an der Universität Oxford, und Namensgeber für die „Dunbar-Zahl“ von etwa 150, die die maximale Anzahl bedeutungsvoller sozialer Beziehungen beschreibt, die ein Mensch gleichzeitig aufrechterhalten kann. Der Pragmaticus traf ihn in Wien beim Globalen Peter Drucker Forum, wo der Wissenschaftler darüber sprach, was Manager aus den Sozialwissenschaften lernen können.

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