Die Wunden des Krieges
Syrien stellt einen großen Teil der Flüchtlinge, die nach Europa kommen. Die meisten erhalten Asyl, Abschiebungen sind nicht möglich. Unabhängig von der Gefährdungslage haben die Syrer wenig Grund zu bleiben.

Update. In einer überraschenden Offensive haben sunnitische Dschihadisten der Al-Qaida-Splittergruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS, „Organisation zur Befreiung der Levante“) zusammen mit verbündeten Milizen vor wenigen Tagen große Teile der Provinz Aleppo besetzt und die Kontrolle über die Stadt übernommen. Berichten zufolge flog die syrische Armee Luftangriffe auf die Stadt Idlib. Angeblich sind vom Iran kontrollierte Milizen zur Unterstützung des syrischen Regimes aus dem Irak eingereist. Russland hat seine Unterstützung für den syrischen Machthaber Bashar al-Assad bestätigt.
Die folgende Analyse wurde vor diesen Ereignissen verfasst. (Anmerkung der Redaktion)
Auf den Punkt gebracht
- Flucht. Seit Beginn des Bürgerkriegs vor 14 Jahren sind 12 Millionen Menschen aus Syrien geflohen; 125.000 sind wieder zurückgekehrt.
- Armut. Mehr als 90 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Der Mindestlohn beträgt 13 Dollar monatlich, die Lebenshaltungskosten liegen bei rd. 400 Dollar.
- Konflikte. Präsident Bashar al-Assad ließ Aufstände gegen sein Regime blutig niederschlagen. Regionale und geopolitische Player verfolgen eigene Interessen.
- Perspektive. Eine Art Marshallplan für Syrien könnte die materielle Not lindern, setzt aber grundlegende demokratische Reformen der Regierung voraus.
Wer Syrien bereist und mit den Menschen dort spricht, der hört sehr oft einen Satz, der die Lage in dem geschundenen Land besser beschreibt als noch so ausgefeilte Statistiken: „Keines meiner Kinder ist mehr hier, sie haben alle das Land verlassen.“
Tatsächlich sind seit Beginn der Krise und des Krieges vor vierzehn Jahren 12 Millionen Menschen geflohen, davon 6,3 Millionen in die Nachbarstaaten, die meisten anderen nach Europa. Dass sie nicht nach Syrien zurückkehren, hat weniger mit Sicherheitsbedenken zu tun als mit der wirtschaftlichen Situation des Landes. Von 2022 bis 2024 gab es mehrere Amnestien. Diese bieten die Verkürzung von Haftstrafen oder eine vollständige Begnadigung für Ordnungswidrigkeiten, Jugendstrafen und andere Vergehen, unter bestimmten Voraussetzungen sogar für den Fall einer Desertion. Waffen- und Sprengstoffschmuggel, Straftaten mit Todesfolge und Delikte mit politischem Hintergrund sind von der Amnestie ausgenommen.
Besonders bemerkenswert ist ein Dekret vom November 2023 über die Abschaffung der Militärgerichte – bestätigt dieses doch deren Existenz, die das Regime in den letzten fünfzig Jahren wiederholt geleugnet hatte. Diese „Military Field Courts“ waren für die Tötung von Syrern ohne Gerichtsverfahren oder Beweise gegen die Opfer verantwortlich. Seit einem Jahr sind sie nun Geschichte.
Wenig Vertrauen in den Staat
Allerdings ist für männliche Syrer, die aufgrund des Militärdiensts ihren rechtlichen Status mit der Regierung klären müssen, die Situation besonders schwierig. Und das Vertrauen in die Regierung blieb trotz der Amnestie-Erlässe gering. Es gibt Berichte über Personen, die aus dem Libanon zwangsrückgeführt und sofort inhaftiert wurden, was der erklärten Verpflichtung der Regierung, die Menschenrechtsgesetzgebung zu verbessern, eindeutig widerspricht.
Das Leben ist für viele Syrer unerträglich geworden.
Dennoch sind dem UNHCR zufolge in den letzten drei Jahren mehr als 125.000 Menschen aus den Nachbarländern nach Syrien zurückgekehrt. Selbst wenn dies aufgrund der schwierigen Umstände keine leichte Entscheidung ist, können syrische Staatsangehörige jederzeit nach Syrien einreisen; entweder über die Flughäfen in Damaskus und Aleppo oder über Jordanien und den Libanon.
Not und Elend
Tatsache ist jedoch: Syrien steht heute nach jahrelangen Konflikten vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. In weiten Teilen des Landes ist der Krieg vorbei, aber das Leben ist für sehr viele Syrer unerträglich geworden, da politische Instabilität, ausländische Militärpräsenz und Sanktionen gegen Schlüsselsektoren wie Zentralbank, Erdöl, Energie, Wiederaufbau und Handel zu Hyperinflation, Treibstoffmangel und insgesamt schwierigen Wirtschaftsbedingungen geführt haben.
Die Lebensumstände sind die schlechtesten seit Beginn des 20. Jahrhunderts, und die meisten Bürger sind auf Hilfslieferungen angewiesen, oft von emigrierten Syrern. Der Mindestlohn von 13 Dollar monatlich reicht bei weitem nicht für die Lebenshaltungskosten, die etwa 400 Dollar betragen. Hoffnungslosigkeit, Hunger und Obdachlosigkeit sowie noch immer starke Auswanderungswellen sind die Folge – und zugleich der Auslöser für Proteste wie in Daraa und Suwaida.
Das Gesundheitssystem ist nahezu zusammengebrochen. Über verschmutztes Wasser übertragene Krankheiten wie Cholera verbreiten sich. Die Infrastruktur ist weitgehend zerstört. Stromausfälle sind an der Tagesordnung. Der Lebensstandard sinkt auch in den weniger vom Krieg betroffenen Gebieten weiter. Das Bildungssystem ist katastrophal; zwei Millionen Kinder zwischen 6 und 17 Jahren können nicht zur Schule gehen, und in manchen Gegenden liegt die Einschulungsrate unter zehn Prozent. Noch 2011 war Syrien in der Lage, sich selbst mit Nahrungsmitteln und Medikamenten zu versorgen.
Heute gehört das Land zu den zehn Staaten mit der größten Ernährungsunsicherheit weltweit. Während die Elite ihren Lebensstandard halten kann, leben mehr als 90 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Immer mehr Menschen können grundlegende Bedürfnisse nicht decken, weil sie nicht über Wohnraum, Arbeit, Gesundheitsversorgung, Bildung, sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen verfügen.
Wie es so weit kommen konnte
Die Katastrophe wird durch die Abwanderung vieler gebildeter Syrer noch verschärft. Die Warteschlangen bei den Migrationsbehörden sind lang, obwohl diese mit voller Kapazität arbeiten, um neue Pässe für jene auszustellen, die in EU-Ländern Zuflucht suchen.
Die Krise wurde durch die Unzufriedenheit mit Präsident Baschar al-Assad ausgelöst, der im Jahr 2000 an die Macht gekommen war. Als US-Präsident George W. Bush Syrien als Teil der „Achse des Bösen“ bezeichnete und das Land isolierte, wurden anfängliche Hoffnungen auf Reformen enttäuscht. Die Wirtschaftspolitik begünstigte den inneren Zirkel und vernachlässigte ländliche Gebiete.
Eine schwere Dürre zwischen 2006 und 2010 trieb viele Bauern in die Städte und verschärfte dort die Arbeitslosigkeit. Im März 2011 eskalierten die vom Arabischen Frühling befeuerten Proteste in Daraa zu einem chaotischen Krieg mit Hunderten von Rebellengruppen. Ausländische Mächte ergriffen Partei und lieferten Geld, Waffen und Kämpfer, extremistische Gruppen wie der IS und al-Qaida gewannen an Macht.
Im Juli 2011 gründeten Überläufer des syrischen Militärs die Freie Syrische Armee (FSA) und suchten in der Türkei Schutz. Einen Monat später wurde in Istanbul die Syrische Nationale Koalition (SNC) gegründet, die von den USA, der Türkei und den Golfstaaten als syrische Exilregierung anerkannt wurde. Beide Gruppen hatten jedoch massive Koordinationsprobleme im Inneren, rivalisierende Koalitionen bildeten sich. Viele Kämpfer der FSA wechselten zu besser finanzierten islamistischen Brigaden.
Ein geopolitisches Schlachtfeld
Was als Protest begann, entwickelte sich zu einem Stellvertreterkrieg regionaler und globaler Mächte. Syrien wurde so zum Brennpunkt eines globalen Konflikts, in dem konkurrierende Länderinteressen die ohnehin fragile Stabilität des Nahen Ostens bedrohen. Die mögliche Zerstörung Syriens birgt die Gefahr der Ausbreitung von Chaos in der gesamten Region und gefährdet die autoritären arabischen Regime.
Geopolitische Ziele verfolgen in Syrien die USA, Russland, arabische Staaten, die Türkei und der Iran. Iran und Russland stehen auf der Seite der alawitisch geführten syrischen Regierung, während die USA, die westlichen Staaten, die Türkei und die Golfmonarchien auf der Seite der syrischen Opposition stehen.
Zahlen & Fakten
Die wesentlichen Player
Für Saudi-Arabien und die anderen Staaten der Golfregion hat die Krise in Syrien große strategische Bedeutung. Für sie ist Syrien ein Schlachtfeld zur Schwächung des Iran. Das Abschneiden eines wichtigen Verbündeten soll die schiitische Allianz brechen. Daher ist es wichtig, den regionalen Einfluss des Iran zu verringern, um eine Destabilisierung durch schiitische Gruppen wie in Bahrain zu vermeiden. Iranische Stellvertreter sind in der Region aktiv und führen „kontrollierte“ Kämpfe gegen Israel. Ihre Truppen sind auf mehreren Militärbasen in der Nähe der Flughäfen von Damaskus und Aleppo, in Latakia, Tartus, Homs und entlang der irakischen und südsyrischen Grenze stationiert.
Für Moskau wiederum ist die Allianz mit Damaskus ein entscheidendes Druckmittel in den Verhandlungen mit dem Westen – vor allem vor dem Hintergrund der Herausforderungen für die US-Außenpolitik in Libyen und Ägypten. Während der amerikanische Verbündete Husni Mubarak in Ägypten gestürzt wurde, hat der russische Verbündete Assad die Kontrolle behalten. Russische Soldaten haben in Syrien mehrere Stützpunkte errichtet, darunter die beiden wichtigsten Militärbasen, den Luftwaffenstützpunkt Hmeimim nahe Latakia und die Marinebasis im Hafen von Tartus.
In der Zwischenzeit unterhalten die USA Truppen, die Teil der internationalen Anti-IS-Koalition sind, mehrere Basen in den kurdisch kontrollierten Gebieten und eine Präsenz in Südsyrien auf der Basis Al-Tanf, die strategisch günstig an der Straße zwischen Bagdad und Damaskus nahe der jordanisch-irakischen Grenze liegt.
Arabische Pragmatiker
Die arabischen Staaten haben erkannt, dass sie das syrische Regime nicht durch Unterstützung der Opposition, einschließlich der Muslimbruderschaft und dschihadistischer Kämpfer, stürzen können und verfolgen nun einen pragmatischen Ansatz. Sie arbeiten mit Damaskus zusammen, um nationale Interessen zu verfolgen und arabisch geführte Initiativen gegen Drogenhandel, Flüchtlingskrisen, schwache Grenzsicherung und iranischen Einfluss zu unterstützen. Westliche Isolationsstrategien sehen sie als unhaltbar, da diese Irans Regionalmacht stärken und zu noch größeren Sicherheitsproblemen führen könnten.
Die Europäische Union unterstützt die Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats von 2015 und vertritt drei zentrale Positionen: keine Normalisierung mit Damaskus, keine Aufhebung der Sanktionen und kein Wiederaufbau Syriens.
Die Forderungen der EU beziehen sich in erster Linie auf den politischen Übergang, die Förderung der Demokratie, der Menschenrechte, der freien Meinungsäußerung und der Rechenschaftspflicht für Kriegsverbrechen, um so die nationale Aussöhnung zu erleichtern.
Politische Lage
Aber in der Realität bräuchte es ein Zeichen des guten Willens, um die Beziehungen allmählich zu normalisieren, und zwar durch die Bereitschaft der syrischen Regierung, alle politischen Gefangenen freizulassen und das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären.
Seit dem Gaza-Krieg ist Syrien weitgehend aus dem regionalen Rampenlicht verschwunden. Im Land herrscht seit 2020 relative Ruhe. Assad kontrolliert wieder 70 Prozent des Territoriums, einschließlich der Großstädte. Trotz israelischer Luftangriffe ist die Sicherheitslage stabil, und die Bewegungsfreiheit wird von der Regierung gewährleistet – auch wenn der syrische Geheimdienst weiterhin aktiv ist.
Mangels Alternativen unterstützt die Bevölkerung weitgehend die Regierung, fordert jedoch grundlegende Reformen.
Eine neue Generation von Syrern konzentriert sich nicht mehr nur auf den Krieg. Die jungen Leute legen Wert auf das kulturelle Erbe, auf Kunst und Musik, es gibt ein dichtes Veranstaltungsprogramm. Blogger und Influencer verbreiten Bilder und Videos von der Schönheit des Landes und werben in den sozialen Medien aktiv für Syrien als Reiseziel, wobei sie die Sicherheit betonen. Dies führte zu einer großen Zahl arabischer Besucher, während schiitische Besucher aus dem Irak die iranische Präsenz zunehmend als „Besatzung“ bezeichnen.
Marshallplan für Syrien
Mangels Alternativen unterstützt die syrische Bevölkerung weitgehend die derzeitige Regierung. Sie fordert jedoch grundlegende Reformen wie die Beendigung illegaler Inhaftierungen, mehr Meinungsfreiheit und Transparenz zur Bekämpfung der Korruption.
Vom Westen erhoffen sich die Menschen Unterstützung für eine politische Lösung, die die Einheit des Landes, den Abzug aller ausländischen Truppen, die Aufhebung der Sanktionen und den Wiederaufbau ermöglicht.
Dies wird nur gelingen, wenn die internationale Gemeinschaft erkennt, dass die Menschen in Syrien das Recht haben, ihre Zukunft ohne Einmischung von außen selbst zu bestimmen. Die syrische Regierung ist gefordert, tiefgreifende Verfassungsreformen durchzuführen, um sicherzustellen, dass niemand über dem Gesetz steht.
Da die Korruption eine der Hauptursachen für die Krise in Syrien ist, muss die Regierung ernsthafte Maßnahmen dagegen ergreifen. Die Inhaftierungslager müssen abgeschafft und die Rede- und Meinungsfreiheit gewährleistet werden. Im Gegenzug könnte sich der Westen für einen Wiederaufbau ähnlich dem Marshallplan einsetzen.
Conclusio
Nachkriegsphase. In Syrien sind ausländische Truppen in vier verschiedenen Gebieten präsent, die alle nach politischen Lösungen verlangen. Globale und regionale Mächte verfolgen unterschiedliche Pläne für die Zukunft.
Migration. Solange die internationale Gemeinschaft die Krise in Syrien nicht entschlossen angeht, wird der Zustrom von Migranten nach Europa anhalten. Die EU-Politik bleibt derzeit unverändert, während Syrien auf eine Lösung wartet.
Zukunft. Wenn die Nacht hereinbricht, liegen hungrige Syrer auf ihren Matten, klammern sich an ihre Handys und hoffen auf ein Ende ihres Leidens. Und dass eines Tages ihre Kinder wieder nach Hause zurückkehren.
Fokus Naher Osten
Im Auftrag Allahs
Israel, Gaza und der Nahostkonflikt
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