Russland gibt Syrien nicht auf
Der Sturz des Assad-Regimes in Syrien bringt Moskau in Bedrängnis. Nun versucht Russland mit Skrupellosigkeit und Diplomatie einer strategischen Niederlage zu entgehen.

Auf den Punkt gebracht
- Umsturz. Der überraschende Sturz von Baschar al-Assad ist zwar eine Blamage für Russland, bedeutet aber nicht zwingend das Ende der russischen Präsenz in Syrien.
- Großmacht. Russland bracht die Marinebasis in Tartus und den Luftwaffenstützpunkt in Hmeimim, um seinen Einfluss in der Region zu sichern.
- Ukraine. Allein mit Gewalt kann Moskau seine Interessen nicht sichern, da der Angriffskrieg in der Ukraine fast alle Kräfte bündelt.
- Diplomatie. Putin wird auch mit radikalen Kräften in Syrien zusammenarbeiten; die Medien bezeichnen die neuen Machthaber bereits nicht mehr als Terroristen.
Der Sturz des Assad-Regimes und der Triumph von Hayat Tahrir al-Sham (HTS), einem Bündnis verschiedener islamistischer Milizen, markieren einen schweren Rückschlag für Moskau. In den internationalen Medien entfachten die Ereignisse intensive Spekulationen über weitreichende Folgen für Wladimir Putin. Der Verlust eines zentralen Verbündeten im Nahen Osten könnte Putins Einfluss und die Stabilität seines Regimes gefährden. Doch solche Prognosen unterschätzen Moskaus taktische Anpassungsfähigkeit. Statt einer strategischen Niederlage zeichnet sich einmal mehr ab, wie geschickt und moralisch vollkommen skrupellos der Kreml geopolitische Spielräume auszuloten sucht – selbst in einem Desaster wie dem syrischen.
Blamage, aber noch keine Niederlage
In den vergangenen Tagen wurde in internationalen Medien sowie auf diversen Social Media Plattformen argumentiert, dass das Versagen des Kremls, Baschar al-Assad in einer kritischen Phase zu stützen, Putin empfindlich treffen, die Schwäche seines Regimes offenbaren und dieses letztlich dramatisch destabilisieren könnte.
Neben den potenziellen innenpolitischen Folgen wurde insbesondere einem strategischen Gesichts- und Machtverlust Putins im Nahen Osten das Wort geredet. The Moscow Times titulierte einen Bericht gar mit der Ankündigung „Der Verlust Syriens würde Russland aus dem Herzen des Nahen Ostens herausschneiden“. So plausibel diese Argumentation angesichts des Sturzes eines zentralen Verbündeten wirken mag, verkennt sie die Mechanismen von Putins Machtstrukturen und greift daher ins Leere.
Zwar hat sich Putin zweifellos in Syrien blamiert, doch die tatsächlichen Folgen dürften für die Stabilität seines Regimes begrenzt bleiben. Denn schließlich weiß sich Russlands Machthaber seit beinahe einem Vierteljahrhundert innen- wie auch außenpolitisch zu blamieren und dennoch unangefochten im Olymp der Macht zu bleiben. Weder Russlands über tausend Tage andauerndes militärisches Ringen in der Ukraine noch beispielsweise die gerade zu Beginn überraschend erfolgreiche ukrainische Militäroperation in der Region Kursk setzen Putin ernsthaft unter Druck oder bringen ihn unter Erklärungszwang.
Solange der Kreml seine militärische Präsenz in Syrien aufrechterhalten kann, bleibt Moskau ein wesentlicher Akteur in der gesamten Region.
Ein möglicher Rückzug aus Syrien brächte für Moskau zweifellos eine Vielzahl an Problemen mit: Russlands Anspruch auf Einflussnahme im Nahen Osten wäre damit zumindest vorläufig beendet. Der Verlust des einzigen russischen Marinestützpunktes im Mittelmeer erschwerte das Agieren des Kremls auf dem afrikanischen Kontinent erheblich. Vor allem aber wäre Putins überhöhter Anspruch auf Russlands globale Bedeutung nachhaltig beschädigt.
Dennoch erscheint es derzeit deutlich verfrüht zu sein, von einer strategischen Niederlage Putins in Syrien oder gar einem vollständigen Einflussverlust Russlands im Nahen Osten zu sprechen.
Syrien als Basis russischer Großmachtpolitik
Russland unterhält im syrischen Gouvernement Latakia eine Marinebasis in Tartus, einen Luftwaffenstützpunkt in Hmeimim und hat insgesamt einige tausend Soldaten stationiert. Die genaue Zahl ist kaum feststellbar, dürfte doch ein wesentlicher Teil davon in die Ukraine verlegt worden sein.
Obgleich das Gouvernement Latakia mittlerweile zur Gänze unter der Kontrolle von Hayat Tahrir al-Sham steht, ist ein Abzug Russlands aus Syrien nicht absehbar. Moskau wird auch vor dem Hintergrund des kräftezehrenden Ukrainefeldzuges vieles daransetzen, seine strategischen Positionen zu halten, da sie nicht nur Russlands Einfluss in der Region sichern, sondern auch als taktisches Sprungbrett nach Afrika und letztlich als Statussymbol einer Großmacht dienen.
Zahlen & Fakten
Vorher
Die Situation vor dem 8. Dezember:
Nachher
Und hier können Sie die aktuelle Situation anhand einer Karte live verfolgen: https://syria.liveuamap.com/de
Solange der Kreml eine bedeutende militärische Präsenz in Syrien aufrechterhalten kann, bleibt Moskau ein wesentlicher Akteur in der syrischen Politik und der gesamten Region. Die einstige Feindschaft vergessend, versucht sich Russland nach dem überraschend schnellen Fall des Assad-Regimes der neuen Führung Syriens anzunähern. Die russischen Staatsmedien vollzogen auf Weisung des Kremls bereits eine rhetorische Kehrtwende gegenüber der HTS.
Von „Terrorist“ zu „Opposition“
Seit Beginn der siegreichen Offensive von HTS und der Ankara-nahen Syrischen Nationalen Armee entspann sich in Russland ein bemerkenswertes Schauspiel. Innerhalb weniger Tage vollzogen Staatsmedien und Kreml-nahe Blogger wie von Zauberhand angeleitet einen radikalen Meinungswandel.
Am Beginn der Offensive wurde in Russland noch scharfe Kritik an der Türkei und ihren „militanten Schlägerbanden“ geäußert. Gegenüber Ankara mäßigte man den Ton schnell, verschärfte ihn jedoch gegenüber der in Russland als Terrororganisation eingestuften HTS deutlich. In den Fokus rückte dabei der Anführer der islamistischen Miliz, Abu Muhammad al-Dschaulani. Dieser habe laut russischen Informationen angeblich jahrelang für den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 gearbeitet und kooperiere seit einiger Zeit auch mit den ukrainischen Geheimdiensten.
Damit verschob sich die Schuldverortung von einem wichtigen regionalen Kooperationspartner, der Türkei, auf die Lieblingsgegner russischer Staatspropaganda: Großbritannien und die Ukraine. Auch führten die russischen Streitkräfte in Syrien nur wenige Tage vor dem Fall Damaskus‘ Luftangriffe gegen Aufständische durch und töteten dabei laut russischen Medien „Dutzende Terroristen“. Und Russlands Außenminister Sergej Lawrow bezeichnete noch am 7. Dezember HTS mehrfach als „Terroristen“.
Mit dem endgültigen Zusammenbruch des Assad-Regimes am 8. Dezember vollzog Russland eine abrupte Wende in seiner Argumentationslinie. Plötzlich gestand man öffentlich ein, „schon lange gewusst“ zu haben, wie „schwach und korrupt“ das Assad-Regime sei, und bereits erwartet zu haben, dass seine „Armee rasch auseinanderfallen“ würde. In Bezug auf HTS wurden Begriffe wie „militante Schlägerbanden“ und „Terroristen“ durch neutrale Formulierungen wie „bewaffnete Kämpfer“ oder „Vertreter der syrischen Opposition“ ersetzt.
Moskau und HTS: Eine Annäherung
Die rhetorische Wende bestätigt eindrucksvoll, dass Moskau zur Absicherung seiner Position in der Region ohne Zögern selbst mit den radikalsten Kräften in Syrien zusammenarbeiten würde. Schließlich hat Russland im Verlauf des syrischen Bürgerkrieges Beziehungen zu verschiedenen Gruppen in Syrien aufgebaut. Diese Beziehungen könnten dem Kreml nunmehr von Nutzen sein. Dabei könnte der Kreml versuchen, die Konflikte zwischen rivalisierenden Gruppen gezielt für seine eigenen Interessen zu instrumentalisieren. Ob Bestechung, Drohung, verdeckte Einflussnahme oder eine geschickte Kombination aus allen dreien: An Mitteln für eine erfolgreiche Zuckerbrot-und-Peitsche-Taktik mangelt es dem Kreml nicht. Und der grundlegende Mangel an Skrupeln verschafft ihm dabei einen klaren Vorteil.
Allein mit einem militärischen Engagement in Syrien wird Putin seine Positionen in der Region weder halten können noch wollen. Denn Russlands desaströser Angriffskrieg gegen die Ukraine bindet so gut wie alle Kräfte und bestimmt die außenpolitischen Zielsetzungen des Kremls.
Der grundlegende Mangel an Skrupeln verschafft dem Kreml einen klaren Vorteil.
Da Russland auf die Unterstützung der neuen syrischen Machthaber angewiesen ist, wird Moskau versuchen, sich mit der Führung in Damaskus gut zu stellen. Russische Medien zitierten bereits Aussagen von Vertretern des neuen Regimes, wonach bestehende Abkommen mit Russland beibehalten werden könnten, sofern diese den Interessen Syriens dienlich seien.
Noch bleibt es ungewiss, ob HTS die Russen überhaupt aus dem Land verdrängen möchte. Die Gruppe steht in keinerlei Schuld gegenüber Wladimir Putin und könnte dem Kreml jederzeit unmissverständlich signalisieren, dass die Russen in Syrien unerwünscht seien. Es wäre allerdings kaum überraschend, sollte sich das stark belastete Verhältnis zwischen Moskau und HTS rasch normalisieren.
Nachdem Syrien auf eine weitere Phase der Instabilität zusteuert und die neue Regierung ihre Macht konsolidiert, könnte HTS entscheiden, Russlands Präsenz zumindest vorerst zu tolerieren. Moskaus Militärstützpunkte in Syrien mögen für die neue syrische Führung zwar ein Ärgernis sein, das Potential einer konstruktiven Beziehung zu Moskau, insbesondere auf der Ebene diplomatischer Unterstützung, könnten dieses Ärgernis allerdings bei Weitem wettmachen. Darüber hinaus könnte der HTS Russlands Präsenz als strategisches Druckmittel in den Beziehungen zu seinem Hauptverbündeten, der Türkei, sowie zu anderen wesentlichen Akteuren in der Region wie Israel, dem Iran und den USA nutzen.
Conclusio
Blamage. Der Sturz von Baschar al-Assad ist für Wladimir Putin ein international spürbarer Reputationsschaden, aber noch keine strategische Niederlage Russlands im Nahen Osten.
Flexibilität. Moskau scheint taktisch anpassungsfähig genug, um seine militärische Präsenz und seine diplomatischen Interessen in Syrien zu sichern.
Einfluss. Russlands Interesse gilt vor allem der pragmatischen Machtsicherung in der Region und dem Erhalt seines Status als Großmacht.
Fokus Naher Osten
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