Seitenweise große Reisen

Es ist Sommer. Zeit, neue Welten zu entdecken. Das kann auch nur im Kopf stattfinden – beim Lesen dicker Wälzer zum Beispiel.

Ein Junge mit steht auf einer sommerlichen Straße in einem Dorf und hält Angeln und ein Netz in den Händen, er lächelt in die Kamera. Das Bild ist Teil eines Beitrags über Sommerbücher bzw. Buchempfehlungen aus der Redaktion.
Sommer im Donau-Delta: Vylkove in der Region Odessa im Juni 2020. © Getty Images

Es gibt Bücher, die beanspruchen Zeit. Entweder, weil sie so dick sind; weil sie thematisches Neuland sind und deshalb mehr Aufmerksamkeit als gewöhnlich erfordern oder, weil sie ein Thema in seiner gesamten Komplexität erfassen. Kurzum: Jeden Abend inmitten des Alltags nur ein paar Seiten zu lesen, funktioniert für solche Wälzer schlecht. Die Sommerferien jedoch sind eine ideale Zeit für die großen Reisen im Kopf, für intellektuelle Abenteuer und Horizonterweiterungen im besten Sinne.

Buchempfehlung I

Das Cover des Buchs von Jacob Mikanowski mit dem Titel Adieu Osteueropa. Das Buch ist eine Buchempfehlung im Rahmen einer Reihe zum Thema Sommerbücher.

Adieu, Osteuropa

Jacob Mikanowski: Adieu Osteuropa. Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt. Der Eiserne Vorhang mag politisch betrachtet 1989 gefallen sein, doch in vielen westlichen Köpfen steht die ehemals undurchdringliche Grenze nach wie vor. Der Blick auf die Länder des ehemaligen Ostblocks ist oft abschätzig.

Marktwirtschaft und Demokratie gegen Planwirtschaft und Realsozialismus: Das hat das Denken Vieler nachhaltig geprägt. Obwohl diese Zeiten längst der Vergangenheit angehören, bleibt vielen ein neuer Blick auf diese Länder in Osteuropa verschlossen.

Der amerikanische Historiker Jacob Mikanowski lädt mit „Adieu Osteuropa. Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt“ zu einer Neubetrachtung. Tatsächlich bringt das Buch eine wunderbare Fülle von Geschichten, Mythen und Legenden zutage, die seit Jahrhunderten diesen Kulturraum prägen. „Religion“ so der Titel des ersten Kapitels, entführt in eine Welt, in der Religionen zum einen parallel existierten, zum anderen aber auch viele alte Mythen das Denken und der Menschen und damit auch die Literatur prägten.

Zum anderen versucht Mikanowski das Gebiet, in dem viele unterschiedliche Volksgruppen miteinander konkurrierten, zu Nationen verbunden wurden und sich dann auch wieder trennten, nachzuzeichnen. Das gelingt ihm über eine Vielfalt an Geschichten. Mikanowski ist ein wunderbarer Erzähler mit einem wunderbaren Gespür von Zusammenhängen, die auch Licht auf die aktuellen politischen Entwicklungen werfen und insofern zur Völkerverständigung essenziell sind.

Dem 20. Jahrhundert mit all seinen Gräueln widmet Mikanowski das letzte Drittel dieses Buches, schließlich ist es jenes, das den meisten von uns am besten im Gedächtnis ist. „Viele osteuropäische Länder befinden sich in einem eigenartigen Dilemma. Sie verfügen über einen Überfluss an Geschichte, leiden gleichzeitig aber an einem Mangel an brauchbaren Narrativen“, so sein Befund.

Mikanowskis Buch ist auf jeder Seite eine Einladung, die vielen Kulturen im Osten Europas zu entdecken. Übrigens: Wer dieses Buch liest, will am liebsten gleich selbst losfahren und die vielen Orte entdecken, von denen Mikanowski erzählt. Seine Liebe zu den slawischen Ländern ist auf jeder Seite zu spüren, sie ist wunderbar ansteckend und eine Aufforderung zur Überwindung des Eisernern Vorhanges im Kopf.

Jacob Mikanowski: Adieu Osteuropa. Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt, Rowohlt Verlag, 36 Euro.

Buchempfehlung II

Cover des Buchs von Cynthia Fleury mit dem Titel Hier liegt Bitterkeit begraben.

Fürsorge gegen Bitterkeit

Cynthia Fleury: Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung. Jeder kennt Menschen, die verbittert ihr Dasein fristen, die den alten Zeiten nachweinen und alles Neue verurteilen. Sie ziehen sich zurück, verachten Gemeinschaft und können ultimativ zu einer Gefahr für die Demokratie werden. Auf emotionaler Ebene prägt Hass solche Persönlichkeiten.

So jedenfalls sieht es die französische Psychoanalytikerin und Philosophin Cynthia Fleury, die Bitterkeit in ihrem Buch „Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung“ zum Untersuchungsobjekt gemacht hat. Sie geht ihr Thema, den „bitteren Groll“ wie die Übersetzung des Wortes „Ressentiment“ aus dem Französischen lautet, als intellektuellen Rundumschlag an.

Und Achtung: Dieses Buch ist keinesfalls ein simples Erklärbuch für ein gesellschaftliches Phänomen, sondern eine komplexe philosophische Abhandlung in bester französischer Manier. Ohne entsprechendes Rüstzeug im Gepäck, sprich ohne zumindest Adorno, Deleuze, Freud, Hegel oder Nietzsche gelesen zu haben, wird einem die überaus komplexe, weil auf philosophischen Denktraditionen beruhende Auseinandersetzung wohl verschlossen bleiben.

Fleury setzt auf einem akademischen Niveau an, verbindet abstrakte Gedankengebäude großer Denkender mit konkreten Gefühlen und arbeitet sich auf diese Weise durch Interpretationen des Grolls, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte immer auch wieder gewandelt haben.

Faschismus ist laut Fleury eine Form des kollektiven Ressentiments, der jedoch nur auf einer individuellen Ebene geheilt werden kann. In dieser Schiene sieht sie auch die Verantwortung der Politik, deren Ziel es sein muss, ein kollektives Gefühl des Ressentiments erst gar nicht entstehen zu lassen. Was Bitterkeit heilen kann, ist Fürsorge, ist Fleury überzeugt. In Zeiten des Wutbürgertums ein neuer Weg aus der Krise, der in den nächsten Jahren vielleicht immer dringlicher werden könnte.

Cynthia Fleury, Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung. Suhrkamp Verlag, 29,50 Euro

Buchempfehlung III

Cover des Buchs von Matthias Glaubrecht mit dem Titel Dichter, Naturkundler, Welterforscher. Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage.

Als Wissen noch universal war

Matthias Glaubrecht: Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage. Warum keine Zeitreise machen? Zum Beispiel ins ausgehende 18. Jahrhundert, als Napoléon Europa verwüstete, viele Teile der Erde noch unentdeckt waren und Wissen noch nicht auf Spezialgebiete beschränkt war.

Die 600-Seiten starke Biografie „Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage“ zeigt Chamisso als eine Person, die unendlich viele Talente vereint. War der aus Frankreich stammenden und in Preußen lebende Adelige bisher vor allem für sein literarisches Werk bekannt, hat sich der Evolutionsbiologe und Wissenschaftshistoriker Matthias Glaubrecht nun des bislang vernachlässigten naturwissenschaftlichen Vermächtnisses angenommen und in seinen Recherchen in Archiven und Museen ganz Erstaunliches zutage befördert.

Denn Adelbert von Chamisso ist nicht nur der Schöpfer des wundersamen Märchens von „Peter Schlemhils“ mit seinem Traum von den Siebenmeilenstiefeln, sondern er war – damals durchaus nicht unüblich – auch ein genauer und systematischer Beobachter von Natur. Er sammelte und systematisierte Pflanzen, beobachtete Tiere und ganz allgemein die Erscheinungen der Welt rund um ihn und machte sich einen Ruf bei jenen Menschen, die damals auf ferne Entdeckungsreisen geschickt wurden.

Minutiös beschreibt Glaubrecht die Anfänge der Kolonialisierung und zeichnet unter Zuhilfenahme aller Quellen ein großartiges Bild zum Weltverständnis der damaligen Zeit. Und weil Glaubrecht ein fantastischer Erzähler und großartiger Quellenforscher ist gelingt ihm über die Figur des Adelbert von Chamisso ein Einblick in damaliges Denken und Wirken.

Das Interesse für den eigenwilligen Chamisso und seine Weltreisen reißt auch nach 600 Seiten nicht ab. Auch deshalb nicht, weil das Wissen über Geografie, Geschichte und Dichtung sich ständig erweitert und zum Weiterlesen verführt. So wundert es auch nicht, dass das Buch erst kürzlich von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet wurde. Es ist ein Lesevergnügen.

Matthias Glaubrecht, Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage, Galiani Berlin, 38,50 Euro

Buchempfehlung IV

Cover des Buchs von Dipo Faloyin mit dem Titel Afrika ist kein Land. Das Buch ist Teil einer Buchempfehlung für Sommerbücher.

Nachhilfe Afrika

Dipo Faloyin: Afrika ist kein Land. Wann immer in den Nachrichten Meldungen aus Afrika auftauchen, geht es um Unerfreuliches. Ein ganzer Kontinent scheint mit Bildern von Armut, Hunger und Kriegen gekoppelt zu sein. Jüngstes Beispiel: Der Aufstand im Niger, ein Putsch, ein Diktator und westliche Staaten, die zum Frieden aufrufen.

Dabei wissen die wenigsten Menschen außerhalb Afrikas, was die wirklichen Probleme des Kontinents sind. Das will der aus Nigeras stammende Journalist Dipo Faloyin mit seinem Buch „Afrika ist kein Land“ ändern.

Es ist ein junges, frisches und geistreiches Buch. Vor allem aber auch eines, das Leser und Leserinnen zu einem Perspektivenwechsel auf die Weltgeschichte der letzten 250 Jahre einlädt. Es geht darum, die Geschichte aus dem Blickwinkel Afrikas zu sehen.

Was Europäer dem afrikanischen Kontinent durch die Kolonialisierung antaten ist eine beschämende europäische Geschichte. Faloyin beginnt seine Einführung mit dem Berliner Kongress 1884, an dem sich die europäischen Herrscherhäuser den Kontinent mit großer Willkür aufteilten.

Ohne Rücksichtnahme auf die auf dem afrikanischen Kontinent lebenden Menschen und ihre Kulturen wurden im Namen der selbst ernannten zivilisierten Welt Millionen Menschen aus allen Teilen Afrikas ermordet und versklavt. Mit großem Strichen zeichnet Faloyin die Beweggründe für die Ausbeutung von Afrikas Ressourcen auf. Kapitel für Kapitel arbeitet er die Geschichte der Länder Afrikas und ihrer Probleme auf; führt aus, wie nachhaltig der Kolonialismus das Land geprägt hat.

Doch Faloyins Aufklärung betrifft auch viele andere Narrative, etwa jenes, das einen ganzen Kontinent Armut, Hungerkatastrophen oder schrecklichen Kriegen gleichsetzt und so im kollektiven Bewusstsein des Westens verankert. Alles kein Zufall, ist die These des Buches, mit dem der Autor den gängigen Narrativen viele Geschichten aus dem wirklichen Leben entgegensetzt.

Warum man das unbedingt lesen sollte? Einfach deshalb, weil die kolonisierenden Staaten im 21. Jahrhundert ihre eigene Geschichte kennen müssen. Mit seinem Buch will Faloyins ein neues Bewusstsein schaffen, eines, das letztlich zu Frieden und Wohlstand auf dem Planeten führen soll.

Dipo Faloyin: Afrika ist kein Land, Suhrkamp Nova, 21,50 Euro

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