Seitenweise tolle Tiere
Wie erlebt eine Wohnungskatze unseren Alltag? Wie sieht ein Reh eine Autobahn? Diese Sommerbücher erzählen von unserer tierischen Mitwelt.
Menschen funktionieren gerne nach dem Grundsatz: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“. Durch die Eingriffe des Menschen in die Natur, in Gefüge, die genau aufeinander abgestimmt sind, haben wir ein beispielloses Artensterben auf diesem Planeten eingeleitet. Jährlich dürften zwischen 11.000 und 58.000 Arten aussterben. Was wir da verlieren, ist den meisten nicht bewusst. „Nature Writing“ ist eine Sachbuch-Schiene, die interessierte Leser und Leserinnen in die Welt der Natur entführt. Es wird detailliert Wissen über Tiere, Pflanzen und Ökosysteme vermittelt. Die Hoffnung der Autoren: Wenn die Ignoranz aufhört, könnte ein respektvoller Umgang mit der Umwelt Einzug halten. Zu Land, zu Wasser, in den Lüften, den Wäldern und im Boden.
Buchempfehlung I
Perspektivenwechsel
Helen Mcdonald: Abendflüge. Es kann sein, dass Gute-Nacht-Geschichten ein bisschen aus der Mode gekommen sind, dabei ist Lesen vor dem Schlafengehen eine wunderbare Sache. Vor allem dann, wenn die britische Sachbuchautorin Helen Macdonald an der Bettkante sitzt.
Mit „H wie Habicht“ hat sie sich einen Namen unter den Vogelliebhabern gemacht, in ihrem neuen Buch „Abendflüge“ setzt sie sich selbst als Mensch in Beziehung zu den Lebewesen, die sie umgeben. Als wunderbare Erzählerin kann aus diesen Kontakten wunderbare Geschichten zaubern. Sie erzählt vom Mauersegler oder von Vögeln, die aus Zigarettenstummeln ihre Nester bauen. Sie ist aber auch dabei, wenn sich die Vogelschwärme aus dem herbstlichen New York in den Süden aufmachen.
Helen MacDonald nimmt ihr Lesepublikum mit auf ihre gedanklichen Spaziergänge, die sie in den letzten zehn Jahren in ihrem Leben gemacht hat. Sie selbst versteht diese Geschichtensammlung als eine Art Wunderkammer, also eine Sammlung von für den Großteil der Menschen unbekannten Wissens, das sie zu Tage befördert.
Und tatsächlich: Sie versteht es auf wunderbar feinfühlige Art und Weise sich selbst als Mensch in Bezug zur Natur zu setzen. Dabei gelingt es ihr, die vielen verborgenen Verbindungen zwischen Mensch und Umwelt ans Tageslicht zu befördern, es sind mal längere mal kürzere persönliche Geschichten über die Lage der Welt. Und ein Plädoyer zum sorgsamen Umgang mit Lebewesen, die der Mensch in seiner Ignoranz dabei ist, auszurotten.
Zu Recht gilt Helen Macdonald deshalb auch als Königin des Nature-Writing, weil ihr der Perspektivenwechsel immer wieder fantastisch gut gelingt. Plötzlich betrachtet der Lesende Autobahnen aus Sicht von Rehen; versteht, warum manche Vögel ihre Nester aus Zigarettenstummel bauen und wie aufdringlich der Mensch für fast alle Lebewesen geworden ist. Das erzeugt Empathie – und unter Umständen eine neue Einstellung zur Umwelt. Damit aus der schönen Utopie des Miteinanders Wirklichkeit wird.
Helen Mcdonald, Abendflüge, Hanser, 15 Euro
Buchempfehlung II
Unter Wasser
Bill François: Die Eloquenz der Sardine. Unter der Meeresoberfläche spielt es sich ab! Allein der Mensch kann die vielen Interaktionen, die dort zwischen den Lebewesen vonstatten gehen, nicht verstehen. Der französische Autor Bill François ist ein wunderbarer Übersetzer, wenn es darum geht, die Welt unter Wasser in all ihrer Vielfalt zu begreifen.
„Die Eloquenz der Sardine“ ist der Titel seines Buches, in dem er unglaubliche Geschichten über Meerestiere erzählt. Dabei machen die Sardinen und ihre Kunst mit ihren Millionen Artgenossen über die Reflexionen ihrer Schuppen zu kommunizieren, nur den Auftakt. Mit welchen Mitteln außer der Haut Fische sonst noch plaudern, ist ein wunderbarer Ausflug in eine Welt, die von anderen Elementen dominiert ist.
Mit Francois taucht man in tiefes Wissen ein. Wie funktionieren Schwärme? Warum sind Strömungen Unterwasserautobahnen? Nach welchen Prinzipien bilden Meeresbewohner Lebensgemeinschaften? Auf eine sehr persönliche, manchmal ein wenig blumige Art breitet François sein unglaubliches Wissen aus. Er erzählt von Muscheln, Kraken und Walen, von Aalen, Seeschlangen, Thunfischen und Haien, von Langusten, Seekühen und Süßwasserbewohnern.
Dabei geht es François stets darum, wie sich die Menschen über die vergangenen Jahrtausende dem Meer gegenüber verhalten haben. Konkret: Wie sie die Gewässer auf der Suche nach Nahrung, Perlen oder teuren Farbstoffen ausgebeutet haben. Plötzlich wird ein Buch über das Meer zur Kulturgeschichte, das Mythen und ihre Wirkung thematisiert.
Dabei bringt François unverhohlen seine große Sorge zum Ausdruck. In den letzten hundert Jahren hat die Ausbeutung der Meere im industriellen Ausmaß zu einem riesigen Artensterben im Meer geführt. Nur weil die Menschen es nicht mit den eigenen Augen sehen, wird es Auswirkungen haben, warnt er und setzt dieser Ignoranz Wissen über die Herrlichkeit der Unterwasserwelt entgegen. Sein Ziel ist dabei ein kollektives Verständnis darüber zu schaffen, dass die Menschheit die Meere braucht und die Ausbeutung im großen Stil ein Einhalten findet.
Bill François, Die Eloquenz der Sardine, C.H.Beck, 16,90 Euro.
Buchempfehlung III
In Wald und Stadt
Andreas Tjernshaugen: Das verborgene Leben der Füchse. Wer das Lied „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ hört, kann an mit Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mitsingen. Der Fuchs scheint ein vertrautes Tier zu sein. Ist er aber nicht, sagt der Soziologe Andreas Tjernshaugen und beweist es in 25 Kapiteln in seinem Buch „Das verborgene Leben der Füchse“.
Tjernshaugen hat sich in seiner Heimat Norwegen für dieses Buchprojekt ein Jahr lang auf die Spuren der Füchse begeben und erzählt, was er dabei alles erlebt hat. Zunächst erfahren die Leser und Leserinnen die biologischen Basics. Wo bauen Füchse ihren Fuchsbau, wie sieht das Familienleben aus, wovon ernähren sie sich? Tjernshaugen zeichnet ordnet die Füchse innerhalb der Nahrungskette ein. Dabei streicht er das Besondere heraus.
Der Fuchs ist im Gegensatz zu Bären und Wölfen vom Menschen geduldet. Und genau das spiegelt sich auch in den vielen Legenden rund um die Füchse wider – und erstaunlich daran: Füchse spielen in den unterschiedlichen europäischen Kulturen auch sehr unterschiedliche Rollen. Diesen Rollenzuschreibungen hat Tjernshaugen ausführliche Kapitel gewidmet. Aber auch sonst hat er so ziemlich alles zusammengetragen, was es zu wissen gilt.
Wie sieht es mit der statistischen Verbreitung des Fuchses heute aus? Wer sind die Feinde des Fuchses und welche Tiere sind von den Füchsen gefährdet? Wie kommt der Fuchs mit dem Klimawandel zurecht? Und Warum gibt es die Tradition der Fuchsjagd in England?
Tjernshaugen bringt Forscher wie etwa den Ethologen Günter Tembrock vor den Vorhang, dessen Arbeit durch die Politik der DDR massiv behindert wurde. Hochinteressant sind auch jene Kapitel, die sich den Krankheiten der Füchse widmen, etwa der Räude oder der Tollwut und den fantastischen Projekten, in denen diese auch für den Menschen gefährliche Viren durch Impfungen ausgerottet werden konnte. Eines ist sicher: Wer dieses Buch gelesen hat, wird diese faszinierenden Tiere fortan in einem neuen Licht betrachten.
Andreas Tjernshaugen: Das verborgene Leben der Füchse, Insel, 19 Euro.
Buchempfehlung IV
Abenteuer Tiere
Jasmin Schreiber: Schreibers Naturarium. Sie ist jung, talentiert und hat eine Mission. Jasmin Schreiber setzt sich in ihren Texten und Büchern für die Biodiversität ein und das auf eine wunderbar unaufgeregte Weise. In „Schreibers Naturarium“ will sie, dass ihr Publikum die Natur wiederentdeckt. Und das jeden Tag, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit.
Im Grunde sind es Spaziergänge auf Papier, zu denen Schreiber einlädt. Weil sie eine fantastische Beobachterin und eine noch bessere Erzählerin ist, macht es richtig Spaß da dabei zu sein. Jasmins flapsiger Stil ist leichtfüßig, ihre Perspektive erfrischend und zudem weiß sie unendlich viele kleine Geschichten zu erzählen, die in seriösen Biologiebüchern stets unterbelichtet blieben.
Ein wirklich großes Anliegen sind der Biologin Schreiber Insekten aller Art. Seit ihrer Kindheit liebt sie Krabbeltier und beobachtet deren Treiben. Das ist auch der Grund, warum sie so viele überraschende Geschichten von Insekten auf Lager hat. Etwa jene von der schleimigen Geburt der Schmetterlinge, über die Kunst, ein Spinnennetz zu weben oder die sich ständig häutenden Asseln, die bei den meisten Menschen nicht viel mehr als Ekel auslösen.
Es gelingt Schreiber, diese Insekten in ein größeres Bild zu rücken, ihren Nutzen in der Natur und damit für den Menschen zu beleuchten und ihr Dasein in all seiner Schönheit zu beschreiben. Eines ist sicher: Wer Schreibers Buch gelesen hat und die wichtige Rolle von Fliegen und Co. verstanden hat, wird sich ganz sicher ein klein wenig schwerer tun, jeden kleinen Käfer oder Falter gleich zu erschlagen.
Schreibers Naturarium ist dabei weder salbungsvoll noch moralisch, sondern auf eine schnoddrige Art unsentimental. Vielleicht ist es auch ein Zeichen dafür, dass eine junge Generation die Natur in einer vollkommen neuen Art erfasst. Das wäre ein gutes Zeichen für den Planeten.
Jasmin Schreiber, Schreibers Naturarium, Eichborn, 27,50 Euro.
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Seitenweise große Reisen
Es ist Sommer. Zeit, neue Welten zu entdecken. Das kann auch nur im Kopf stattfinden – beim Lesen dicker Wälzer zum Beispiel.